Thea Mantwill

KLIRREN - Ein Song

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Vor dem kirchenfenstergroßen Fenster des Gastateliers II stehen wunderschöne Bäume, die regelmäßig dramatisch wehen und deren Blätter, von der Sonne auf die Zweige geworfen, ein Muster hinterlassen, das anzustarren mich zutiefst beruhigt. Aber die Sonne scheint fast nie und eigentlich mag ich 20 Grad und Nieselregen eh am liebsten. Als ich neulich also unberuhigt in den bewölkten Himmel über meinen Bäumen guckte, sah ich dort, wie sich zwei Vögel trafen, ein kleiner und ein großer. Ein Raubvogel und ein Lieblingsvogel. Sie flogen schnurstracks aufeinander zu und ich dachte noch, oh nein, jetzt werde ich doch noch zur Gafferin bei einem Verkehrsunfall, was ich nie werden wollte, aber dann versuchte der große Vogel schon, den kleinen Vogel zu packen, und der wehrte sich, und der große Vogel versuchte seine Krallen in den kleinen zu hauen, und es gab 1 grosze Flatterei – die sich schließlich in ein ganz normales Weiterfliegen auflöste. So als wäre nichts passiert, als hätte es nichts zu sehen gegeben.

Letzten Sommer wollte ich ein Lied schreiben, ein Lied über Albinoinsekten, und es sollte vielleicht ein bisschen für Clara sein. Auf die Idee mit den Albinoinsekten kam ich wegen einer Leiche, die ich als solche nicht erkannte. Ich lebe nämlich – standesgemäß und weil Hunde Hunde anziehen – mit einem Phobiker zusammen, und daher sind alle unsere Fenster mit Insektengittern verkleidet. Eines Tages hing in diesem wunderbar ordentlichen, weißen Raster vor unserem Küchenfenster, das die Welt draußen in gerade so erträgliche, millimeterkleine Stückchen aufteilt, etwas ganz Fragiles, das ich gleich sehr liebte und wieder aufpäppeln wollte, so wie unser Professor in der Kunstakademie das immer mit uns in seiner Klasse Gestrandeten tat: wie ein kleines Vögelchen, das aus dem Nest gefallen war und nun mit einem Löffelchen gefüttert wurde.
Mein Etwas war sehr zart, fast ephemer, und hatte Beinchen. Mehr erkannte ich in all der flirrenden Rasterei des Netzes nicht. Da ich sehr, sehr groß bin, vor allem vor diesem Netz und dafür, dass ich unverhältnismäßig viel Platz in dieser Welt brauche und unverhältnismäßig wenig von ihr weiß, googelte ich Albinoinsekten, denn ich war mir sicher, hier eines gefunden zu haben. Ich wollte wissen, was sie fressen. Doch was ich las, entzauberte alles, deswegen vergaß ich es lieber und begann, kleine Fliegenleichen zu sammeln und um das Etwas im Netz herumzudrapieren wie die Frauen, die im Bachelor America weinend über Treppengeländern hängen.

Ich informierte Clara über alles, was geschah in dieser Sache.
Leider geschah des Weiteren nichts und Clara schrieb irgendwann, dass es vielleicht schon tot sei und dass sie nun eine Botox-Spritze in den Kiefer bekam, damit sie ihre neuen Zähne nachts nicht wieder wegknirschte. Sie hatte nämlich mal fast keine Zähne mehr. Das verlieh ihr eine gewisse Autorität, daher akzeptierte ich ihren Wirklichkeitsvorschlag widerwillig und begann das ätherische Etwas, in das ich mich verliebt hatte, nun unter dem Aspekt seines eventuell bereits eingetretenen Todes zu betrachten.

Je länger ich das tat und je mehr Clara über ihre Zähne erzählte, ihre neuen tollen Zähne, desto stärker wurde das pulvrige Gefühl, das ich hatte, und umso mehr wollte ich diesen Song schreiben und aufnehmen. Denn manchmal bin ich übrigens eine Band – nur ich allein. In meinem Kopf war glänzendes, warmes Weiß, ein wunderschöner Farbton, der aus gemahlenen Zähnen entstehen würde und noch keinen Namen hatte, und der schimmernde Körper des Etwas und die Trauer um die verlorenen Beißer und das verstorbene Albinoinsekt … eine gleißend helle, wie überbelichtete Trauer, leicht und blendend, weiße Melancholie.

Vielleicht habe ich Clara vorab zu viel von dem noch nicht existierenden Song erzählt oder mir fehlte einfach ein Geräusch, jedenfalls schrieb ich ihn nie.
Ich hab mir nur lose Notizen gemacht:

Clara trauert um ihre Zähne
Meine Schwester um ihren Körper
[1]
Ich um mich

____________________________________________________________________

[1] Meine Schwester ist vergewaltigt worden und spürt seitdem ihren Körper nicht mehr.

Das Geräusch habe ich jetzt wohl gefunden, im Gastatelier II, auch wenn ich es hier in Wirklichkeit noch nie gehört habe. Es ist nämlich so: Die Fenster sind groß und die Tage hell. Dann bin ich hier gerne. Nachts kommt die Angst oder vielleicht sogar eher: die Gewissheit, dass es jetzt doch noch passiert. Jemand wird kommen, über die Feuerleiter, und dann – zack.
Immer wenn ich meine, mich an die allabendlichen Panikattacken gewöhnt zu haben, passiert etwas Neues, das alles wieder hochjazzt. Einmal zum Beispiel war tagsüber ein Handwerker da und fragte mich freundlich, ob ich es nicht uheimlich fände, so allein hier. Ich antwortete freundlich Nein und ging abends mit dem Wissen ins Bett, dass er kommen würde, um mich zu vergewaltigen. Er hatte ja aus dem Fenster die Feuerleiter sehen können, die direkt ins Schlafzimmer führt, und er war auf die Toilette gegangen, durch mein Schlafzimmer hindurch. Die folgenden Nächte hatte meine Angst sein Gesicht.
Ein andermal hat nachts draußen jemand mit einem harten Gegenstand auf ein Auto eingedroschen und es klang exakt so, wie ich mir den Soundteppich eines Mannes, der die Feuerleiter hinaufsteigt und mein Fenster aufbricht, vorstelle.
Und von den Geräuschen im Haus will ich gar nicht anfangen.

Ich bin natürlich nicht ganz allein hier, ab und an kommt der Phobiker, mit dem ich normalerweise zusammenzuwohnen pflege, und liegt wie immer wach und unruhig neben mir, während ich hervorragend schlafe, all den Schlaf der vergangenen Nächte und ängstlichen Abende an mich raffe und über mich stülpe. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen.
Schließlich meinte er, als wir Insektengitter an den kleinen Fenstern angebracht hatten, damit er weiterhin kommen kann, und ich ihm von all den Geräuschen erzählte, die mir den Schlaf und bald auch den Verstand raubten, dass ich ja einfach Gläser vor alle Fenster stellen könnte.
Dann gäbe es nur noch ein Geräusch, vor dem ich mich fürchten müsste: Klirren. Das Klirren zerspringenden Glases.

Ratet, wovon ich nun träume … aber immerhin träume ich, was bedeutet, ich schlafe.

Doch ich habe Fantasie: Neulich träumte ich einen Albtraum, der ganz ohne Klirren auskam. Ich träumte, dass „der Freund“ wiederkam, um mich zu holen. Ich hatte nämlich mal einen „Freund“, vor bereits halb so langer Zeit, wie ich alt bin. Doch obwohl alles, was hinter mir liegt, auf dem Zeitstrahl und in meinem Bewusstsein immer weiter von mir wegrückt, bleibt der „Freund“ und das, was passiert ist, immer gleich nah. Ich entkomme ihm nie, und davon träume ich.

Übrigens habe ich schon mal einen Text darüber geschrieben, so viel Fantasie, wie ich gerade behauptet habe, ist mir dann wohl doch nicht vergönnt. In diesem Text behauptete ich ebenfalls etwas halb Unwahres, nämlich, dass man eine Sache einfach annehmen müsse, um sie loslassen zu können, und ich schrieb es so, als wüsste ich das aus eigener Erfahrung. Einfach.
Der Phobiker kritisierte den Text, weil ich ihn dazu zwang, und sagte, er sei schwammig und ich hätte gar nicht geschrieben, was konkret passiert ist.

Das kann ich natürlich, gar kein Problem: Nichts ist passiert.
Der „Freund“ (großer Vogel) war mein (kleiner Vogel) einziger Freund, deswegen sprach ich nur mit ihm. Das empfahl er mir auch. Er hatte einen Dolch, den er mir regelmäßig zeigte, und manchmal erzählte er mir von den Stimmen in seinem Kopf, die ihm befahlen, mir etwas anzutun. Diesen Text kritisierte ich auch, in meinem Kopf: Was soll das denn sein, etwas? Außerdem fürchtete ich mich nicht so sehr davor, geschlagen zu werden, solange es niemand sah, weil ich schon wusste, wie das ist. Der „Freund“ gab mir den „freund“lichen Ratschlag, vor ihm wegzulaufen, was ich sehr dumm fand, denn warum sollte ich auf einem offenen Feld vor jemandem weglaufen, der viel schneller ist als ich.
Später stellte sich heraus, dass der „Freund“ ein zersprungenes Glas war, das nun aus Scherben bestand, die nichts voneinander wussten. Anscheinend vergessen die Scherben, dass sie mal Teil eines Glases waren, wenn es zerbrochen ist.

Später, sehr viel später, einigten der Phobiker und ich uns darauf, dass es nett von ihm war, mich zu warnen. Ein richtiggehend heller Moment.
Was ich weniger nett fand, war, dass die anderen mich nicht gewarnt hatten. Die anderen, die wussten, dass er schon mal eine Frau fast umgebracht hatte, eine Frau mit langen braunen Haaren, so wie ich.

Ich kann mich nicht an viel erinnern aus dieser Zeit, aber an eines ganz genau: wie ich einmal am Bahnhof stand und wartete. Da war ich 17. Ich wartete und starrte geradeaus, in die staubigen Fenster eines vor sich hin dröhnenden Regionalexpresses, es war Sommer, und im Geradeausschauen sah ich in das Gesicht einer Frau. Es war klar, interessant, schwer zu lesen, sie hatte schöne lange Haare. Die würde ich gern kennenlernen, dachte ich, da fuhr der Zug schon los.
Die Frau blieb, wo sie war, und blickte zurück, mir direkt in die Augen.
Der Zug wurde immer schneller und kurz bevor er endete, begriff ich, dass das mein Gesicht war. Ich stand davor so ratlos wie meine Schwester vor ihrem Körper, und als der Zug weg war, war ich verschwunden.

Natürlich kann es nicht bleiben, wie es ist, und so weiter, mit den Ängsten und der Klirrerei, weswegen ich mir nun einen Therapieplatz ergaunert habe, indem ich Sätze sagte wie „Wenn meine Mutter krank war, wollte ich, dass sie lebt, und wenn sie gesund war, dass sie stirbt“ und darauf bestand, von einem Mann therapiert zu werden, da ich solche ja fürchte. Das kam sehr gut an und so trete ich nun meine vierte Therapie an, vielleicht schaffe ich es diesmal, über den „Freund“ zu sprechen, oder was auch immer mein Problem ist. An das ich selbst nicht ganz glaube oder glauben will. Weil.

Weil I
Wie kann ich mich eigentlich erdreisten, mich so anzustellen, obwohl ja gar nichts passiert ist. Ich habe nie widersprochen oder Nein gesagt, und ich bin unversehrt aus dem Haus des „Freundes“ herausspaziert, schließlich. Bis zu diesem Schließlich hat es etwas länger gedauert, als mir lieb war, weil ich mich fürchtete, und ich muss zwischendurch mal ein Neinhaftes Geräusch gemacht haben (vielleicht habe ich geklirrt), weil die Schwester, die normalerweise von mir gerettet wurde, mich aus seinem Zimmer zog und unter ihrem Berg von Kuscheltieren versteckte, während er wütete und drohte und erpresste und schließlich, mit einem meiner Schuhe, damit ich nicht gehen kann, verschwand. Da ich nicht wusste, wohin da draußen, konnte ich tatsächlich nicht gehen. An diese Nacht erinnere ich mich nicht mehr. Sie liegt in völliger Schwärze und Stille. Aber ich habe seitdem eine tiefe Abneigung gegen Kuscheltiere.
Trotzdem: Nichts ist passiert. Im Vergleich zu all den anderen, zu meiner Schwester, meinen Freundinnen, von denen im Schnitt alle zwei Jahre eine Opfer eines Übergriffs, meist einer Vergewaltigung, wird. Und Opfer aller Konsequenzen. Ganz im Gegensatz zu den Tätern, die ich überall wiedertreffe: auf Vernissagen, in der Kirche meiner Heimatstadt, im Büro. Der letzte ist am schlimmsten, er grinst mich immer fröhlich an. Es muss ein lustiges Leben sein, als Täter eines „Kavaliersdelikts“ pfeifend durch die Gänge zu spazieren, aber auf Amüsement habe ich mich nie besonders verstanden, ich bin zu melancholisch. Und all die anderen Frauen, die ich nicht kenne, in anderen Städten, Ländern, Häusern, Familien, Kriegen. Die Frauen, die der „Freund“ nach mir traf, ich hoffe, es waren wenigstens nicht viele. Ich fühle mich allen gegenüber schuldig. Mir ist nichts passiert, und ich habe nichts unternommen. Wie kann ich es wagen, diesen Platz besetzen zu wollen?

Weil II
Die Frau in der Spiegelung des Zugfensters, die Ich war und keine Frau, sondern ein Mädchen. Vielleicht auch eine sehr junge Frau, die –, als sie später an diesem Tag wieder aus dem Bahnhof trat, in den Arkaden davor eine Gestalt torkeln sah, betrunken, bösartig, auf Autopilot, die sie nur zu gut kannte – sich umdrehte und rannte. Den hinteren Weg nach Hause, einen Umweg, so weit wie möglich um den Bahnhof herum, dass sie ihn bloß nicht treffen musste, er ihr nur nicht folgte, der Erwachsene, der ihr „Freund“ war. Wenn sie ihn aus der Ferne sah, wusste sie sehr wohl, was er war und was sie tun musste, doch wenn er ihr nah war, wusste sie nicht, wie, und vergaß alles.
Ich hätte sie gern kennengelernt. Das will ich immer noch. Ich will alles wissen, alles, was ich verpasst habe, als ich halb nicht da war und halb schon.
Ich lese Françoise Sagan, ich lese Anais Nïn, Jovana Reisinger und Duygu Ağal, bin begeistert und wütend. Ich will wissen, wer ich gewesen wäre, will herausfinden, was ich erlebt hätte. Welchen Erfahrungen, Verliebtheiten, Dummheiten ich nachgegangen wäre, welchen Sex und welche Gefühle ich gehabt hätte, wenn ich meine Zeit, die Zeit danach, nicht mit Taubheit, Essstörungen und Neurosen verbracht hätte. Meine Freundinnen nannten mich „die Nonne“ und waren froh, dass ich ungefährlich und tröstend neben ihnen auf dem Bordstein saß wie meine eigene Großmutter (die in dieser Zeit übrigens ein wesentlich regeres Liebesleben hatte als ich, sie hielt Händchen mit Herrn Stock, währenddessen sie lebhaft konversierten), wenn sie dort zusammenbrachen wegen irgendeines Peter Pan und ich sie innerlich nebeneinander aufreihte wie weinende Hühner auf der Stange. Ich verachtete und beneidete sie. Niemals wäre ich so dumm wie sie und würde allein zu einem halbfremden Typen gehen, ihn auf irgendwelchen Parkdecks oder sonstwo treffen, jemandem meine Adresse sagen, niemals wäre ich so dumm, irgendetwas zu tun. Und so verging die Zeit.
Manchmal habe ich Angst, dass ich nicht schreiben kann, weil ich so viele Sachen nicht weiß. Sind es überhaupt so viele? Das weiß ich auch nicht. Kann ich 70 werden, wenn ich nie richtig 17 war? Will ich 70 werden? Ist das heutzutage nicht antivernünftig? Ich fürchte mich vor der Leerstelle, die entstand, als ich mich damals am Bahnhof zurückgelassen habe. Aber ich fürchte mich ständig … ich übertreibe. Siehe: Weil I.
Ich habe alle Zähne im Maul und eine schöne Leiche am Fenster, wer sagt, dass mir irgendetwas fehlt.

Die Vögel fliegen immer weiter, ich beobachte das genau. Nicht eine Feder ist gefallen, als der große Vogel den kleinen zu reißen versuchte. Vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet und sie hielten nur ein Pläuschchen oder waren sich über die Himmelsverkehrsordnung nicht einig.

Bald sind meine Tage hier im Gastatelier II gezählt (dramatisch, ne) und ich ziehe zurück in meine kleine Wohnung mit den kleinen Fenstern und dem Raster davor, mit dem Phobiker und all meinen Büchern über die Welt und alles, was es zu erleben gibt, darin, und dann kann ich wieder schlafen.
Bald beginnt die Therapie. Ich klammere mich an etwas, und ich weiß nicht, ob es Hoffnung auf eine neue oder Angst um die alte Welt ist. Vielleicht erinnere ich mich einfach nicht mehr daran, mal eine andere Welt gekannt zu haben.

Noch glaube ich, dass ich die Unbekannte im Zugfenster eines Tages kennenlerne. Ich will wissen, wie es ist, sie gewesen zu sein, und wahrscheinlich wird es schmerzhaft, das Glas, das meine Hände zerschneidet, die Nacht, in der ich immer ein bisschen bin, das Klirren, auf das ich warte, erst spüren und dann loslassen zu müssen.
Das werd ich aber. Ich brauch die Hände frei. Warum neue Zähne verschmähen, wenn die alten nichts mehr taugen.

Ich muss es sein, das Klirren.
Und das ist der Song.
(Es geht um Freiheit
(diesmal wirklich))