Xaver Bayer

Die Apokalypse des Lukas

Eines Morgens, wenn ich in meinem Bett erwache, schlage ich nicht wie gewohnt

meine Augen auf. Ich liege nur da, merke, dass ich nicht mehr schlafe, folge aber

nicht dem lockenden Impuls, dem ich schon tausende Male gehorsam und anstandslos gefolgt bin, zugleich mit dem Öffnen meiner Lider die Wirklichkeit in mich eindringen zu lassen, ähnlich wie ein Becken sich mit Wasser fluten lässt – nein, an diesem

Morgen bleiben die Schleusen geschlossen. Auch ohne Blickkontakt mit der Welt

spüre ich, wie die Waagschalen von Schlaf- und Wachbewusstsein langsam ihre

Positionen tauschen, wie die Traumlogik ihr nächtliches Spielgeld in die harte Währung der Tagesrealität einzuwechseln beginnt, bis ich mich wach in mir wiedererkenne, in diesem Körper, der in diesem Bett in diesem Zimmer liegt, in dieser Wohnung in diesem Haus in dieser Stadt in diesem Land auf diesem Kontinent dieses

Planeten, und ich atme tief ein und atme tief aus.

Von der Straße höre ich, durch Fenster und Vorhänge gedämpft, den üblichen Autoverkehr und von weiter weg Baustellenlärm. Aber auch dieser ist nicht laut genug,

das hochfrequente Rauschen in meinen Ohren zu übertönen, mit dem ich seit einiger

Zeit morgens erwache, genauer gesagt, seitdem meine Arbeit in der Bank ausschließlich vor dem Bildschirm stattfindet. Dieses Sirren scheint noch stärker zu werden, wenn ich mich darauf konzentriere, deshalb versuche ich in diesem Fall meist,

meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten.

Also konzentriere ich mich darauf, was von draußen in mein Schlafzimmer dringt, das

Dröhnen der Autos und das dumpfe Knattern eines Presslufthammers in der Ferne.

Diese Klangkulisse ist mir vertraut, doch lieber erinnere ich mich an andere Geräusche an anderen Orten, an denen ich in meinem Leben erwacht bin – etwa an ein

Flussrauschen, das Stimmengewirr eines Marktes, das Geratter von Zügen oder an

den Dämmerungsgesang der Amseln im Frühjahr. Solche Erinnerungen kommen bereitwilliger, wenn man selbst noch durchlässig ist und das Erlebte und das Geträumte

für eine Weile deckungsgleich erscheinen.

Und so ist es auch jetzt, da ich mir ein paar Atemzüge lang im Unklaren bin, ob mein

Entschluss, meine Augen nicht zu öffnen, nicht noch der Phantasie meiner Träume

zuzuschreiben ist, aber dann begreife ich, dass ich es bin, der diese Entscheidung getroffen hat, eine Entscheidung, die ich vom ersten Moment an als etwas Unumstößliches, Endgültiges empfunden habe, und so füge ich mich meinem Entschluss.

Allerdings will ich mir die Sache zuerst genau durch den Kopf gehen lassen. Beim

Bedenken aller möglichen Widrigkeiten und Gefahren schleicht sich in mir die Befürchtung ein, es könnte mir, warum auch immer, passieren, dass ich die Augen versehentlich doch einmal öffne. Dem gilt es entgegenzuarbeiten. Ich richte mich auf,

bleibe gewohnterweise ein paar Sekunden am Bettrand sitzen, bevor ich aufstehe

und vorsichtig, mit wie in Abwehr leicht vorgestreckten Armen, meinen Weg ins Badezimmer suche. Das fällt mir nicht schwer – jeder, der über längere Zeit in einer

Wohnung lebt und mit der Anordnung der Räume und Möbel vertraut ist, findet seinen Weg leicht im Dunkeln. Problemlos gelange ich ins Badezimmer, und selbst

ohne zu sehen, kann ich sicher sein, dass ich vor dem Spiegelschrank stehe. Ich

öffne ihn, und da ich weiß, wo das Verbandzeug liegt, finde ich es sofort, ertaste die

Schere, schneide mir zwei ausreichend breite Längen vom Pflasterstreifen ab und

klebe sie über meine geschlossenen Lider. Jetzt kann nichts mehr geschehen, denke

ich. Ich kann getrost darauf vertrauen, dass es mir gelingen wird, in heiklen Situationen dem Drang zu widerstehen, meine Augen aufzureißen.

Nachdem ich es – langsam zwar, jedoch ohne irgendwo anzustoßen – in die Küche

geschafft habe, stelle ich Tee zu. Seine Zubereitung hat etwas von einem kleinen

Abenteuer, denn selbst einfache Handgriffe wie das Aufstellen des Wassers, das Anzünden des Gasherds und das Eingießen des kochenden Wassers in die Teekanne

sind ohne Sicht auf das Instrumentarium etwas, das man erst lernen muss, bevor

man es blind beherrscht. Jedenfalls begreife ich, als es schließlich gelungen ist und

ich von der Tasse nippe, dass es so nicht weitergehen kann. Zwar ist mir, schon als

ich meine Entscheidung getroffen habe, vage klar gewesen, dass sich von nun an alles ändern würde, aber vollinhaltlich bewusst wird es mir wohl erst, wenn ich beginne, mir das ganze Unterfangen in allen Einzelheiten auszumalen.

Fest steht, dass ich nicht mehr in die Arbeit gehen werde. Gewiss – ich könnte mich

für eine Weile krankmelden, ein Arzt, der mir ein entsprechendes Attest ausstellt,

würde sich schon finden. Und danach mit der Ausrede einer misslungenen Augenoperation ordnungsgemäß kündigen. Doch nein, ein derartiges Täuschungsmanöver widerstrebt mir. Mein Entschluss duldet nicht die geringste Kleinmütigkeit. Ich bin gleichsam bedingungslos in See gestochen und steuere wie ein Entdeckungs reisender der frühen Neuzeit auf nicht-kartographierte Regionen zu, und das ohne einen Notgroschen der Konvention, ohne Rückhalt. Ob es überhaupt eine Heimkehroption gibt, auch das steht in den Sternen.

Trotzdem kann ich der Versuchung nicht widerstehen, mir vorzustellen, wie es wäre,

wenn ich an meinem Arbeitsplatz erscheinen würde. Vor meinem geistigen Auge

sehe ich die Gesichter meiner verwunderten Kollegen, höre die Sätze, die sie sprechen, im Tonfall von Besorgnis und Verunsicherung. Ich kann fast die Umklammerung an meinem Arm spüren, an dem mich einer oder eine von ihnen zu einer Sitzgelegenheit bugsiert, jedoch ist die dieser Vorstellung abgewonnene Euphorie oder gar

Schadenfreude zu flüchtig, als dass ich mich länger in ihr aufhalten könnte. Sie löst

sich auf in etwas Albernes, nahezu Widerwärtiges, und ich weise diese Versuchung

nun brüsk von mir, um die Ernsthaftigkeit meines Vorhabens nicht zu torpedieren.

Ich stehe auf, nehme mir einen Apfel aus der Schale auf der Fensterbank und

schalte das Radio ein. Und nicht die Meldung, die soeben in den Nachrichten verlesen wird – erneut gab es eine Havarie eines Öltankers in der Nähe einer unter Naturschutz stehenden Insel –, sondern der Umstand, dass es mir plötzlich ungehörig vorkommt, mich der Passivität des Zuhörens ausgeliefert zu haben, bringt mich dazu,

das Gerät wieder auszuschalten. So entwickeln sich die Regeln des Spiels, sage ich

mir. Keine absichtliche Herbeiführung von akustischer Ablenkung mehr! Und in der

Weiterführung des Gedankens gerate ich bald an einen Punkt, wo es für mich beschlossene Sache ist, mich gar nicht mehr in das Geschehen einzumischen, prinzipiell nicht mehr vorsätzlich zu handeln, vielmehr alles hinzunehmen, was mir widerfährt. Ich werde also nur noch Radio hören, wenn zufällig irgendwo eines läuft. Und

ich werde nur noch sprechen, wenn ich etwas gefragt werden sollte, aber selber

nichts mehr fragen.

Diese Überlegungen fangen nun an, schwerfällig in meinem Kopf zu kreisen. Mir wird

ein bisschen schwindelig, wobei ich nicht bestimmen kann, ob es daran liegt, dass

Geist und Körper mit Unwohlsein auf meine Weigerung, die Augen zu öffnen, reagieren, oder daran, dass mir von Minute zu Minute die Tragweite meiner Unternehmung

tiefer ins Bewusstsein sinkt.

Um jedoch nicht schon zu Beginn den Mut zu verlieren und um mich abzulenken,

lege ich den Apfel nach einem Bissen zurück in die Schale und tappe für die Morgentoilette ins Badezimmer. Es ist zwar heute schon das zweite Mal, aber erst jetzt

kommt mir zu Bewusstsein, was für ein merkwürdiges Gefühl es ist, mit geschlossenen Augen vor einem Spiegel zu stehen. Fast gleichzeitig schießt mir durch den Kopf, dass ich mich ja von nun an nie wieder in einem Spiegel sehen werde, dass ich

gar nichts mehr jemals sehen werde, keine Sonne, keinen Mond, keine Sterne, keine

Menschen. Ja, nicht einmal einen Schmetterling werde ich heiter in der Luft vorüberflattern sehen. Aber ich wische diese Gedanken rigoros beiseite und berühre nur den

Spiegel kurz mit meinen Fingern. Was man alles nicht braucht, wenn man nichts

sieht, denke ich, entkleide mich und steige in die Dusche. Jeder Handgriff sitzt, ich

weiß, wo sich Duschkopf, Temperaturhebel sowie Seife und Shampoo befinden, und

doch ist es ein neuartiges, fast unbehagliches Gefühl, meinen Körper einzuseifen,

ohne ihn zu sehen, beinahe, als würden meine Hände über den Leib eines Fremden

fahren, oder als würde ich von jemand anderem eingeseift werden.

Einen ersten Vorgeschmack auf das, was mich erwartet, bekomme ich, als ich aus

der Dusche trete, zum Handtuch greife und gleich darauf etwas umfallen und zersplittern höre. Der Geruch verrät mir, dass ich mit dem Handtuch die Flasche Rasierwasser von der Waschmaschine gefegt haben muss. Auf der Stelle versteinere ich. Ich

getraue mich nicht mehr, mich zu rühren, zu groß ist die Angst, in eine Scherbe zu

treten. Aber wie auch immer ich dieses Missgeschick bewältigen werde, erst einmal

trockne ich mich ab. Danach lege ich das Handtuch über den Rand des Waschbeckens und mache auf gut Glück einen großen, vorsichtigen Schritt Richtung Badezimmertür, und es gelingt mir, ohne mich zu verletzen. Einen zweiten großen Schritt,

und ich stehe im Gang und kann gefahrlos in die Küche gehen, um mir den Handbesen zu holen. Die nächsten Minuten verbringe ich kniend und taste behutsam auf

dem Badezimmerboden umher, bis ich sicher bin, alle Glassplitter gefunden und aufgekehrt zu haben.

Diese Tätigkeit hat mich bald einigermaßen erschöpft, aber vor allem entmutigt. Auf

einmal türmen sich in meinem Kopf immer mehr Fragen übereinander. Wie soll ich

mich rasieren? Wie meine Kleidung farblich passend auswählen? Wie mich auf dem

Touchscreen meiner Waschmaschine zurechtfinden? Wie kochen? Und außerhalb

meiner Wohnung? Wie wird sich das Einkaufen gestalten?

Doch sogleich ermahne ich mich: Nicht nachdenken, tu es einfach, es wird sich ergeben! Also raffe ich mich auf und gehe zurück ins Badezimmer, um meine Morgentoilette zu beenden. Das stellt mich vor neue Herausforderungen. Etwa die Zahnpasta genau auf die Borsten der Zahnbürste zu drücken oder mir mit dem Kamm einen geraden Scheitel zu ziehen. Mich nass zu rasieren, versuche ich erst gar nicht,

und einen elektrischen Rasierapparat besitze ich nicht. Ich werde mir einen Bart stehen lassen, das ist ohnedies wieder Mode.

Der zweite gröbere Fehler passiert mir, als ich mir nach dem Föhnen statt des Haargels eine kühlende Gelenksalbe in die Haare schmiere, weil ich von beiden gleich

großen Tuben die falsche gewählt habe. Während ich mir nochmals in der Dusche

die Haare wasche, denke ich, dass ich daraus lernen kann: Erst dran riechen, dann

verwenden!

Das dritte Missgeschick widerfährt mir, als ich aus der Dusche steige und dabei fest

auf eine große spitze Scherbe trete, die mir beim Aufkehren offenbar entgangen war.

Ich schreie auf und setze mich auf die Badematte, um mir den Splitter aus der Fußsohle zu ziehen. Das gelingt mir zwar, aber ich merke, dass die Wunde heftig blutet.

Also umwickle ich den Fuß erst einmal mit einem Handtuch, dann sitze ich einfach

nur da, presse es fest auf die verletzte Stelle und fluche. Unwillkürlich schießen mir

Tränen in die Augen. Aus Wut und Ohnmacht fange ich zu weinen an und merke

bald, dass es nicht ratsam ist, mit zugepflasterten Augen zu weinen. Zwar sind die

Pflaster ohnehin vom Duschen feucht, aber nun stauen sich auf der Innenseite meine

Tränen und durchweichen sie ganz. Ich reiße sie also herunter, wobei ich streng darauf achte, meine Augenlider geschlossen zu halten. Dann richte ich mich auf,

nehme Schere und Verbandzeug aus dem Spiegelschrank, setze mich wieder auf

den Boden und klebe einen großen Pflasterstreifen auf die Wunde und je einen über

meine Augen. Wenn ich jetzt nur einen Moment zögere, so fürchte ich, wird das gesamte Projekt scheitern. Ich trockne mich ab, trotz meiner Vermutung, dass die

Feuchtigkeit im Handtuch Blut sein dürfte, föhne und frisiere mich, humple zurück ins

Schlafzimmer und lasse mich auf mein Bett fallen.

Gut, das mit der Rasierwasserflasche war Pech. Sonst hat einfach alles nur um einiges länger gedauert und ist um vieles anstrengender gewesen als an einem regulären Morgen. Ich muss also in Zukunft für jede Tätigkeit anfangs mehr Zeit einplanen.

Andererseits werde ich auch viel Zeit gewinnen, da Beschäftigungen wie Lesen, Filmeschauen oder Internet-Surfen künftig wegfallen werden.

Ich liege noch eine Weile auf dem Bett, um mich zu sammeln, bevor ich mich anziehe. Praktischerweise liegt meine Kleidung von gestern noch auf dem Sessel neben dem Bett. Das Ankleiden gelingt verhältnismäßig leicht, und dem Wagnis, sich

auf die Straße zu begeben, steht nichts mehr im Weg. Doch etwas fehlt noch – ich

ertaste das Brillenetui auf der Vorzimmerkommode und setze mir meine Sonnenbrille

auf. Dann nehme ich, in Ermangelung eines Blindenstocks, den großen Regenschirm

von der Garderobe. Zuletzt ziehe ich mir die Schuhe an, wobei das Schnüren der

Bänder so mühelos gelingt, dass es mir kurz vorkommt, als wäre mein gegenwärtiger Zustand ein alltäglicher und vertrauter. Schließlich sitze ich eine Zeitlang bloß da, auf

den Schirm gestützt, doch mit den Minuten, die in der Dunkelheit hinter meinen verklebten Lidern und der Sonnenbrille verrinnen, erfasst mich auf einmal wieder ein unangenehmer Schwindel, und ich weiß nicht mehr, wo oben und unten, rechts und

links und vorne und hinten ist. Als ich spüre, dass ich Gefahr laufe, mir in Panik die

Pflaster herunterzureißen, befehle ich mir aufzubrechen, taste mich an der Garderobe bis zur Wohnungstür, lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Dabei ist es mir

einerlei, ob der Schlüssel noch innen steckt. Und richtig zu mir komme ich erst, als

ich draußen im Freien vor dem Haustor stehe und den Wind in meinem Gesicht

fühle.

Erstaunlich ist, dass ich von diesem Moment an keine Angst mehr hatte. Etwas in

meinem Inneren begann sich zu entknoten und aufzulösen und mich in einen Zustand der Gelassenheit zu versetzen. Vielleicht könnte man es Schicksalsergebenheit nennen. Jedenfalls wurde ich von nun an von der Zuversicht getragen, egal, was

passieren möge, ich würde meinen Weg finden.

Dieser Weg führte zunächst geradeaus, den Häuserblock entlang. Ich ging sehr langsam, die Regenschirmspitze auf dem Gehsteig vor mir hin und her pendelnd, wie ich

es oft bei Blinden gesehen hatte. An der ersten Ecke blieb ich stehen, wartete, bis

ich kein Auto herannahen hörte, und überquerte die Straße. Dann der zweite Häuserblock, der dritte und vierte, und danach begann schon der Park. Hier wurde das

Vorankommen schwieriger, ich kam wegen der gewundenen Pfade mehrmals vom

Weg ab. Einmal musste ich sogar aufs Geratewohl ein Rasenstück überqueren. Ein

Kind erkundigte sich, ob ich Hilfe brauchte, doch ich verneinte dankend und fand

alleine wieder auf den Kiesweg zurück.

Dieser Gang hatte gereicht, mich die Orientierung verlieren zu lassen, und zugleich

war es der Moment, an dem sich in mir zu meiner Gelassenheit eine unerklärliche

Heiterkeit gesellte. Es wäre vielleicht angemessener, von einer heiteren Ernsthaftigkeit zu sprechen, denn es handelte sich ja in meiner Angelegenheit nicht um ein

vergnügtes Lustwandeln, sondern um eine riskante Expedition mit ungewissem Ausgang. Und trotzdem war ich guter Dinge und musste sogar unversehens lachen.

Sicher machte ich auf die anderen Passanten einen seltsamen Eindruck, aber wenn

ich mich früher schon wenig darum gekümmert hatte, wie ich den Menschen erschien, war es mir mittlerweile ganz gleichgültig geworden, ob man mich womöglich

für einen Narren hielt.

Und weiter ging ich, langsam, mehrere Stunden, ohne zu wissen, wo ich mich befand, und wie ein Wunder – außer dass mich manchmal Autos anhupten, geschah

mir nichts Unangenehmes. Irgendwann blieb ich stehen, weil ich erschöpft war und

mein Fuß schmerzte. Und wie überrascht war ich, als ich da jemanden meinen Namen rufen hörte. Es war Ava. Lange waren wir einander nicht mehr begegnet.

«Lukas», sagte sie, «Lukas, was ist passiert?»

«Nichts», erwiderte ich lächelnd, «nichts ist passiert.»

«Was ist mit deinen Augen?»

«Es ist alles in Ordnung.»

Sie schwieg ein paar Sekunden, in denen sie mich wohl musterte, dann fragte sie:

«Soll ich dir beistehen?»

«Nein, ich schaffe das schon», antwortete ich.

«Soll ich dich irgendwohin bringen?»

«Nein, ich muss weiter.»

«Bist du sicher?»

«Ja, ich muss weiter», wiederholte ich und setzte meinen Weg fort.

«Ruf mich an, wenn du doch etwas brauchst», sagte sie noch, und da erst bemerkte

ich, dass ich mein Telefon zuhause hatte liegen lassen.

Und ich ging unermüdlich, es musste längst Nacht geworden sein. Die Stadt lag wohl

schon weit hinter mir, und als in mir zum ersten Mal an jenem langen Tag die Frage

aufstieg, wo ich denn schlafen würde, hörte ich eine Stimme und blieb stehen.

«Wohin wollen Sie?», fragte die Stimme.

«Nirgendwohin», antwortete ich.

«Wissen Sie, wo Sie sind?»

«Nein.»

Ich erwartete, dass die Stimme mich noch etwas fragen würde, doch es kam nichts

mehr. Ich hörte bloß Schritte, die sich entfernten und im Nirgendwo verhallten.

Gleichzeitig jedoch spürte ich, dass jemand an mich herantrat, mit einer Hand sanft

meinen linken Oberarm umfasste und die andere mit leichtem Druck auf den Rücken

legte, sodass ich sofort begriff und mich in Bewegung setzte. Nach ein paar Schritten

befahl man mir stumm, mit einer Berührung an meiner Schulter, stehenzubleiben. Ich

hörte, wie eine Autotür geöffnet wurde, und man bedeutete mir, mit sanftem Druck,

einzusteigen. Meinen Regenschirm nahm man mir umsichtig ab. Ich setzte mich,

schnallte mich an, das Fahrzeug wurde gestartet, und wir fuhren los. Unmittelbar darauf wurde mir eine Scheibe Brot in die Hand gedrückt, die ich gierig verschlang, und wie ein Verdurstender trank ich aus der Flasche Wein, die mir gereicht wurde. Dann

legte ich den Kopf zurück und schlief ein.

Die Reise dauerte mehrere Tage. Wenn ich müde war, stellte ich die Lehne meines

Sitzes flacher, um dahinzudösen, und wenn ich hungrig oder durstig war oder austreten musste, schien der Fahrer das schon im Voraus zu ahnen und gab mir zu essen

und zu trinken oder hielt den Wagen an. Ich fand während der ganzen Zeit nicht heraus, ob es mehrere Fahrer waren, die sich abwechselten, aber es musste wohl so

sein, denn wir hielten stets nur für wenige Minuten, und welcher Chauffeur würde so

lange ohne Schlaf auskommen? Angeschnallt saß ich da und ließ mich bei jeder

Beschleunigung in den Sitz drücken und von den Fliehkräften in den Kurven hin und

her schaukeln. Nahm ich in den ersten Reisetagen durch das meist einen Spaltbreit

geöffnete Fenster noch Abgase wahr sowie das Dröhnen von Autobahnen, wurde

der Verkehrslärm nach und nach weniger. Bald begann es ländlich zu riechen, nach

gedüngten Feldern und frisch gemähtem Gras.

Irgendwann hielten wir an. Jemand öffnete die Beifahrertür, forderte mich mit einer

Berührung am Arm auf auszusteigen. Durch wiederholte Griffe ins Leere wollte ich

signalisieren, dass ich meinen Regenschirm gern wiederhätte, aber nach einem

leichten und ermutigenden Klopfen auf meine Schulter verstand ich, dass ich ihn

nicht mehr brauchen würde, und ich stieg aus. Eine Hand ergriff meine rechte, und

man führte mich einen Weg entlang, bis ich hörte, wie sich eine Tür öffnete. Die

Hand hob die meine empor, und ich spürte, wie eine dritte sie ergriff und mich mit

einem fast unmerklichen Zug einlud einzutreten.

Wovon will nun mein inneres Logbuch sonst noch berichten? Von Laistrygonen und

Zyklopen, vom wütenden Poseidon? Von Perlmutter und Korallen, Bernstein und

Ebenholz? Von erregenden Essenzen? Nein, nichts von alledem. Seit jenem Morgen, da ich von daheim aufbrach und schließlich hierher gelangte, habe ich viele

Tage in diesem Haus verbracht, Tage der Gleichförmigkeit, Tage der Untätigkeit.

Wem die Hände gehören, die mich stets umsorgen, habe ich nie erfahren. Sie haben

eine raue Haut und spitze, dünne Nägel, fast wie die Krallen eines Vogels oder eines

Reptils, sind etwas steif und ungelenk, doch zugleich warm und von einer vornehm

zurückhaltenden Sanftheit, sodass ich nicht anders kann, als mich komplett behütet

und in absoluter Sicherheit zu wissen.

Wenn die Glocke im ersten Stock einmal schlägt, ist darauf Verlass, dass Essen auf

dem Tisch auf mich wartet. Wenn sie zweimal schlägt, ist es Zeit zu ruhen. Es ist nie

zu warm im Haus und nie zu kalt, sein gleichbleibend heimeliger Geruch bringt mich leicht zum Träumen. Ein wiederkehrender Traum ist, dass ich Glasbläser bin. Die Kugel aus flüssigem Glas, die an meinem Blasrohr hängt, wird immer größer und größer, bis sie so riesig ist, dass sie mit dem Umfang der Erdkugel in Wettstreit tritt und

die Welt aus ihrer Umlaufbahn zu geraten droht.

Alle paar Tage geleiten mich die wohlwollenden Hände zu einem Bassin, in dem ich

gewaschen werde. Wenn ich danach in meinem Lehnstuhl sitze und durch das offene Fenster die Vögel singen und die Blätter der Bäume im Wind rauschen höre, bin

ich zufrieden und beinahe glücklich, denn tief in mir weiß ich, dass ich eines Morgens, wenn ich erwache, die Regeln des Spiels ein zweites Mal brechen werde.

Wenn keiner, nicht einmal ich, es erwartet, werde ich, ohne gefragt worden zu sein,

etwas sagen, und möglicherweise wird der Satz, den ich dann von mir gebe, ein Befehl sein, eine Aufforderung, ein Ersuchen oder eine Bitte, und vielleicht wird er lauten: Steh mir bei! Und dann werden mir die wohlwollenden Hände über meinen Kopf

mit den schulterlangen Haaren und mein Gesicht mit dem dichten Bart streichen, mir

die Sonnenbrille abnehmen, die Pflaster vorsichtig von meinen Lidern lösen, und das

wird der ersehnte Zeitpunkt sein, da ich am Ziel angelangt sein werde, der große Moment, an dem meine Expedition ihr Ende finden wird. Und so wird mir zuletzt gestattet sein, den verdienten Ruhm zu genießen, den Ruhm des verschollen geglaubten

Entdeckers, der schließlich doch in seine Heimat zurückgekehrt ist, sei es auch nur

für kurze Dauer, für einen Augenblick.

Und so atmen wir ein und atmen wir aus.