Volha Hapayeva
Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils
Präambel
Im Sommer 2020 gab ich der Journalistin eines einflussreichen Portals ein Interview zu meinem neuen Gedichtband. Ein paar Tage später teilte sie mir mit, dass der Redakteur das Material nicht angenommen hätte, und begründete seine Ablehnung mit dem Satz: „This is not the time for poetry“. Das Land, mein Land, Belarus, bereitete sich auf die Präsidentschaftswahlen vor.
Schiffe vor Anker, Autos auf Parkplätzen, aber ich bin diejenige, die kein Zuhause hat
Wo immer ich hingehe, wo immer ich bleibe, auch wenn es nur für eine Nacht ist, fange ich sofort an, diesen Ort mein Zuhause zu nennen. Ein Hotelzimmer ist mein Zuhause, ein Gästezimmer bei einem Freund – Zuhause; Flughäfen, Bahnhöfe – auch die. Das ist eine Art nomadisches Denken. Der Versuch dazuzugehören. Wenn man keine eigene Wohnung hat, wird jeder Ort zu einem potenziellen Zuhause. Ist das Verzweiflung oder Hoffnung? Viele Jahre des Reisens und das Fehlen einer eigenen Wohnung haben mich daran gewöhnt.
Menschen, die ein anderes Verhältnis zu ihrer Wohnung haben, sind vielleicht überrascht von dieser „Nicht-Bindung“ oder vielmehr von dieser schnellen Bindung an einen fremden Ort. Vielleicht, weil es so schwer ist, überhaupt kein Zuhause zu haben?
Als Menschen haben wir unsere Wurzeln. Wir sind daran gewöhnt, Heimat als etwas Festes, Solides und Unveränderliches zu betrachten. Heimat ist der Ort, an dem man sich beschützt und stark fühlt – wie man so schön sagt: „There is no place like home“, oder „East or West, home is best“. Aber wir vergessen, dass Heimat unterschiedlich sein kann. Für den einen ist es ein Stück Land, für den anderen eine Jurte, die man überall ausbreiten kann. Für wieder andere ist es ein geliebter Mensch, und Heimat ist dort, wo dieser Mensch ist. Wie Pflanzen können wir verschiedene Arten von Wurzeln haben; manche wachsen tief in die Erde, während andere, wie die von Orchideen oder Mangrovenbäumen, über dem Boden, in der Luft verbleiben.
Manchmal bin ich mir selbst nicht sicher, wo mein Platz ist und ob ein solcher Platz überhaupt existiert. So setze ich meine einsame Wanderung fort, probiere verschiedene Lebenskostüme an, bleibe aber ein Beobachter, als ob ich mich für keines entscheiden könnte.
Oft denke ich daran, in die Berge oder Wälder zu gehen, wo ich nicht erklären muss, wer ich bin und was für einen Pass ich habe oder warum ich kein Visum besitze. Worte wie Exil, Flüchtling, Emigrant sind nur für Gemeinschaften, Länder, Staaten relevant. In der Natur bin ich frei, und die Versuchung ist groß, zu denken, dass dieser Planet meine Heimat ist und dass ich mich überall auf ihm zu Hause fühlen kann.
Ich habe sogar ein Spiel erfunden, das ich von Zeit zu Zeit spiele, ein Spiel, das man „Täuschung des Bewusstseins“ nennen kann. Ich fahre mit dem Zug durch die Landschaften und stelle mir vor, dass ich dort bin, hinter dem Waggonfenster in meiner Heimat, und ich muss zugeben, dass es einen Moment lang funktioniert, diese Projektion, wahrscheinlich aufgrund des Gedächtnisses – so manifestiert es sich –, etwas, das einen entspannt, weil alles bekannt zu sein scheint, und dann kommt da eine unbeschreibliche Sehnsucht und Sympathie auf, fast eine Vorahnung des Todes und der Unendlichkeit, aber gleichzeitig spürt man den Atem des Universums, all die Möglichkeiten des Seins. Meine Augen beginnen zu brennen, meine Kiefer verkrampfen sich. Ich atme tief durch und kehre aus meinem Spiel zurück.
In den letzten Jahren bin ich so oft umgezogen wie noch nie in meinem Leben. Graz, wo ich erst Stadtschreiberin war und dann plötzlich nicht mehr nach Belarus zurückkehren konnte, dann Gastautorin in Feldafing, Stipendiatin an der Kinder- und Jugendbibliothek Blütenburg, dann in Krems an der Donau, plötzlich war ich ein Mensch mit kompliziertem Aufenthaltstitel und schließlich nun writer in exile am Deutschen PEN Zentrum in München. Ich habe so viel über den Begriff Heimat nachgedacht wie nie zuvor, was sie für mich bedeutet und wo sie ist. Einzelne Menschen wie ich fallen aus dem Gesamtbild heraus, und sie müssen doch irgendwie eingeordnet werden.
Es ist eine paranoide Besessenheit, unser Gehirn scheint kategorisieren und klassifizieren zu müssen, um zu wissen, in welches Regal man dieses oder jenes Phänomen, diesen oder jenen Fall einordnen kann. Diese Prozesse finden mit Hilfe der Sprache statt. Welche Möglichkeiten bietet sie mir:
ein Emigrant, ein Flüchtling, ein Exilant zu sein – all diese Wörter sind aus der Position der Staatlichkeit heraus entstanden. Ich möchte nicht in solchen Begriffen denken – also höre ich bei Nomaden auf.
Das Nachdenken über Wörter ist sozusagen meine berufliche Deformation. Die deutsche Heimat ist der Ort, an dem man sich zu Hause fühlt, die belarussische Radzima ist der Ort, an dem man geboren wurde. Ich bin in Minsk geboren, aber ist das meine Stadt? Ich bin mir nicht sicher, sie gehört den Menschen schon lange nicht mehr, sie ist die Hauptstadt der Republik. Wenn man in einem „fremden“ Land ist, machen viele Dinge Angst, die Angst, dass man nicht verstanden wird, die Angst, dass man etwas falsch macht. Man übt immer Gespräche, spielt Begegnungen im Kopf durch, prüft, ob es hier üblich ist, dies zu sagen oder das. Seltsamerweise aber habe ich all diese Dinge schon getan, als ich noch in „meinem“ Land lebte.
Als ich noch in Belarus war, wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich ein Exilant, ein Emigrant bin. Einerseits war es, als wäre ich zu Hause, andererseits fühlte ich mich nicht wie zu Hause. Menschen, die unter undemokratischen Regierungen leben, sind es gewohnt, in der inneren Emigration zu leben – ein Leben in zwei parallelen Welten, von denen die eine fremd und hässlich ist. Menschenrechte, Humanität, Ethik und Ästhetik sind für diese andere Realität bedeutungslose Worte.
Keine Diktatur ist an Kunst per se interessiert, denn die Kunst ist ein Mittel des kritischen Denkens und des Lernens, der Bildung. Sie offenbart die Unvollkommenheit der staatlichen Organe und der Politik. Der Versuch, die Kunst zu unterdrücken und zu kontrollieren, führt unweigerlich zur Stagnation. Die so genannte „Hofkunst“ wird zum Mittel der Propaganda. Das Regime will keine Bürger heranziehen, die denken und seine politische Agenda in Frage stellen.
„Wie man die Anzeichen für psychischen und emotionalen Missbrauch erkennt“, „5 Fehler, die man nie mit einem Missbrauchenden machen sollte“, „Wie er dich zurückgewinnt“, „Du bist nicht verrückt, aber emotionaler Missbrauch kann dich dazu bringen, es zu glauben“, – das sind nur einige Titel von zahlreichen Artikeln, die Menschen, die in und unter Missbrauchsbeziehungen leiden, helfen, dieses Phänomen besser zu verstehen, damit sie anfangen können zu handeln und ihr Leben zu ändern. Ich habe viel Zeit damit verbracht, ähnliches Textmaterial zu lesen und Hilfe bei Therapeuten zu suchen – mein Weg war lang, aber ich bin stolz auf mich und voller Dankbarkeit für all die Menschen, die mir direkt oder indirekt geholfen haben, für alle, die über dieses Thema schreiben und es sichtbar machen.
Aber seit August 2020, als mein eigenes Land in den offenen Abgrund des Terrors durch das Regime geriet, habe ich begonnen, diese Materialien aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Mir wurde klar, dass die Situationen unter totalitären oder autokratischen (sagen wir: nicht-demokratischen) Regierungen dem Muster von Missbrauchsbeziehungen folgen.
Die belarussische Künstlerin Zhanna Gladko schrieb in einem ihrer Beiträge in den sozialen Medien, dass Macht weder Geschlecht noch Nationalität kennt. Die meisten OMON-Mitarbeiter (Spezialtruppen, die die friedlichen Proteste in Belarus mit beispielloser Gewalt unterdrückt haben) sind Männer, aber es gibt darunter auch Frauen, die ihre staatlich garantierte Macht nutzen und junge Männer ziemlich erfolgreich verprügeln. Man sieht, dass eine traditionell männliche Position von einer Frau eingenommen werden kann, aber das ändert nichts an dem Verhalten, denn es ist die Position selbst, die dieses Verhalten diktiert, nicht das Geschlecht der Person, die sie einnimmt. Schon vor vielen Jahren habe ich festgestellt, dass Frauen nicht als homogene Gruppe funktionieren können, weil sie es nicht sind. Unter den Bedingungen der Lebensbedrohung wenden benachteiligte Gruppen verschiedene Techniken an, um zu überleben, und eine davon ist die Zusammenarbeit mit einer dominanten oder mächtigen Clique, wodurch die eigentlichen Interessen der eigenen Gruppierung dann erst zurückgestellt und schließlich sogar abgelehnt werden. Selbstanpassung als Schutz ist letztlich Unterwerfung.
Ich kann jedoch nicht verstehen, wie es möglich ist, eine Person zu schlagen, die unbewaffnet und allein am Boden liegt. Die Macht, die OMON und ihresgleichen bekommen und dann auf und über die Bürger ausüben, kennt keine Grenzen, Mitglieder solcher Organisationen können einen Menschen töten und tragen keine Verantwortung dafür – weil sie von einem System geschützt werden, das auf Patriarchat, Terror und Angst aufgebaut ist. Ich weiß nicht, wie ich mit solchen Leuten reden soll, denn ich bezweifle, dass wir die gleiche Sprache sprechen. Ich werde sie nie verstehen und sie werden mich nie verstehen. Das Einzige, was ich tun kann, um mich zu schützen, ist, ihnen niemals zu begegnen.
Es ist nicht das Geschlecht (Frau oder Mann), es sind ein Gefühl der Macht und eine verzerrte Persönlichkeit, die diese Leute Bürger verprügeln lassen, denn das wichtigste Werkzeug des Patriarchats ist der Zugang zur Macht. Denn wenn man Macht hat, ist man ein Gewinner, wenn nicht – ein Verlierer. Alles ist schwarz oder weiß, und derjenige, der die Macht hat, entscheidet, was was ist.
„Zwangskontrolle“ ist eine ganz besondere Form des Missbrauchs. Sie ist weder eine „Reaktion“ auf Stress, noch wird sie durch Alkohol oder Drogen ausgelöst. Es handelt sich um ein fortlaufendes System der Kontrolle, bei dem der missbrauchende Partner versucht, das Selbstverständnis des anderen Partners zu zerstören. Ziel ist es, den Partner völlig unterzuordnen, ihn zu einem „willigen Sklaven“ zu machen. Um dies zu erreichen, isolieren Missbrauchende ihre Partner, managen sie bis ins Kleinste, demütigen sie, erniedrigen sie, überwachen sie, setzen sie unter Druck und schaffen ein Umfeld der Verwirrung, des Widerspruchs und der extremen Bedrohung. Amnesty International hat dies als Folter eingestuft. Darüber hinaus ist es das Schwerste, sich davon zu „erholen“. Wenn ich diese Zeilen lese, erkenne ich die Verhaltensmuster der Behörden uns Bürgern in Belarus gegenüber wieder. Zu den Techniken, die Missbrauchende anwenden, um Kontrolle über ihre Partner auszuüben, gehören: Bevormundung, Beleidigungen, einseitige Entscheidungen, Behandlung wie ein Kind, Unberechenbarkeit, Entmenschlichung. Und paradoxerweise sind es genau diese Strategien, die die Regime metaphorisch einsetzen, um ihre Bürger zu kontrollieren.
In patriarchalischen Gesellschaften ist die Haltung gegenüber Frauen zweifelhaft: Man kann den Eindruck gewinnen, dass der Staat sich um die Frau kümmert, aber das ist eine Illusion, der Staat ist nur an Produktion und Reproduktion interessiert. Das Patriarchat hat eine sehr lange Geschichte, und so ist es nicht verwunderlich, dass Frauen statistisch gesehen häufiger missbraucht werden als Männer. Es ist auch kein Wunder, dass in einer patriarchalischen Gesellschaft die Gleichstellungsbewegung der Frauen mehr Kritik auf sich zu ziehen scheint als die Männer, die im Laufe der Geschichte Frauen gefoltert, vergewaltigt, geschlagen und eingesperrt haben. Im Patriarchat gibt es „Herrenregeln“, nach denen man eine Frau oder eine ältere Person/einen Behinderten nicht schlagen darf. Aber das funktioniert nur mit „gehorsamen“ Frauen und „gehorsamen“ Schwachen. In dem Moment, in dem diese Gruppen aufhören zu gehorchen und anfangen zu protestieren, werden sie für defekt erklärt, und von da an kann körperliche Gewalt auch gegen sie angewendet werden. Als ausgegrenzte Person (Frau, Behinderte usw.) kann man für das Patriarchat nie gut genug sein, und man ist nie außer Gefahr.
Maßnahmen gegen Diktatoren und blutige Regime sollten so schnell wie möglich ergriffen werden, und das ist der Grund. Haben Sie schon einmal von dem Phänomen der „erlernten Hilflosigkeit“ gehört? Der Mensch gewöhnt sich an alles, und wenn er an Gewalt gewöhnt ist, bleiben all diese Gewalttaten und Aggressionen ungestraft. Noch schlimmer ist, dass ein solches Verhalten zur Norm wird – in solchen Ländern ist es normal, verhaftet zu werden, wenn man etwas gegen das Regime sagt, und ins Gefängnis gesteckt zu werden, wo man gedemütigt und sowohl moralisch als auch physisch gefoltert wird. Die meisten Regime sind auf Angst aufgebaut. Wenn ein Volk lange Zeit in missbräuchlichen Beziehungen mit dem Regime gelebt hat, wird dies zur Norm. Im Fall von Belarus hat zwar die Bevölkerung versucht, gegen dieses missbräuchliche Verhalten der Regierung zu protestieren und es sichtbar zu machen, aber niemand hat es ernst genommen, oder besser gesagt, niemand wollte sich in die Angelegenheiten einer anderen Familie einmischen. Wenn man sich ein Land als Familie vorstellt, denn es ist seine „Privatsache“, vor allem, wenn es keine rechtlichen Einflussmöglichkeiten oder wirtschaftlichen Interessen gibt.
Wenn man tiefer blickt, sieht man eine gespaltene Gesellschaft, den Schmerz, die Trauer und das Leid, den Hass und die gegenseitigen Vorwürfe und Schuldzuweisungen. Selbst wenn sich die Situation ändert, ist die Gesellschaft bereits zum Träger eines kollektiven Traumas geworden.
Einmal fand ich eine rettende Formulierung in Bezug auf die Frage, was oder wo mein Heimatland ist. Ich dachte – meine Heimat ist meine Sprache. Aber als Dichterin und Linguistin habe ich viele Fragen zur Sprache als Phänomen, denn sie ist nie neutral, nie objektiv, sie ist immer politisch.
Der norwegische Soziologe Johan Galtung, einer der Gründer des internationalen Friedensforschungsinstituts, hat viele Jahre lang Gewalt und internationale Konflikte erforscht. Ihm zufolge ist Gewalt eng mit sozialer Ungerechtigkeit verbunden. Kulturelle Gewalt ist ein Begriff, der den Dreiklang aus struktureller und direkter Gewalt ergänzt. Strukturelle Gewalt ist in soziale Institutionen eingebettet, sodass wir angesichts von Ungerechtigkeit oft nicht erkennen können, woher sie kommt und warum genau sie geschieht. Kulturelle Gewalt ist jedes Element der Kultur, das Gewalt in ihrer strukturellen oder expliziten Form legitimiert. Es ist kulturelle Gewalt, die strukturelle und direkte Gewalt durch die so genannten „sozialen und kulturellen Normen“, die durch Ideologie, Religion, Sprachgebrauch, Kunst, Wissenschaft usw. zum Ausdruck gebracht werden, rechtfertigt oder akzeptabel macht.
Die Sprache wird verwendet, um Menschen und ihr Verhalten als gut oder schlecht, normal/abweichend, richtig/falsch zu bewerten. Später funktioniert die Strafjustiz wie ein System aus Zuckerbrot und Peitsche: Diejenigen, die von den Behörden als gut angesehen werden, werden ermutigt, und diejenigen, die als schlecht gelten, werden bestraft. Es besteht ein statistischer Zusammenhang zwischen dem Grad der Aggression in einer bestimmten Kultur und der Häufigkeit von verurteilenden Worten und Ausdrücken, die in der Literatur dieser Kultur verwendet werden. Je häufiger solche verurteilenden und etikettierenden Ausdrücke in einer Kultur verwendet wurden, desto höher war das Gewaltniveau.
Im Prinzip ist jede Sozialisation Gewalt, so wie es jede Kultur im traditionellen Sinne ist: wie Bräuche, Rituale und Umgangsformen. Sie sind Elemente der Vereinheitlichung, der Bildung und Verstärkung von Gegensätzen wie gut/böse, richtig/falsch, normal/abnormal, wir/sie. Gewalt entsteht durch die Art und Weise, wie man uns zu denken und zu leben lehrt, und sowohl Sprache als auch Macht spielen in diesen Prozessen eine gewichtige Rolle. So paradox es auch klingen mag, aber Bildung und Erziehung lehren uns, freundlich zu sein, uns in andere einzufühlen, uns um geliebte Menschen zu kümmern usw., was jedoch selten funktioniert. Im wirklichen Leben sind wir vor allem neidisch und hasserfüllt, fühlen uns wütend oder sind wettbewerbsorientiert und freuen uns über die Probleme anderer Menschen. Das Leben steht im Widerspruch zu dem, was in guten Büchern steht, und das geschieht, weil (eine mögliche, aber nicht allgemeingültige Erklärung) unsere Handlungen von Angst, Scham, Schuldgefühlen, dem Wunsch, Liebe/Akzeptanz/Lob zu gewinnen oder sich einen Vorteil zu verschaffen, diktiert werden, und nicht von der Freude an der bloßen Tatsache, etwas zu tun.
Die Sprache, die wir verwenden, ist oft manipulativ und zielt darauf ab, Angst, Schuldgefühle, Scham usw. bei unserem Gegenüber hervorzurufen. Kein Wunder, dass so viele Konflikte ihren Ursprung in der Art und Weise haben, wie wir sprechen.
Menschen sind Sprachwesen, und vieles (wenn nicht alles) geschieht durch Sprache. Über die Sprache funktionieren wir in der Gesellschaft, sodass die Gewalt, die auf der verbalen Ebene stattfindet, uns so stark trifft, dass sie nicht weniger Leid verursacht als körperliche Gewalt. Dies wurde lange Zeit in verschiedenen Kulturen deutlich gemacht und spiegelt sich in der Sprachpraxis durch Sprichwörter und Redensarten wider: Worte können tödliche Waffen sein.
Ein weiteres zweideutiges Sprachphänomen sind Euphemismen. Die Worte, die ursprünglich dazu gedacht sind, das zu mildern, was unangenehm klingen könnte, werden oft dazu verwendet, schreckliche Ereignisse zu vertuschen und Verbrechen und Gräueltaten zu verschleiern. So nannten die Japaner während des Zweiten Weltkriegs die Sexsklavinnen in den Militärbordellen „comfort women“ („Trostfrauen“). Es ist müßig zu erklären, aus wessen Sicht sie als „Trostfrauen“ dargestellt wurden. In Kriegszeiten bezeichnet sich eine Seite als Freiheitskämpfer, während andere sie als Terroristen bezeichnen, obwohl dieselben Personen gemeint sind – aber es ist die Sprache, die sie aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet.
Man sollte jedoch bedenken, dass in jeder Sprache vieles das Ergebnis einer Sprachpolitik ist, die immer von den Machthabern betrieben wird.
Der Grundgedanke, auf dem Gewalt basiert, ist die Entmenschlichung des Gegners und ein gewisses „moralisches Vergnügen“ an der Tatsache, dass man jemanden bestraft, der schlecht ist, ein Barbar, ein Störenfried … die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Die gleiche Entmenschlichung findet auch durch die Sprache statt, wenn eine bestimmte Gruppe von Menschen mit einem beleidigenden Wort bezeichnet wird, das gegen die Menschenwürde verstößt. Unter anderen feindseligen Sprachtaktiken kann ich direkte verbale Aggression (Bedrohung, Demütigung/Beleidigung, Beschimpfung, Schweigen, Boykott, lautes Schreien, Lächerlichmachen) und indirekte (Verleumdung, üble Nachrede, Verbreitung von Gerüchten) nennen und voneinander unterscheiden.
Es mag den Anschein haben, dass Hassreden ein neues Phänomen sind, aber es gibt sie schon seit langer Zeit, wahrscheinlich seit die Menschen wissen, wie man spricht. Wenn wir in die Geschichte zurückblicken, sehen wir, dass wir von unseren Vorfahren eine Reihe von Beispielen für Hassreden geerbt haben. Flüche, bei denen der Sprecher dem Zuhörer etwas Schlimmes wünscht, z. B. die Pest an den Hals oder Möge der Teufel dir deinen letzten Schilling wegnehmen. Pech für dich Pickelgesicht! Fahr zur Hölle! Fick Dich ins Knie! Es gibt eine Vielzahl solcher Ausdrücke, und früher benutzten die Menschen sie aktiv, um sich vor Feinden zu schützen oder um jemandem, den sie nicht mochten, Unglück zu wünschen.
Heutzutage sind Hassreden vor allem in den Medien und in den sozialen Medien verbreitet, aber auch in anderen Bereichen unseres Lebens: an Arbeits- oder Studienplätzen, in Krankenhäusern, Geschäften, öffentlichen Verkehrsmitteln können wir ihnen begegnen.
Die Rhetorik der Hassreden basiert auf der Dichotomie von „wir“ und „sie“. Durch diese Gegenüberstellung werden andere als gefährlich und feindselig eingestuft, weil sie anders aussehen, anders essen, andere Sitten haben, andere Lieder singen und so weiter. Unterschiede bedeuten alles, und die gemeinsame Menschlichkeit – nichts. Die Sprache ist ein sehr mächtiges Werkzeug, das Realität schafft. Es wäre naiv, ihren Einfluss auf den menschlichen Verstand zu unterschätzen. Regierungen und Staaten haben dies schon immer gewusst, auch wenn sie nicht ausdrücklich darüber sprechen. Sprachpolitik und die staatliche Regulierung sprachlicher Belange sind ein fester Bestandteil der Tagesordnung der Behörden. Jedes Regime und jede Diktatur bedient sich eines bestimmten Vokabulars, um seine Handlungen zu rechtfertigen und die Opposition zu verhöhnen. Sprachliche Propaganda wird eingesetzt, um Menschen zu manipulieren und Gegner und potenzielle „Feinde“ mit beleidigenden Etiketten zu versehen.
Einerseits gibt das wachsende Bewusstsein über das Problem der Hassreden Anlass zur Hoffnung auf eine bessere und bewusstere Zivilgesellschaft, in der die Rechte aller garantiert und geschützt werden; andererseits besteht die Befürchtung, dass einige das Thema ausnutzen und es auf die Spitze treiben könnten, um den Verfechtern der Menschenrechte eine Falle zu stellen, indem sie mit dem Begriff der Redefreiheit hausieren gehen. Die zweideutige Sprache, die von dieser Gruppe von Aggressoren verwendet wird, ist sehr gefährlich, da sie die diskriminierenden Muster unter dem Recht auf freie Meinungsäußerung verschleiert.
Was soll man also mit Hassreden tun? Das Verbot von Hassreden und ihre Einstufung als pathologisches Problem liegt nah. Aber wird ein einfaches Verbot funktionieren? Ich bezweifle es, denn oft führt die Praxis des Verbots zu einer Infantilisierung der Gesellschaft, wenn die Menschen selbst nicht denken müssen, um zu verstehen, welche Ausdrücke sie verwenden sollten und welche für andere beleidigend und gefährlich sein könnten. Es wäre für uns alle vorteilhafter, Individuen heranzuziehen, die in der Lage sind, selbst zu unterscheiden, was gut und was schlecht ist, was zu einer Gesellschaft führen könnte, in der man keine Einschränkungen und Verbote braucht.
Als Adolf Eichmann vor Gericht gefragt wurde, ob es schwer gewesen sei, Zehntausende von Menschen in den Tod zu schicken, sagte er, dass es nicht schwer gewesen sei, weil „unsere Sprache, die Sprache, die uns beigebracht wurde – die Amtssprache –, es leicht gemacht hat, da man immer sagen konnte: ›Das war ein Befehl, ich hatte keine Wahl‹ und somit die persönliche Verantwortung leugnen konnte“. Hoffentlich werden sich diejenigen daran erinnern, die Geisteswissenschaften im Allgemeinen und Literatur und Poesie im Besonderen für nutzlos und unnötig halten.
Nach dem Tsunami 2011 unterbrach die japanische Regierung die Fernsehwerbung und begann stattdessen mit der Ausstrahlung von Werbespots, um die Menschen zur Hilfe zu mobilisieren. In einer dieser Ankündigungen war ein Gedicht von Misuzu Kaneko zu hören. Daraufhin machten sich Tausende von japanischen Freiwilligen auf den Weg in die vom Erdbeben betroffenen Gebiete. Was Regierung und Politiker nicht geschafft hatten, wurde durch einen kleinen Vers erreicht.
Ein und dasselbe Mittel – die Sprache – und so unterschiedliche Ergebnisse. Wenn gebildete Menschen, Menschen von Kultur, sagen, es sei nicht die Zeit für Poesie, bin ich sehr pessimistisch, was unsere Zukunft angeht.
Vor ein paar Jahre wurde ein Freund von mir verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, nur weil er Bücher verkaufte. Er war kein Poesieliebhaber, aber in seinem ersten Brief aus dem Gefängnis bat er mich, dass ich ihm meine Gedichte schicke, das half ihm dort zu überleben. Für mich war das ein starkes Argument, weiterzumachen und nie wieder an der Bedeutung der Poesie und des poetischen Worts zu zweifeln.
Auf allen Ebenen unseres Lebens gibt es so viel unnötige Gewalt. Sie tötet Menschen – nicht nur körperlich. Gewalt verstümmelt unsere Herzen und Seelen, sie macht Aggression, Wut und Angst zu normalen, fast routinemäßigen Elementen des Alltags. Deshalb ist Poesie für mich ein Mittel, um Empathie auszudrücken und Bildung zu verbreiten – nicht die Bildung, die man an Schulen oder Universitäten bekommt, sondern eine, die uns lehrt, menschlich zu sein und den Menschen in anderen zu sehen, unabhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht oder ihrer Hautfarbe. Das ist ein Antidot zur Gewalt und zum Hass.
Deshalb ist die Poesie das, was ich schreibe und dem ich mich verschrieben habe, worauf ich hoffe und woran ich glaube. Sie ist für mich die einzige Existenzgrundlage und ein Mittel zum Überleben geworden. Jetzt kann ich meinen früheren Gedanken umschreiben und sagen: Mein Zuhause ist die Poesie.
Ich bin mir nicht mehr sicher, in welcher Sprache ich schreibe – mein Belarussisch hat einige Züge des Deutschen, und natürlich stecken auch Fetzen des Belarussischen in meinem Deutsch. Aber ich mache mir nicht so viele Sorgen, dass ich ein Nomadenleben führe, denn das einzig Sichere ist die Ungewissheit. Ich weiß genau, dass ich morgen vielleicht das Land und die Sprache wechseln muss. Deshalb lerne ich nicht zu „haben“, sondern zu „sein“.
Und ich schreibe diese Zeilen jetzt so gut, wie ich mein ganzes Leben lang Gedichte geschrieben habe, damit morgen eine Person, die aus irgendeinem Grund ihre Heimat verlassen muss, nicht mit Hass oder Angst konfrontiert wird. Oder in einer sehr optimistischen Variante – damit ein Mensch sein Zuhause nicht verlassen muss.