Ulrike Draesner

Das nicht grünaugige Kind

Wir reisen durch Polen und haben eine Idee, die aus dem neuen Wort Heimat kriecht. Das Wort ist alt, heißt es, was nur halb stimmt, denn als Heimat ist es eher jung, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, zuvor hieß es heimodili und war in etwa so lustig, wie es klang: der Gutshof, das Wohnhaus, der Familienort. Heimlich und unheimlich, keineswegs ein Stück Land oder Eigentum, sondern etwas im mout, sprich Gemüt, eine psychisch-mentale Größe, Imaginäres, das man zum Leben braucht. Polnisch kraj rodzinny, Land der Familie, Land der Verwandten, „juhu“, sagt das Kind, „ich verstehe kein Wort“, dabei wollten wir nur wissen, woher unser Nach-name kommt. Das hat uns noch nie interessiert, aber hier haben wir nichts anderes zu tun. Im Archiv der Stadt Wrocław kennt man solche wie uns nicht, wir sind zu jung für das, was wir wollen, sofort bin ich stolz: sogar ich, zu jung. „Das deutsche Regi-ster ist geflutet, verschwunden, gelöscht“, sagt man, und sagt: bis 1989. Seit 1989 nimmt der Mond zu. Das Register nimmt zu wie ein Hochwasser bei Mond. Das Kind nimmt mir das Handy aus der Tasche, tippt einen Code ein, der tatsächlich der meine ist und klickt sich voran. Als das Register sich gefunden hat, läuft es rückwärts, ich klicke mit. Zunächst ist alles säuberlich getippt, Anfang des 20. Jahrhunderts ver-schwindet die Maschinenschrift, dann lösen die Tabellenlinien sich auf, immer dichte-res Gekrakel herrscht. Nur eines bleibt gleich: ständig kommen zu unserem Namen Namen hinzu, die gelöscht werden. Sie gehören zu Sprache P oder D, stehen halb auf, halb unter den Zeilen – Haken dort, Zischlaut da, schräge Flügel, weibliche Au-gen. Über den familichen Namen, nach dem wir suchen, erklärt all dies nichts, nur, dass wir ihn jetzt „familich“ nennen, wie er so über die Jahrhunderte Namen auf-saugte, sich männlich gab und dabei sein D um das P drehte und das P um das D. Wir sind nicht verlegen, wir erklären rasch: unklärbare Herkunft ist gut. Nicht jedem muss man auf die Nase binden, dass wir uns unter einer Namensdecke verstecken, die aus tiefslawischen Sümpfen stammt und nichts anderes tut, als von Morastigkeit, Zähigkeit und augengrüner Undurchdringlichkeit zu sprechen, womit selbstverständ-lich unser familich-ostsumpfiges Mischaugengrün gemeint ist, das auch nicht jedes Kind erbt.

Grenzkontrolle Berlin-Schönefeld. Der Beamte plustert die Wangen, faltet die Stirn und sagt zu meiner nichtgrünäugigen Tochter: „Wen hast du mir denn da mitge-bracht?“ „Meine Mama“, sagt sie, akzentfrei. Deutsch ist ihre Erstsprache, ihr Pass ist deutsch, also ist sie es vermutlich auch. All diese Sätze denke ich nur, ich halte mei-nen Mischmund. Bildbetrachtungen unter Kappen, Bildbetrachtungen durch Men-schen statt Maschinen soll man genießen, nicht stören. Der Mann empfiehlt, das Passbild des Kindes erneuern zu lassen. Auf dem Foto zählt es fünf Jahre. Im Au-genblick ist es neun. Unsicher greift es nach meiner Hand.

Im Wartebereich vor dem Gate trinken wir etwas. „Was hätten wir gemacht, wenn er mich nicht durchlässt?“ Nein, das fragt es nicht.

Sie fragt: „Warum glaubt er mir nicht?“

Frankfurt 2009. Wir reisen ein. Das Kind hat einen Pass aus Sri Lanka, ein Visum für Deutschland. Dafür standen wir eine Woche Schlange in Colombo, Ämter jeder Art. Das Visum wurde ohne Umstände ausgestellt, es erteilte dem Kind eine Arbeitser-laubnis für drei Jahre.

Wir leben in einer Großstadt, privilegiert, reichlich gentrifiziert. Die meisten Menschen unseres Umfeldes schreiben sich Toleranz auf die Ichfahnen, auch wenn man hier vielleicht von Fahnen nicht reden will. Die Diskriminierung, auf die wir zunehmend stoßen, ist anderer Art. Sicherheitsdiskriminierung. Das nichtgrünäugige Kind könnte muslimisch sein, ein Flüchtling, illegal hier – geraubt oder selbst Räuber*in. Ausge-sprochen wird davon nichts, alles bleibt unsichtbar, hängt als Wolke über uns.

Für Sicherheitsdiskriminierung gelten die Regeln der politischen Korrektheit nicht.

Sicherheitsdiskriminierung ist ehrlich: Sie zeigt, was wir sehen. Und was wir denken. Dort, wo wir „es“, „das“, „das Diskriminierende“, dieses „die sind anders“ nicht denken sollen und/oder von uns glauben wollen, so nicht (mehr) zu denken.

MUC, TXL, SXF, FRA: In deutschen Flughäfen dürfen Hautfarben- und Herkunftsdis-kriminierung nach außen treten, während man in anderen Lebenszusammenhängen so tut, als sehe man nichts. Obwohl jeder etwas sieht und von jedem anderen weiß, dass er etwas sieht, was derjenige, der nicht grünäugig ist, am allerdeutlichsten weiß, sieht und spürt. Einen Spiegel braucht er dafür nicht; seine Nichtgrünäugigkeit kommt ihm in der Reaktion seiner grün-, braun- oder blauäugigen Gegenüber entgegen: dort als Großfreundlichkeit, da als Maske, als Säuseln der Stimme, als die Bemühtheit des Typus „ältere Tante“, als Reaktionslosigkeit. Oder so: mittelalter Mann trägt die Toleranzfahne mit Stolz und zeigt, wie polyglott er ist, sprich: fragt das nichtgrünäu-gige Kind, das eben beim Versteckspiel „ich komme“ ruft: „Did you see my daughter‘s Schnuller?“

Worauf das Kind, fünf Jahre alt, des Englischen nicht mächtig, dank des Wor-tes ‚Schnuller‘ souverän spricht: “Ick globe, der hängt dir ummen Hals.“

Man kann sich so schön verkrampfen, wenn man die deutsche Geschichte bedenkt, man kann sich so schön spalten, wir trainieren es noch: spalten zwischen dem, was man aussprechen darf, auszusprechen wagen kann, glaubt, auszusprechen wagen zu können. Und dem, was man sieht, oder, wie es im Englischen so trefflich heißt: what you cannot help to notice – was zu sehen man nicht verhindern kann. Augenfor-men, Haar- und Hautfarben, Alter, Geschlecht, Sozialstatus und x und y. Man riecht und hört zudem. Und bleibt in einer Toleranz hängen, die zu Verlegenheit wird, weil man nicht weiß, wie man damit umgehen soll, etwas wahrzunehmen, wovon man plötzlich glaubt, es nicht wahrnehmen zu dürfen, während man weiß, dass jeder es wahrnimmt und dieses Wahrnehmen versteckt.

„Und wo kommst du eigentlich her?“

Diese Frage. Verfänglich. Obsolet. Und doch immer wieder gestellt.

Ein nichtgrünäugiger Mensch steht suchend auf der Straße. Ich spreche die Person an: auf Englisch.

Ich sollte es besser wissen. Und falle doch in diesen Automatismus. Weil ich so aufwuchs: Deutsch können nur weißhäutige Menschen? Nur die sind „wir“, nur die gehören dazu. Ich schäme mich. Regelmäßig erlebe ich mit meiner Tochter, wie schmerzlich diese „Höflich“-Strukturen sein können. Was für ein Kreislauf: Ich will je-mandem entgegenkommen, ihm helfen in seiner Ortsunkundigkeit, unterstelle ihm aber auf Grund der Hautfarbe eine umfassende Fremdheit und unterscheide mich gleich auch noch national-kulturell von ihm, obwohl ich von mir glaube, dass mir diese Art von Denken fern liegt (er dunkel, ich hell, er unwissend, ich wissend). Höfli-che Diskriminierung, als Ausdruck ein Widerspruch in sich, ist als soziale Kommuni-kation infam.

Studien dazu, ab welchem Alter Kinder Hautfarbenunterschiede wahrnehmen, kom-men zu unterschiedlichen Ergebnissen. Manche sprechen von einem ersten Auftre-ten unterschiedlicher Reaktionen im Alter von drei Monaten (ist die Person wie ich

oder anders?); andere Untersuchungen setzen erst bei Drei- bis Vierjährigen an. Die Differenzierung nach Hautfarbe ist allerdings nur eine unter vielen, die Kinder vorneh-men: sie trennen zwischen Kindern und Erwachsenen, unterscheiden innerhalb jeder dieser Gruppen zwischen Älteren und Jüngeren, nehmen Kleidung, Körperform, Haartracht und -farbe, Größe, Bewegungsablauf, Stimme und Geruch wahr. Meine dreijährige Tochter staunte die ersten weißhäutigen Kinder ihres Lebens, denen sie im Flughafen von Dakkar begegnete, eine halbe Minute mit offenen Mund an. Offen-sichtlich hatte sie bis dato gedacht, Weiß-Menschen gebe es nur in „groß“. Manches dunklere Kind wurde also auf dem Weg ins Erwachsenenleben heller, andere dunk-ler. Ein schönes, absolut stimmiges Konzept! Im Kindergarten nahm sie Herkunftsun-terschiede nicht wahr, Augenformen und Haarfarben wurden nicht zugeordnet – wa-rum auch – und wurde ihrerseits nicht in diesem Licht gesehen.

Dank des Zusammenlebens mit meiner Tochter habe ich dies ebenfalls (wie-der) gelernt. Ich vergesse diesen Unterschied zwischen uns manchmal so sehr (und viel eher als den Altersunterschied), dass ich ihn buchstäblich nicht mehr sehe. Bli-cke ich dann auf ein Foto, das uns zeigt, bin ich erstaunt.

Das Kind kommt aus der Schule. Es erzählt, dass Eisbären schwarze Haut haben. Weil Schwarz Wärme besser speichert. Die Haare des Eisbären sind hohl zur Wär-mespeicherung, das Gesamtfell weiß, zur Tarnung bei der Jagd.

Hautfarbe ist genetisch nicht sonderlich kompliziert. Innerhalb einer Population kann sie sich relativ rasch ändern. Neue Studien in Afrika zeigen, dass die Mensch-heit von Anfang an nicht monochrom, sondern bunt gewesen zu sein scheint. Schat-tierungen jeder Art. Mit entsprechenden, an Wetter- und Lichtverhältnisse angepass-ten weiteren Mutationen.

Siehe Eisbär. Mein Kind malt etwas Drachenförmiges auf schwarzem Tonpa-pier. Man sieht nichts, nur eine rote Zunge.

Ich werde aufgeklärt: Eisbärenhaut. Dann kommt das weiße Fell. Mittendarin schwimmen ein grünes und ein nichtgrünes Auge.

„Und wo kommst du eigentlich her?

Hotelterrasse Ostsee, Frühstück. Die Frau vom Nachbartisch steuert auf uns zu. Ihr Mann und die beiden fast erwachsenen Söhne schauen zu. Sie stellt sich hin-ter den Stuhl meines Kindes und fragt mich: „Sagen Sie, wo kommt die Kleine denn her?“ „Die Kleine“, elf Jahre alt, ist weder taub noch stumm noch blind. Die Dame lä-chelt. Sie meint es freundlich. Plötzlich weiß ich, woher ich den eben ausgesproche-nen Satz kenne. „Sagen Sie, wo haben Sie die denn gekauft?“. Das hörte ich früher öfters. Da war unsere Hündin noch klein.

Selbstverständlich würde die Frau, befragte man sie, sagen, dass sie nicht weißhäutige Menschen nicht für Tiere hält. Selbstverständlich würde sie mit diesem Satz nicht lügen. Selbst-verständlich (in ihrem Selbstverständnis) ist sie eine aufge-klärte, zeitgenössisch korrekte Person. Politisch korrektes Sprechen löst Probleme nicht. Politisch korrektes Sprechen ist ein erster Schritt. Mitunter aber verkommt es zu Kosmetik. Als Automatismus ist es gefährlich. Man bettet sich bequem. Man ver-meidet, was nicht opportun scheint, muss über nichts noch einmal nachdenken, sich nicht in Frage stellen.

Man ist gut.

Und dann steht eine Denkungsart neben einem selbst am Morgentisch, über die man erschrickt. Sie wirft einen Schatten, deckungsgleich mit dem eigenen. Die Frau am Ostseetisch war beleidigt, als ich nicht antwortete.

Was wäre sie gewesen, wenn ich sie gefragt hätte „Wo kommen Sie denn her?“

Ich war nicht schnell genug, konnte die Situation nicht so drehen, dass sie gut ging. Gut gehen wäre: der so sprach, sieht das Erschrecken in den Augen des Men-schen, über den er sprach. Geht es sehr gut, zerbricht die Selbst-Verständlichkeit des Fragenden. Auch er muss dann nicht mehr durch sein Leben gehen als sein ei-gener Zwerg.

Sommerferien 2013, Lenbachhaus München, eine Aufpasserin lächelt das Kind an, halb, und stellt die Eigentlichfrage.

Das Kind antwortet. Es sagt nicht Berlin. Niemand hat ihm die Eigentlich-Frage erklärt. Es versteht sie auch so.

Antwortet und weint.

Da ist die Aufpasserin erstaunt. Ich sage: „Wir kommen aus Berlin“, da wird sie wütend, ich sehe es an ihren Augen. Immer deutlicher höre ich in dem Satz „Ich habe nichts gegen Fremde“, das Echo eines stummen Trotzes, eine gefühlte und mitüber-tragene zweite „Botschaft“: „Und für sie habe ich ebenfalls nichts.“

Die Aufpasserin hat gefragt, weil sie nicht wagt, wissen zu wollen, was sie wissen will (wie kommen diese Frau und das Kind zusammen). Eine Woche lang schaut das Kind mich jeden Abend im Bett ängstlich an und fragt, was die Frau von ihm wollte.

„Ich weiß es nicht“, sage ich, und frage mich selbst, als das Kind schläft, was die Frau bewogen haben mag, diese Frage zu flüstern. Was ist ihr als Gewicht auf die Schultern, die Brust, die Füße gefallen, als sie das Kind sah mit seinem grünäugi-gen Cousin, wie sie durch die Ausstellung sprangen, miteinander sprachen, selbst-verständlich auf Deutsch?

Und/oder wollte sie etwas „wiegen“?

Amseln zwitschern, sommerliches Dämmerlicht zeichnet Streifen auf die Wand hinter dem Bett. Wie vertraut alles ist; hier schlief ich selbst, als ich noch zur Schule ging. Die alten Bäume rauschen, die Luft füllt sich mit sattem Grün.

Was heißt es, zuhause zu sein? Zuhause zu sein, in Deutschland. Wenn man da ist, einfach nur da. Und/oder wenn man davon spricht. Ist das ein Unterschied?

Und was ist das für ein Gefühl?

Als Schriftstellerin will ich daran glauben, dass wir über Sprachregelungen Gedanken verändern. Als Schriftstellerin weiß ich, als Mutter eines nichtgrünäugigen Menschen erfahre ich, dass „Nicht“-Regelungen besser als nichts sein mögen, doch bei weitem nicht ausreichen. Es kommt nicht darauf an, das, was wir wahrnehmen, nicht zu sa-gen. Es kommt darauf an, Sprechweisen zu finden, die auf einer doppelt respektvol-len Einstellung beruhen. Sie erkennt Unterschiede an, denn Respekt hat zwei Rich-tungen: er weist auf das Gegenüber und ebenso auf jenen, der ihn erbringt.

Ingrouping, outgrouping, antwortet mir ein Neurowissenschaftler, der zu Menschenaf-fen forscht. Auch unsere Gehirne werden in beträchtlichem Maß von Wahrneh-mungsmustern bestimmt, die sich willkürlicher Steuerung entziehen. So ist beispiels-weise die Verarbeitung von Sehreizen in verschiedene Areale aufgeteilt; eines be-schäftigt sich allein mit Bewegung. Bewegung löst Aufmerksamkeit aus – immer, un-ausweichlich. Der Mechanismus zählt zu den vielzähligen Spuren unseres Vorlebens als Fluchttier. Dass wir an unserem Gegenüber Geschlecht, Größe, Gesundheitszu-stand, Alter (Bedrohungs- und Reproduktionspotential) und Gruppenzugehörigkeit wahrnehmen, gehört ebenfalls zu diesen Überlebensmechanismen. Wir können nicht anders (cannot help us), als diese Informationen aufzunehmen. Überlebensstrate-gien schaffen Kategorien wie Gleichheit und Differenz, teilen in Gruppen auf nach dem Prinzip: wer gehört dazu, wer nicht. Auch das ist zutiefst menschenhaft: wir brauchen Identität und wir beziehen sie aus unseren Verhältnissen zu anderen. Es zählen alle, die da sind, viele, die fehlen (wie Ahnenkulte zeigen) und jene, die wir uns “nur“ vorstellen (wovon Geisterglauben und Religionen künden). Ingrouping be-deutet Zugehörigkeit, Geborgenheit, Schutz. Ohne Wesen, die uns glichen, wären wir verloren, auch heute noch.

Flughafen München, Februar 2014. Die Passagiere in der Warteschlange hinter uns schauen neugierig. Die Schlange wächst.

Das Kind zittert, ich drücke seine Hand.

Wir werden, stumpf und grob, rassendiskriminiert. Alle beide. Der auf Freund-lichkeit getrimmte Steward hinter dem Schalter zuckt die Schultern: „Genau.“

Ich fahre mit dem Zug von München in die Schweiz. Grenzbeamte streifen durch die Waggons. Eine einzige Person wird kontrolliert. Wir raten nicht, ob sie nichtgrünäugig ist. Ich übersetze, der Mann, der die Schweiz besuchen will, spricht Englisch. Sehr viel besser als die Grenzkontrolleure. Alle Papiere stimmen. Er muss aussteigen, die Beamten begleiten ihn.

Ich sage dem Kind: Die Überprüfung unseres Namens in Polen ergab, dass wir von Drachen abstammen. Ab jetzt fliegen wir selbst.

Tatsächlich fliegen wir eine Weile gar nicht. Ich kopiere die Kopien der Geburtsur-kunde und verteile sie auf Pässe, Rucksäcke, Handtaschen.

Heathrow, Dezember 2015. Unsere Namen, Überraschung, werden doppelt kontrol-liert. Es ist sehr voll, Schlange rechtsherum, linksherum, zickzack.

„Pässe aus den Hüllen!“, sagt der Mann der Border Force.

Vor einer Woche noch durften wir die Pässe in ihren Plastikhüllen über den Einreisetresen reichen.

Der Kontrolleur reißt das Plastik herunter. Auf Englisch heißt, was folgt, scru-tinize: mit seinen Augen dreht er ein paar Schrauben in das Gesicht meines Kindes, in meines. Selbstverständlich habe ich die Geburtsurkunde dabei. Ziemlich selbstver-ständlich ist sie auf Deutsch. Das gefällt ihm nicht. Wo mein Name stehe?

Ob der Mann lesen kann? Das Kind greift nach meiner Hand. Der Kontrolleur hat beim Herabreißen der Hülle die Geburtsurkunde zerrissen. Ich sage: „Im anderen Pass ist noch eine Kopie.“ Meinen Namen zeigen darf ich nicht, denn in seinem Schalter ist bereits England, ich bin nicht eingereist, mein Arm darf nicht einfach ein-reisen, ohne mich. Das Kind hat einen deutschen Vornamen, einen katholischen Mit-telnamen, den es aus Sri Lanka mitgebracht hat, und einen indischen Drittvornamen. Verkniffen starrt der Kontrolleur auf die deutsche Geburtsurkunde, die offensichtlich zu den deutschen Pässen passt und nichts sagt über die „eigentlich“-Frage (wie kommt Ihr den zusammen?), die ihn nichts angeht. Wir werden zur Seite geführt. Sein Chef oder wer immer die Person ist, die herbeigeholt wurde, betrachtet die Zweitkopie der Urkunde. Das Original befindet sich zuhause. Zuhause ist, denke ich, wo deine Identität nachweisbar herumliegt. So einfach ist das.

Ein Gefühl ist es auch.

Dem Zeichen ‚Hautfarbe‘ können weder Betrachter noch Betrachteter ausweichen. Gerade auch dann, wenn man das Zuhause nur mehr als Haut mit sich herumträgt. Wie einen Ballon, der am Fuß hängt, wobei man nicht weiß, wer an wen gefesselt ist, wer wen hält. Hautfarbe ist ein Inselzuhause, ein Luftzuhause, sie zieht das eine Bein in die Luft, während das andere auf dem Erdboden nach Festigkeit sucht.

Auch das ist ein Gefühl.

Zu Kitazeiten wurde uns von Kindern regelmäßig die “eigentlich“-Frage ohne „eigent-lich“ gestellt: „Warum bist du so weiß, und dein Kind ist so braun?“ Die Antwort: „Weil ich es als Baby jeden Tag in Schokolade badete“, gefiel uns am besten. Mit dem Un-terschied, den man nicht nicht wahrnehmen kann, geht mein Kind inzwischen auf ei-gene Weise um: es arbeitet an gegen die Fassade „wir sind blind“. Es will da sein, anders sein, als anders gesehen sein. Manchmal erzählt es einer Bekanntschaft in den ersten fünf Minuten: „Ich komme nicht von hier.“

Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Zeichen für Abstand von oder Nähe zu der Person ist, der das mitgeteilt wird.

Der das anvertraut wird?

Zugemutet wird: „Ich komme nicht von hier.“

Ich gehöre nicht dazu?

Zuhause, denke ich, ist das Gefühl, nicht erzählen zu müssen, aber erzählen zu dür-fen.

Zuhause, sage ich dem Kind, ist das Gefühl, erzählen zu dürfen, verbunden mit dem Recht, sich einzumischen.

Mein Kind, drei Jahre alt, steht auf dem Brett zwischen den Waschbecken. Seine nichtgrüne Haut muss jeden Abend eingecremt werden, sie ist für ein anderes Klima gemacht. Ein Nebeneffekt des Rituals auf dem Brett ist, dass das Kind seinen gan-zen Körper im Spiegel sehen kann, und mich dazu.

Eines Abends hüpft der Körper, durchlaufen von einer Aufregungswelle, schon Sekunden bevor das Kind ruft: „Mama, ich habe es gefunden.“

Etwas Schwarzes. An mir. Der Blonden, Hellhäutigen. Wie das Schwarze heißt, weiß das Kind nicht. Der Spiegel gibt ihm Recht: schwarz. Die einzige Stelle am Körper, an der wir gleichfarbig sind. Mir steigen Tränen in die Augen. Ich wusste nicht, dass das Kind nach etwas Gleichem an uns suchte. Hatte mir das Wahrneh-men so herum nicht vorgestellt.

Ich weiß doch, woher ich komme. Wohin ich gehöre. Nun, mit dem Kind an meiner Seite, scheint das nicht mehr zu gelten. Ich staune. Wenn ich sage, ich bin deutsch, glaubt man mir nicht. Wenn ich sage, das Kind ist kein Migrationsfall, glaubt man mir nicht. Ich werde behandelt als verstünde ich diese Sprache nicht, obwohl ich sie doch verstehe.

Ich mache die Deutsch-Behördenerfahrung, von der anderen Seite. „Migrati-onsfall. Füllen Sie endlich den Bogen aus.“

Mein Kind hüpft über eine auf den Boden getapte Linie. Erst nur auf dem lin-ken, dann nur auf dem rechten Bein. Einschulungstest, Schulamt Berlin Pankow,

April 2012. Migrationsbogen: Geburtsort Vater, Muttersprache Vater, Wohnort Vater, Staatsangehörigkeit Vater. Das Gleiche noch einmal für die Mutter. Dann für das Kind. Überall ticke ich das erste Kästchen an. Das erste Kästchen, versteht sich, ist „deutsch“.

(Zuhause ist, wo du das erste Kästchen antickst. Aha).

30 Sekunden, ich gebe den Bogen zurück. Die Bearbeiterin ist perplex. So schnell?

Dann ist sie empört: „Das ist ja gar kein Migrationsfall.“

Das Kind ist fertig mit Linienhüpfen.

Ich sage zu ihm: „Wir sind im Ziel.“

Es gab Scheiße-Rufe auf dem Schulhof, die mein Kind meinten; Schokoladensongs auf dem Spielplatz; Fragen; Kontrollen. Nach Dresden fahre ich nicht. Non-white heißt mein Kind nun. Ist dieser Ausdruck besser als die Formel „of Indian/Afri-can/Asian origin?“

Die geographische Formel versteht die Identität des Anderen von seinem ge-netischen (nicht unbedingt persönlichen) Ursprung her; sie schreibt etwas zu. Das Adjektiv „non-white“ verfährt spiegelnd: es streicht „weiß“ durch, grenzt aus. Non-white definiert durch ein „das bist du nicht.“ Gedacht wird von der Gruppe der „whi-tes“ aus. Non-white zieht eine Grenze. Sie heißt: Du-nicht.

Grenzkontrolle Colombo. Die Sicherheitsmänner sehen uns an. Zur Sicherheit sind sie zu dritt.

„Wen hast du uns da mitgebracht?“, fragen sie das Kind auf Singhalesisch. Das Kind versteht nichts. Seine Hand hält meine Hand fest.

„Whom did you bring along?“

Das Kind, zehn Jahre alt, schaut mich an: „My Mum.“

Nun läuft die Diskriminierung einmal andersherum.

Es tut dir gut, sage ich mir, das zu erfahren. Ich stehe in Colombo aus den Menschen heraus wie eine überdimensionierte Milchkuh. Ein Mondkalb. Ich falle auf.

Gut tut es nicht.

Wir sitzen auf einem Spielplatz, zuhause. Das Kind ist drei Jahre alt, ich bin Mitte 40. Niemand spricht mit uns. Man kennt sich; wir indes sind, so zusammen, neu.

Für die Nannykonstellation wurden die Hautfarben falsch auf uns verteilt. Die Latte-Eltern des Stadtteils sehen sich überfordert. Nur Fremde sprechen uns an, auf Englisch, was das Kind erst recht nicht versteht. Gründlich durcheinander nun, die Welt.

In Istanbul, Mai 2010, werde ich fast verprügelt. Dank mehrfacher Überprüfung unse-rer Namen im Vorfeld verläuft die Einreise unproblematisch. Sehr schnell reisen wir wieder aus. Männer, die uns auf den Straßen entgegenkommen, rufen schon von weitem „chocolate, chocolate“, rennen herbei, fassen nach dem Kind. Sie tatschen es an, wo auch immer sie es erwischen. Auf der Galatabrücke sitzen Angler. Kaum se-hen sie uns, springen einige auf, greifen einen Fisch aus dem Fangeimer, rennen uns nach. Sie versuchen, meiner Tochter den toten Fisch in die Hose zu stopfen. Ich schreie, bekomme einen Arm zu packen, werde selbst gepackt, bin hoffnungslos in der Unterzahl, das Kind brüllt, wir rennen. Die Tage bis zum Abflug verbringen wir im Hotel.

Zuhause sagt eine Berliner Bekannte, so schlimm könne es nicht gewesen sein, es hätten sich nicht alle Männer auf der Brücke an der Fischsteckerei beteiligt. Ihr Verhältnis zu „unseren türkischen Mitbürgern“ ist makellos. Ich sage, das sei voll-kommen korrekt.

Weder mein Kind noch ich sind Flüchtlinge. Mein Kind reiste vorbereitet, legal und (wenigstens äußerlich) behütet nach Deutschland ein. Ich wuchs in der Nähe der Stadt auf, in der ich geboren worden war. Und galt doch als Flüchtling dank eines bundesrepublikanischen Gesetzes von 1953, das direkte Nachfahren von Flüchtlin-gen in der Folge des 2. Weltkrieges ihrerseits zu Flüchtlingen erklärt. Das mag gro-tesk erscheinen, ist indes so grotesk nicht. Teile der Flüchtlingsidentität meines Va-ters und seiner nach der Flucht um die Welt gestreuten Familie, Mentalität und Ge-fühlsvorsicht, Ängstlichkeit und Sicherheitsdenken, haben auf mich abgefärbt.

Die Szene mit der Museumswärterin geht mir nach. Ich nehme mir vor, bei der nächsten Gelegenheit dieser Art höflich zurückfragen: „Sie möchten wissen, warum das Kind so nichtgrünäugig ist? Warum wir so unterschiedlich aussehen und doch so vertraut miteinander herumwandeln in Ihrer Welt?

Stören wir diese Welt? Wir erzählen sie gern, die Geschichte von etwas klei-nem, aber entscheidendem Schwarzen. Sie haben es auch!“

29. Dezember 2018: Das Kind, 12 Jahre alt, und ich steigen am Alexanderplatz in die relativ volle Straßenbahn. Wir bleiben stehen. Auf der Bank neben mir ist der Platz am Gang frei, am Fenster sitzt ein älterer Mann, Rucksack, graues Stoppelhaar, Trenchjacke. Mein Rucksack stört ihn. Ich reagiere nicht; zwischen dem Mann und dem Rucksack liegen mindestens 50 Zentimeter. Er spricht laut weiter. Als er etwas sagt wie „… nicht mal Deutsch verstehen“, ändert sich die Situation. Ich verbitte mir eine derartige Ausländerfeindlichkeit. Er schimpft. Der Waggon hört zu. Eine Frau, ein paar Sitze weiter, fordert ihn auf, mich in Ruhe zu lassen. Ich schiebe meine Tochter aus der verbalen Schusslinie. Ein jüngerer Mann, dem Alten schräg gegen-über, mischt sich ein. Auch er verbittet sich das rechtslastige Gerede. Unsere Fahrt dauert 12 Minuten. Der Streit dauert ebenso lange. Ein Wort gibt das andere. Der alte Mann bleibt bei seiner Position. Der Jüngere fragt ihn, ob er selbst denn eine an-dere Sprache könne. Russisch, lautet die Antwort. Bald sind wir bei der Stasi. Der Alte sagt dazu nicht ja. Er sagt auch nicht nein. Er möchte Deutschland nur für Deut-sche. Den jüngeren Mann beschimpft er als ungebildet. Mich nimmt er nur halb ernst. Weiterhin hören alle zu. Die Mehrheit der Menschen in der Straßenbahn scheint uns zu unterstützen. Als ich aussteige, bedanke ich mich bei dem jüngeren Mann. Der Alte schaut geradeaus.

Wir gehen zu Fuß weiter. „Solange das so ist, in einer Berliner Straßenbahn, bleiben wir hier.“ Ich weiß, was ich damit meine. Meine Tochter weiß es ebenfalls. Sie gibt mir die Hand.

Mai 2019, Leipzig, Hauptbahnhof, 22 Uhr. Wir gehen zum Gleis. Ein Mann neben meinem Kind sagt, ohne erkennbaren Anlass: „Hier ist deutsch, hier wird nicht auf den Boden gespuckt.“ Drei Minuten später nähert sich eine Frau meinem Kind von der Seite und bietet ihm eine Unterkunft an.

Im Zug fragt meine Tochter: „Warum haben die das gemacht?“

Ich sage ihr, dass ich es nicht weiß. Dass ich es nur vermuten kann. Ich be-nutze das Wort „gespalten“. Wir sprechen über die Vergangenheit. Über Zukünfte. Dass wir die Frage „wo kommst du her“ durch die Frage „wo kommst du hin?“ erset-zen. Dass wir das Wort „Zukunft“ nur mehr im Plural gebrauchen wollen.

Herbst 2015: Das Kind und ich haben eine Idee: wir wollen Einbürgerungskurse an-bieten.

Für jene, die schon da sind.

Allemal jene, die meinen, immer schon dagewesen zu sein, als hätten ihre Na-men niemals Flügel und Füße gehabt.

Kurse zu Blicken und blinden Flecken, weil das zusammengehört. Weißt du, was es heißt zuhause zu sein? Zuhause zu sein, in Deutschland?

Wenn man davon spricht?

Wenn man grünäugig ist. Nichtgrünäugig. Wenn man darüber nachdenkt. In Deutschland lebt, „eigentlich“.

Am Ende des Kurses, sagt das Kind, treten wir mit allen Teilnehmern vor einen Spie-gel und suchen „das Schwarze“, das uns gemeinsam ist.

Seine Namen fliegen herbei: Sehloch.

Was stimmt: Hier haben wir ein Loch.

Hier fällt Licht in uns.

Der geläufigere Name ‚Pupille‘ leitet sich vom lateinischen ‚pupilla‘ ab, dem „Püppchen“, als das man sich selbst im Auge des Gegenübers spiegelt. Bei jeder Be-gegnung. Auf schwarzem Grund.