Thomas Stangl

Die Toten von Zimmer 105

Ich muss so erzählen, als wäre das eine Geschichte, anekdotisch, im Präteritum, bis zu dem Punkt, wo die Geschichte zerbricht. Etwas bewegt sich, etwas löst sich im Inneren eines Körpers. 

 

- Lassen wir sie sterben?, fragte mit nachlässigem Tonfall der Arzt, der zwei Mal in der Woche (fast überflüssigerweise, weil die Stationsschwester sich besser auskannte und er nur tat, was sie ihm sagte) im Heim vorbeischaute. Ich weiß nicht mehr, um welche moribunde Patientin es bei dieser Besprechung im Schwesternzimmer ging, die magere Frau Vrba aus Zimmer 101 oder die vor kurzem noch fröhlich gesprächige Frau Laska aus Zimmer 112 mit ihrem unangenehm soldatisch wirkenden siebzigjährigen Sohn. Nein, antwortete der Arzt sich selbst, im gleichen Tonfall, im Hochparterre stirbt niemand. 

Er fragte sich im Spiel und antwortete sich im Spiel. 

Nur ich glaubte ihm. Ich habe ein seltsam idyllisches Bild von meiner Zeit im Hochparterre als freundlich-hilfloser Pfleger behalten; als wäre niemand gestorben oder als hätte ich gelernt, dass niemand stirbt. Ich bin umgeben von zeitlosen verwirrten Gesprächen, milden Blicken, langsamem Kreisbewegungen mit Stock oder Rollator durch den kleinen geschlossenen Raum, in dem ich mich (frei, ihn wieder und für immer zu verlassen) aufhalte. Ein Bild wie aus einem Traum, einem endlosen gemeinsam durchlebten und gemeinsam vergessenen Traum oder einem immer wiederholbaren Film, aus dem nur einige finstere Tage und Wochen, einige quälende Szenen herausfallen. Vielleicht beweisen diese vereinzelten Szenen nur, wie falsch dieses idyllische Bild ist, vielleicht wird es aber auch nur durch sie gehalten, bekommt seinen Grund und Rahmen. 

Das Bild ist wesentlich bestimmt von einem der Krankenzimmer, dem Zimmer 105. Es schien mir nämlich, jedes Zimmer hätte einen eigenen Charakter, mehrere neutrale Zimmer, einige bösartige Zimmer, vor allem Zimmer 107 (oder auf eine untergründigere Art auch das Zimmer 115, in dem eine Diplomatenwitwe der Zeit des Nationalsozialismus gedachte), und einige freundliche Zimmer, 108, 113, 116, am freundlichsten aber das Zimmer 105. Dort wohnten die vierundachtzigjährige Frau Lapinski und die neunzigjährige Frau Hönig, die auf völlig unterschiedliche Art beide sanft verrückt waren. 

 

In all diesen Monaten habe ich kaum etwas gelesen oder gar geschrieben, so als wären alle geschriebenen Sätze kraftlos und leer geworden, lieber hörte ich laute Musik, PJ Harvey, Nick Cave, Nomeansno oder Copshootcop, zu Hause auf Schallplatte, in der Arena, der Szene oder dem WUK: ein Hämmern in meinem Kopf, das mir die Gedanken ersetzt; ein Hämmern, Schreien und Stöhnen wie eine Gnade, es nimmt mir alles ab, den Ekel und die Angst, alle Verzweiflung, das Gefühl für mich selbst. Vor allem das Gefühl für mich selbst, noch nie war ich so frei davon.  

Vier oder fünf Tage jede Woche sitze ich um sechs Uhr früh im Autobus, ich habe vier oder fünf Stunden geschlafen. Ich gehöre zu den Arbeitern, zu denen ich nicht gehöre, in der Tasche habe ich den Standard und ein Buch, in dem ich nicht lese oder lese und sofort wieder vergesse, was ich lese; ich steige in die U-Bahn um und wieder in einen Autobus (wenn ich nicht die letzten ein oder zwei Kilometer zu dem Heim am Stadtrand zu Fuß gehe). Ich erinnere mich an die leeren Gänge, Rolltreppen und Bahnsteige der  

U-Bahnstation Karlsplatz an den Sonntagen, die orangenen, roten und grünen Hinweisschilder, U2, U1, U4, ein paar Leute sind vom Samstagabend übriggeblieben und bewegen sich sehr leise, ein paar Sonntagsarbeiter sitzen abwesend herum, ich erinnere mich an die leeren Bahnsteige in Hütteldorf und das Wirtshaus am Bahnhof mit dem Hubertus-Hirschen am Eingang, an die fast leeren U-Bahn-Züge, die an dem dünnen Rinnsal der Wien in seiner Betonrinne entlang brausen. Alles ist so voll Licht, dass ich keine Sprache brauche. 

 

Nelly Lapinski hatte das Bett an der Tür, Franziska Hönig (die von Frau Lapinski immer als Frau König oder die König bezeichnet wurde) das Bett am Fenster. Wenn ich eintrat, hatte Frau Lapinski, die ohne Stock oder Rollator gehen konnte, schon geduscht und versuchte sich anzuziehen. Ich traf sie meist in einem Moment der Verwirrung an, der sie selbst leicht belustigte. Es gab sehr viele Varianten, wie sie beim Versuch sich anzuziehen durcheinanderkommen konnte: Wenn sie die Strumpfhose bereits über die Beine gezogen hatte, wohin dann mit der Unterhose? Weshalb war da noch (oder wieder) ein Teil von ihrem Schlafanzug an ihrem Körper, wenn sie zur anderen Hälfte schon fertig angezogen war (aber welches der Kostüme und welche der Tageszeiten verbarg, umhüllte, enthüllte die andere, war sie beim Aufstehen oder beim Schlafengehen?) Was sollte sie mit dem Unterkleid oder dem Büstenhalter tun, wenn sie schon eine Bluse anhatte? Und weshalb hatte sich ein Handtuch oder ein Teil der Bettwäsche unter die Kleidungsstücke gemischt, während andererseits das Kleid, das sie dringend suchte, sich unter Haufen von Bettwäsche, Unterwäsche, Strümpfen und Handtüchern verbarg? Jeder ihrer Lösungsversuche führte zu neuer Verwirrung. Man nahm sie bei der Hand und löste sie langsam aus der Endlosigkeit von Kombinationen heraus, und sie begleitete mit wohlwollendem Staunen und kleinen Kommentaren diese Bemühungen, deren Erfolg ihr aber letztlich als selbstverständlich erschien. Ihr Kasten quoll über vor Kleidern, die allesamt eine Spur interessanter, eine Spur farbiger, eine Spur extravaganter waren als die aller anderen Heimbewohnerinnen. 

Ich hatte keinen Zweifel daran, dass sie schon immer ein wenig verrückt gewesen war, auf ganz leichte, schwebende Art, und mochte sie deswegen; ich hatte keinen Zweifel daran, dass sie die einzige der Patientinnen war, der die Regeln des bürgerlichen Lebens immer schon ziemlich gleichgültig und unverständlich gewesen waren. Ich erinnere mich nicht daran, dass sie jemals Besuch bekam; vielleicht hatte sie irgendwelche Neffen oder Nichten, vielleicht einen im Ausland lebenden (sozusagen davongeflogenen) Sohn. 

So wie sie Frau Hönig immer Frau König nannte, so sprach mich Nelly Lapinski konsequent als Boris an.  

 

Wie in fast allen Zimmern sprachen die beiden Patientinnen kaum miteinander, als würden sie in voneinander unabhängigen Sphären wohnen. Sie sahen die andere zwar und konnten kommentieren, was sie tat, aber nur den Schwestern und Pflegern oder ihren Angehörigen gegenüber, die Zutritt zu ihrer Sphäre hatten oder sich zu verschaffen wussten. 

- Ich glaube, die König wartet schon, Boris, sagte Frau Lapinski. 

- Ach, lassen Sie sich Zeit, sagte Frau Hönig, die uns aus ihrer Sphäre heraus interessiert zuschaute. 

Während ich im bösartigen Zimmer 107, unter den unablässigen Blicken und zeitweiligen Kommentaren von Frau Kurz, den stummen staunenden Blicken von Frau Canaris und der finsteren Abwehr von Frau Mack (Lassen Sie mich! Ich kann nicht schlucken! Was wollen Sie! Hilfe! Ich kann nicht schlucken) alles falsch machte, langsam und ungeschickt war (all diese Frauen arbeiteten zusammen, jede in ihrer Sphäre, ohne miteinander zu sprechen, ohne einander wahrzunehmen), so waren mir hier alle Gesten und Handgriffe selbstverständlich; ich war ruhig und freundlich, jeder Tag glich dem anderen, es gab keine Herausforderung. 

 

Ich wandte mich Frau Hönig zu, half ihr aus dem Nachthemd und beim Aufstehen (sie schlägt, auf eine halb elegante und halb ungeschickte Art, dabei die Beine übereinander), führte sie am Arm oder am Rollator ins Badezimmer; immer behielt sie ein kleines Goldkettchen an, auch beim Duschen. Sie duschte jeden Morgen. Faltiggelbe Haut, ein weißer Waschlappen, Flüssigseife, ein großes Handtuch. An der Hüfte eine Narbe von der Schenkelhalsbruchoperation. Die Kleider Frau Hönigs waren dezent und bürgerlich, unauffällig und wie verwischt; Röcke, Blusen (an einer fehlt ein Knopf), Strickwesten; nur zu besonderen Anlässen stand auf einem Zettel, den ihre Angehörigen an ein blaues Seidenkostüm gehängt hatten. Ich habe die Wörter „blaues Seidenkostüm“ damals notiert und etwas über eine dazugehörige Bluse mit kompliziert (also für mich unmöglich) zu schließender Schleife, ich erinnere mich nicht an das Kostüm, die Bluse und die Schleife. Ich habe in der Notiz zwei Paar Schuhe beschrieben: weiße Schuhe mit kleinen Löchern und schwarze Lackschuhe, mehr gibt es über das Aussehen dieser Schuhe nicht zu sagen. 

Ich denke an diese verwaisten Schuhe. Diese verwaisten Blusen und Kostüme, die vor fünfundzwanzig Jahren aus den Schränken geräumt und vermutlich in irgendeinen Container geschmissen wurden, sofort oder nach einer Trauerfrist. 

 

Frau Hönig ging oft zum Friseur im Erdgeschoß des Heimes. Während sie darauf wartete, dass ein Pfleger sie abholte, saß sie still da, lächelnd, das Kinn in die Hand gestützt, mit weggestrecktem kleinem Finger, was eher abwartend und scheu als künstlich vornehm wirkte. Sie ließ sich eine Dauerwelle legen; dank Dauerwelle und unauffällig-verwischten Kleidern hielt sie sich; nicht in einem Rahmen, etwas Festem, es war eher ein Gespinst, das an ihr Leben erinnern konnte, so als wäre es noch da und unveränderbar. 

Manchmal erzählte sie von ihrer Schwester, die sie durch die offene Tür draußen auf dem Korridor vor Zimmer 105 liegen sah und grüßen oder winken. Ich schaute hin und widersprach ihr nicht. Oder sie fragte mich nach diesen Tieren, was sind das denn für Tiere?, fragte ich zurück, offenbar waren es ziemlich freundliche Wesen, Katzen oder fremdere Tiere, die man streicheln könnte, wenn sie nur näherkämen und wenn Frau Hönig sich bücken oder hinhocken könnte. Sie sah den Mitpatienten Josti, einen vollkommen verwirrten pensionierten Beamten und Hobbymaler, mit seiner viel jüngeren Freundin auf dem Korridor vorbeigehen und erzählte, dass die beiden Schauspieler seien, die sie im Akademietheater gesehen habe, ich widersprach ihr nicht, warum sollte sie keine Verbindungslinien zu ihrem früheren Leben, zu dem, was sie weiterhin für ihr wirkliches Leben hielt, ziehen; warum sollte sie Leute wahrnehmen, die ihr nichts bedeuteten, und nicht Menschen, die sie erkennen konnte. 

So wie ich immerzu überlege, wer ich eigentlich bin, überlegte auch sie, wer sie eigentlich sei, aber auf logischere Art. Einmal erzählten die Nachtschwestern am Frühstückstisch, Frau Hönig habe in der Nacht geläutet und gebeten, ihr schönes Kostüm (nur für besondere Anlässe!) bereit zu legen. 

Heute heirate ich nämlich, habe sie freudig gesagt. 

Wen heiratest du denn, fragte die Nachtschwester.  

Frau Hönig musste überlegen, ich weiß es nicht, sagte sie dann ratlos. Nach einigen Minuten, erzählte die Schwester, habe Frau Hönig aber wieder geläutet: 

Jetzt weiß ich es, sagte sie.  

Ja? 

Den Herrn Hönig. 

Wir lachten, am Frühstückstisch im Schwesternzimmer sitzend, bei Kaffee und Semmeln und Zigaretten, aber in dem Lachen war etwas wie eine Leere, ein winziger Abstand zu uns selbst. 

 

Der Körper Frau Hönigs, dieser feingliedrige alte Frauenkörper, und der kleine Bewegungsraum, über den sie wahrscheinlich nie hinausdenken und hinausgehen wollte, fallen beinah in eins: ein zartes Netz und Koordinatensystem: Friseur und Theater, Familie und Bekannte, Duschgel, Kostüm für besondere Anlässe, Schweiß, Urin und der verstorbene und immer wieder zu heiratende Herr Hönig, von dem sie den Namen bekommt, den sie durch die Welt trägt. Man verspinnt sich in sein Netz, und die Fäden und die Namen scheinen fest. Sie sind fester als das Wirkliche.  

Frau Hönig bestand nicht besonders auf sich selbst, über das zarte Netz und Gespinst heraus, das sie hielt, sie sagte nichts, wenn sie Kopfschmerzen hatte oder ihr schwindelte (was immer öfter geschah, ich fing sie im Niedersinken auf, Sie sind ja ein Engel, sagte sie dann, was hilft es, wenn man ein Engel ist). Sie duschte sich täglich, aber sie begann zu riechen; ein Gestank nach Schweiß und Urin legte sich um sie, ein neues zartes Netz, in den letzten paar Wochen. Ich ignorierte das. 

Jemanden im Stürzen auffangen und sich etwas darauf einbilden; ein Fangen ohne zu halten, im Hochparterre stirbt niemand, glaubte ich als halber Engel. Ich war ein Engel, also neutral, wollte nichts, stand diesen Gesichtern, diesen Körpern, diesen Frauen mit einer Art objektiver Sympathie gegenüber. Es sollte immer so weitergehen, die Zeit konnte sich verwirren, in sich selbst drehen, verknoten. Jeder Tag konnte zu einem früheren Tag werden; die Tageszeiten konnten frei ineinander übergehen. Manchmal begann Frau Lapinski schon wieder sich auszuziehen, während ich mit Frau Hönig aus dem Badezimmer zurückkam, weil sie dachte, es wäre Abend, oder sie wunderte sich, dass das Frühstück, das sie eben gegessen hatte, noch nicht serviert worden war. 

 

An einem Samstag Ende November kam ich sehr gut gelaunt ins Heim. Ich hatte zwei Tage frei gehabt; ich musste nur noch eine Woche arbeiten, war schon dabei, eine Reise für die Zeit danach zu planen, eine Reise möglichst weit weg, wie in ein anderes Leben (das bildete ich mir damals naiverweise ein). Ich hatte mir Mexiko ausgesucht, eine riesige Stadt, die ich mir wie ein Labyrinth vorstellte, und ein entlegenes Gebirge im Norden, über das ich merkwürdige Dinge gelesen hatte. 

Es kann nichts mehr geschehen, denke ich, in dieser letzten Woche, wir sitzen im Schwesternzimmer beim Frühstückskaffee, wie schön, ich bekomme für den Frühdienst meine Lieblingszimmer zugeteilt, darunter das Zimmer 105. Es ist November, aber mir scheint, es wäre hell und sonnig, ich komme ins Zimmer, zunächst nur, um das Frühstück auszuteilen, und das Bett von Frau Hönig ist leer. Ich frage den Kollegen, der mich begleitet. Ja, Frau Hönig habe vorgestern einen Schlaganfall gehabt. Einen schweren Schlaganfall, deswegen sei sie ins Krankenhaus gebracht worden. Nicht so wie Frau W. aus Zimmer 102 (ich hatte sie gesehen, auch sie eine meiner Lieblingspatientinnen, mit schiefem Mund und unfähig aufzustehen oder zu sprechen, aber mit wachem und liebevoll leuchtendem Blick), bei der man vielleicht auch hier noch eine Verbesserung erreichen könnte. Ich gab Frau Lapinski, die sehr still und beinah abwesend war, ihr Frühstück; später half ich ihr beim Anziehen, wir sprachen kaum miteinander, nur einmal fragte sie: Wie geht es denn der Franzi? Ich weiß es nicht, sagte ich, doch mir fiel auf, dass sie diesmal nicht Frau König sagte. Ich arbeitete, der Frühdienst ging vorbei, ich aß zu Mittag, nachmittags saß ich in einer Pause beim Kaffee im Schwesternzimmer, mit drei oder vier Kollegen, darunter der Stationsschwester, als eine Frau in mittlerem Alter in der Tür erschien. Ich erkannte sie nicht, aber sie war die Schwiegertochter von Frau Hönig. 

Ich möchte nur sagen, sagte sie leise und sozusagen vorsichtig, dass die Frau Hönig heute gestorben ist. 

Die Stationsschwester umarmte sie vielleicht und weinte vielleicht auch, später, als die Angehörigen gegangen waren, oder vielleicht weinte sie nicht an diesem Tag; ich erinnere mich jedenfalls, dass sie an einem Nachmittag im Schwesternzimmer bei einem der (im Hochparterre stirbt niemand) ab und zu trotz allem unvermeidlichen Todesfälle weinte, ich kann mir vorstellen, dass es dieser war. Ich selbst weinte nicht, ich traute mich erst zu weinen, als ich allein war, zu Hause in der Badewanne gelang es mir oder traute ich mich zu weinen oder es gelang mir, so zu tun, als würde ich weinen.  

Die Schwiegertochter und der Sohn räumten den Schrank Frau Hönigs aus: die zwei Paar Schuhe, die Kleider und Kostüme, das blaue Seidenkostüm mit der Schleife (nur für besondere Anlässe). 

Frau Lapinski zog sich auf den Korridor zurück, die Tür zum Zimmer stand offen. Ich stelle mir Blicke vom Korridor ins Zimmer hinein vor, Blicke, die so vorsichtig sind wie der eine Satz, den Frau Hönigs Schwiegertochter im Türrahmen des Schwesternzimmers stehend sagte. Schauspieler aus dem Akademietheater gehen vorbei und wenden kurz den Kopf, ein älterer Herr, eine Frau mit blondgefärbten toupierten Haaren; kleine freundliche pelzige Tiere (vielleicht Katzen, die sowieso mit anderen Welten vertraut sind) winden sich auf dem Boden, wo Frau Hönigs Schwester liegt und winkt, und vielleicht ist Frau Hönig selbst dabei, balanciert zwischen den Tieren hindurch, beugt sich über ihre Schwester, schaut zurück ins Zimmer, auf den Platz, wo sie fehlt, und versucht, sich bemerkbar zu machen, aber es ist niemand mehr da, der sie bemerken kann. 

   

Am Montag oder Dienstag zog eine neue Patientin ins Zimmer 105 ein, Frau Petters, eine sehr kleine Frau, die unablässig redete. Ich verstand nur die Hälfte von dem, was sie mir erzählte, während ich ihr beim Waschen und Anziehen half, sie sprach von ihrem Sohn, von Astrologie, immer wieder von ihrem Mann, der gestorben war oder eine andere Frau hatte oder zugleich gestorben war und eine andere Frau hatte; offenbar war sie aufgeregt und versuchte, ihre Lage und das neue Leben, das sie von nun an führen musste, zu interpretieren. Wer war diese Frau, mit der sie zusammen in einem Zimmer war. Wer war eigentlich ich, der junge Mann, mit dem sie sprach. Sie fragte mich. 

Ein Zivildiener, sagte ich. 

Ein Wikinger?, fragte sie zurück (das musste ich weitererzählen). 

Und diese Frau, Nelly Lapinski, sie brauchte sie nicht zu fragen, sie konnte sie auch nicht fragen, denn Frau Petters und Frau Lapinski bewohnten wiederum jede eine eigene Sphäre, neue Sphären, weiter auseinander denn je, sie wusste auch so, wie diese Frau ins Bild passte und wie sie sie in ihr Leben einzuordnen hatte.  

Das da ist die Geliebte meines Mannes, sagte Frau Petters, es ist seine zweite Frau.  

Sie zeigte ungeniert auf Frau Lapinski, die doch nur als Bild in ihrer überarbeiteten Erinnerung existierte, an der Seite ihres toten Mannes. 

Sagen Sie es ihr nicht, sie weiß nicht, dass ich es bin. Sagen Sie ihr nichts, mir macht es ja nichts. 

Nelly schien vom Gerede Frau Petters und deren Mutmaßungen über sie nichts mitzubekommen. Sie trauerte um Frau Hönig, die jetzt für sie Franzi war. 

Ich bin die nächste, sagte sie zur Stationsschwester, sie war nicht die nächste. 

 

Jeder bewohnt seinen eigenen Bild- und Erinnerungsraum, legt Folien übereinander, tauscht Positionen aus, passt Figuren ein, es ist schon wie im Himmel oder in der Hölle, es ist der Himmel und es ist die Hölle. Niemand stirbt, denn das Spiel – die Arbeit der Betreuer, einer geht ab, ein anderer kommt für ihn, so wie die Patienten abgehen und ersetzt werden – geht immer weiter. Die Zimmer bleiben da, jedes mit seiner Nummer und seiner Identität, Frau Petters war, mit ihrem hilflosen Geplapper, eine liebe Frau, die ins Zimmer und ins Bett ihrer Vorgängerin gut hineinpasste.  

Ich spielte mit, aber nicht ganz; man ist ganz im Spiel, wenn man seinen Beruf ausübt, ich aber übte still und höflich, stets ein dummes Lächeln im Gesicht, einen fremden Beruf aus und bewahrte immer eine Reserve; ich hatte immer einen anderen Blick in Reserve; im Glauben, es gäbe für mich ein eigentliches Spiel, ein anderes Leben. Das war gut und schlecht oder sogar gut und böse (auf der Ebene des Nutzens; auf der Ebene der Moral). 

 

In meinem Kopf schreit, so nah an meinem Körper, PJ Harvey: You´re not rid of me. I´m coming up man-size. 50 Foot Queenie. Eine dünne junge Frau mit einem sehr breiten Mund und dichten Augenbrauen, die mir zu dieser Zeit näher ist als jede wirkliche Frau; die mir etwas verspricht, woran ich in der Wirklichkeit kaum glauben kann (das Leben, nein, eine Intensität über das Leben hinaus). 

Kann man so über jemanden sprechen, kann man so über jemanden schreiben, „eine dünne junge Frau mit einem sehr breiten Mund“, „sanft verrückt“, „dezent bürgerlich“, „eine kleine Frau, die unablässig redete“, kann man jemanden so ansehen, sich so an jemanden erinnern, ist es nicht etwas ganz Anderes, woran ich mich erinnern will? 

I'll make you lick my injuries, I'm gonna twist your head off, see. 

 

An meinem letzten Arbeitstag, es ist wieder ein Samstag, eine Woche nach dem Tod von Frau Hönig, kam ich ins Zimmer, um das Frühstücksgeschirr abzuräumen. Frau Petters war nicht in ihrem Bett, aber sie hatte ihre Semmel aufgegessen und den dünnen Patientenkaffee ausgetrunken; ich gehe ins Badezimmer, dort fand ich sie, in einer etwas verkrampften und ungelenken Haltung dastehend, die Hände um den Türstock gekrallt. Ich löse sie von ihrem Halt und stütze sie unter den Achseln. 

Sie kann nicht erklären, warum sie dasteht und warum sie nicht von allein wegkann. 

Langsam führte ich sie zum Bett zurück, und sie begann schon wieder zu reden und zu erzählen, doch nach drei oder vier Schritten sackte sie ganz plötzlich weg. Etwas ist im Innern ihres Körpers geschehen, ich spüre es, etwas ist verlorengegangen, eine Art von Kraft und Spannung, es ist, als wäre es ein ganz anderes Wesen, das ich jetzt im Arm halte. Sie konnte nicht mehr gehen, atmete schwer, gerade noch konnte ich verhindern, dass sie hinfiel, ich schleppte sie ins Bett und legte sie hin. Sie war noch da, aber sie konnte sich nicht mehr rühren, sie sagte etwas, aber wie aus sehr großer Entfernung; Als wäre sie verlorengegangen, im Innern ihres Körpers, und redete von einer ganz anderen Stelle aus als der, von der aus Menschen sonst reden und mit anderen Menschen umgehen. Aus ähnlicher Ferne hatte ich einmal unerwarteterweise eine Stimme aus dem Inneren des vollständig gelähmten und wie in seinem Körperpanzer erstarrten Herrn T. kommen gehört (eine Stimme, die damals eine gemeine Beschimpfung gegen einen indischen Pfleger ausstieß).  

Bleiben Sie da, gehen Sie nicht, flüsterte dagegen Frau Petters, ich komme gleich wieder, sagte ich, und holte Hilfe, Schwester Hanna, die Stationsschwester, den Arzt, ich holte Hilfe, aber ich blieb nicht da, sondern ging. Irgendwann begann Frau Petters zu kotzen, man rief die Rettung und schaffte sie in ein Krankenhaus.  

Nachmittags feierte ich Abschied, trank Sekt und war schon recht betrunken, als Frau Petters Sohn und seine Frau auftauchten, es gehe ihr sehr schlecht, sie wollten Unterlagen, die Schwester Hanna und ich nicht fanden. Ich erzählte mit einem lächerlichen Gefühl von Souveränität und Würde von den Ereignissen vom Morgen. Ich hatte nichts falsch gemacht; ich tat so, als hätte das eine Bedeutung. Ich wusste, dass Frau Petters sterben würde; wir kannten sie alle kaum, also weinte auch niemand.  

Dieser eine Moment geht mir aber nicht aus dem Kopf, nein, diese beiden Momente: ihr Wegsacken und der Satz, den sie zu mir sagte. Ich glaube, den Ablauf dieses Morgens (ich habe nichts falsch gemacht) genau gespeichert zu haben: Warum aber führe ich in diesem deutlich in meinem Kopf gespeicherten Bild Frau Petters, die nicht mehr gehen kann, zum Bett von Frau Lapinski, dem Bett näher an der Tür, lege sie dort ab und verlasse sie? Warum sehe ich sie noch in diesem Bett, als ich mit der Hilfe zurück ins Zimmer gekommen bin, dieser Hilfe, die nichts helfen kann? Warum erscheint mir das Zimmer wie verdreht? 

 

- Gehen Sie nicht, sagte sie, aber ich musste doch gehen. Nur für Sekunden, um Hilfe zu holen, aber wie endlos waren diese Sekunden. Ich kann mir, von zwei oder drei Kreislaufschwächen her, annähernd vorstellen, was Frau Petters spürte: dieses Staunen und diese Angst; dieses Alleinsein. Sobald die Hilfe da war, hatte ich mich schon entfernt, war erfolgreich geflüchtet, aber was wäre diesem Alleinsein entgegenzusetzen gewesen? Meine Hand, die ihre Hand hält; eine Form von Konzentration, die ich nur erahnen kann? 

Es gibt ein paar Sekunden, endlose Sekunden für Frau Petters. Wenn diese Sekunden noch da sind und nicht auszulöschen, die ungeheure Angst, die sie in diesen Sekunden spürte? Ich kann mir diese Angst vorstellen, in Wahrheit nicht nur von diesen zwei oder drei Kreislaufschwächen her, sondern seit jeher; sie ist das Ziel aller meiner Vorstellungen oder eher: sie ist das, was ich mit allen Sätzen, die ich schreibe, mit jedem Bier, das ich trinke, mit jedem Moment im Sonnenschein, den ich erlebe und für endlos halten möchte, wegzuschieben versuche. Sie ist das, was nicht zum Spiel gehört.  

Ich denke an den Moment, in dem im Körper von Frau Petters etwas geschah, sich löste und auflöste; alle Spannung verlorenging, all das, was einen Menschen zusammenhält und in der Welt hält. Und dass das von außen zu spüren war. Dass so etwas wirklich zu spüren ist. 

Es ist Zeit, mit dem bequemen Erzählen aufzuhören und die Perspektive umzudrehen. Die Konzentration zu suchen, die ich erahne. Ich muss Frau Lapinski sein, Frau Hönig, Frau Petters. Du hilfst mir nicht, wenn du mich niederschreibst. Du holst mich nicht zurück. Ich bin tot. Du Wikinger, du ehemals junger Mensch, hör auf, deinen Wörtern und der Spannung in deinen Wörtern, der Spannung deiner Nerven, der Spannung deiner Muskeln zu vertrauen. So wenig wie Frau Petters ihr vertrauensseliges Gerede geholfen hat, so wenig hilft dir dein vertrauensseliges Schreiben. Es braucht eine andere Spannung. Was für eine Spannung. 

I´ll make you lick my injuries. (Und weiter?) 

 

Im Hochparterre stirbt niemand. Ein Spiel, ein zeitloses Bild, ich bin umgeben von den Toten, von ihren Sätzen, ihren Bewegungen, ein Rahmen. Und die Sekunden sickern hinein, sickern hinaus, sickern hinein, sickern hinaus. Ich berühre niemanden, meine Hand greift ins Leere. Gehen Sie nicht.