Tex Rubinowitz
Zeit der Übersprungshandlungen
1.
Wenn uns etwas überfordert, etwa eine Situation, die wir nicht einschätzen können, eine Bedrohung, Stress, Zombies (sollen wir uns beißen lassen, um Teil ihrer Gesellschaft zu werden und dadurch eine Sorge weniger zu haben, oder lieber weglaufen?), kommt es zu so genannten Übersprungshandlungen (vor der Entscheidung, ob ich mich beißen lassen oder weglaufen soll, trink ich erstmal ein schönes Bierchen oder masturbiere oder kauf mir Unmengen an Klopapier). Das ist wie eine Prokrastination der Angst, das löst erstmal gar nichts, aber durch die Verschiebung der gewohnten linearen Abläufe der Rinnsale unserer Leben entsteht eine neue Sicht auf die Dinge, Ereignisse, Bedrohungen, eine momentane Auslagerung von allem, was wir sind, von dem Ort, wo wir sind, und der Frage, wer das da neben mir sein könnte, ein Fischotter oder ein Mensch? Man wird klarer, offener, sieht besser aus einem anderen Blickwinkel, andere Türen führen zu wieder anderen Türen.
Man könnte sagen, wir leisten es uns, in unsicheren Zeiten zu leben, man kann aber auch sagen, wir können sicher in dieser Unsicherheit sein, weil wir nicht wissen, was morgen ist, wo und wer wir morgen sind, aber IRGENDWAS wird ja sein, auch der Tod und das Nichts sind sicher, und Fischotter sowieso, also kann man gleich alles, was man macht, als Übersprungshandlung anlegen, jeden Tag.
Meine zwei Übersprungshandlungen heute waren, 20 Kilometer zu laufen auf der Donauinsel und danach in die Donau zu springen und noch ein bisschen zu schwimmen, das ist nun nichts Besonderes, das mache ich oft, dabei gerne Müll vom Wegesrand sammelnd, das nennt sich Plogging, kommt aus Schweden, ein Kofferwort aus plocka (aufheben, pflücken) und Jogging, und da hab ich nicht nur einen anderen Plogger gesehen und angesprochen, man fand eine gemeinsame, gekeuchte Sprache, sondern zusätzlich auch noch ein Wort erfunden, den Ploggerneid, den Wunsch also, schneller als der andere zu sein, um ihm den Müll wegzuschnappen. Gleichzeitig war ich entsetzt von den Biberschäden. So viele Bäume waren angenagt! Es scheint ein „gutes“ Biberjahr zu werden, so dass ich mir vornehme, beim nächsten Lauf Maschendraht mitzunehmen, um den Bäumen Manschetten umzulegen, gegen den Biberverbiss. Soll der andere den Müll sammeln, ich gönn ihn ihm, aus Ploggerneid wird Ploggergenerosität, ich laufe jetzt mit einer Rolle Maschendraht.
2.
Heute ist irgendein Wochentag, da bin ich mir sicher. Ist es schon eine Übersprungshandlung, einfach den Kalender zu ignorieren, wenn einem die Uhrzeit egal ist oder was man anhat, ob man gewaschen und gekämmt ist, einfach zu behaupten, ab jetzt ist jeden Tag Sonntag, dieser verdammte, zähe Sonntag, der Tag, an dem nie was weitergeht, man still steht, die Leute ihre Autos waschen und Rasen mähen und Formel 1 schauen, das schiere Grauen. Ich habe nie den Groll gegen Montage verstanden, der Montag ist der übelst beleumundete und besungene Tag der Woche. „Immer wieder sonntags kommt die Erinnerung“, wie Cindy & Bert sangen, ich will gar nicht hören, was immer wieder sonntags ist. Zu wissen, dass es dieses Lied gibt, reicht schon, ich reime mir den Inhalt einfach so zusammen, dass Bert sonntags die Erinnerung an einen geregelten Wochenablauf überkommt, eine Struktur in seinem Leben, dass Cindy ihn daran erinnert, wie er während der Woche schuftet und klagt und sich doch immer aufs Wochenende freut, wie er sich aber bereits am Freitag dermaßen abschießt, dass der Samstag nicht mal stattfindet und er sonntags waschlappig in den sprichwörtlichen Seilen hängt und sich wünscht, die geregelte Woche finge wieder an; der Montag ist sein Lieblingstag, da kann er sich schon wieder aufs kommende Wochenende, auf die Struktur freuen, an die er sich klammert, um sie am Freitag zu zertrümmern usw. usw.
Das gibts jetzt nicht mehr, die Viren haben unsere Kalender und Strukturen und unsere Disziplin zerstört. Und jetzt haben sie uns auch noch den Songcontest genommen, das starrste, flamboyanteste Fernsehmöbel, den heiligen Tag irgendwann im Mai seit 65 Jahren, er wird nicht stattfinden, es wird keinen Trost geben, wir sind verlassen, wir wurden verlassen, wir werden verlassen worden sein, an diesem einen monströs aufgeblasenen Tag im Mai, ein Tag wie eine Seifenblase, der uns alle durch eine Seifenblase verbindet, auch die, die den Tag verachten, die, die behaupten, beim Songcontest ginge es in erster Linie um Musik, die schillernde Seifenblase ist bereits geplatzt, bevor sie ihre Behauptung aufgestellt haben, vielleicht weil wir die Seife jetzt für etwas anderes benötigen. Ich glaube, Cindy & Bert waren auch mal beim Songcontest, das ist mir egal, ich werde das nicht googeln, das wäre selbst als Übersprungshandlung vertane Energie.
3.
In Zeiten wie diesen, in denen wir gezwungen sind, unser Dasein im abgeschlossenen Warteraum des Lebens zubringen, wird das Große klein und das Kleine bekommt eine neue Bedeutung, man muss nur aufpassen, dass wir dem Kleinen nicht zu viel Bedeutung übertragen, denn wenn sich vielleicht alles mal wieder normalisiert hat, hat man das Kleine vielleicht zu groß gemacht, ein Zahnstocher regiert die Welt, und Donald Trump ist nun der Seebarsch, der er schon immer war, Trump hat im Moment keine Bedeutung, unsere ganze Energie, in der er sich bisher zu spiegeln gewohnt war, ist nun fokussiert auf etwas anderes.
Einen Virus.
Oder auf eben das, was wir auf der Reise in unserem Exil und in unserer Isolation entdecken, was sehen wir dort?
Da ist ein Knopf, den wir noch gar nicht gesehen haben, der uns noch nie aufgefallen ist, oh, ein Knopf! Was passiert, wenn wir ihn drücken, fliegt uns alles um die Ohren? Wollen wir riskieren, ihn zu drücken, wir drücken ihn, wir trauen uns, wir haben nichts zu verlieren. Was passiert? Ein Lied beginnt, das Lied besingt einen Knopf, den man drücken soll, um alles auszulöschen, ungeschehen zu machen, was wir angerichtet haben, die ganze Scheiße, in der wir bis über beide Ohren stecken.
Und das ist doch schon mal ein Anfang, wenn nichts mehr geht, den Knopf zu drücken, den wir immer übersehen haben.
4.
Es ist leicht, den derzeitigen Zustand unserer bedrohten Gesellschaften als Phasenübergang zu bezeichnen, das ist ein Beruhigungswort, und es stimmt nicht ganz, denn wir wissen ja nicht, in welche Phase alles führen soll. Momentan sind wir in der Dekonstruktion unseres Alltags, um aus dem, was jetzt entsteht, etwas zu rekonstruieren, an das wir uns nur noch vage erinnern, was wir einmal waren oder wenigstens sein wollten. Was wir haben, ist eine flüssige Illusion, von der jeder hofft, sie möge bald zu irgendetwas gerinnen und brauchbar fest werden, während man gleichzeitig Angst hat, es könnte nie so schön werden, wie es sowieso niemals war. Man sehnt sich nach etwas, was man, als man es hatte, nie geschätzt hat, weil man es nicht mal gesehen hatte. Jetzt mit der Distanz wird alles so einfach, man liest jetzt überall, was die Leute vorhaben, wenn das jetzt vorbei ist, und es sind ganz banale Wünsche, nett sein, Leute treffen, ein Bier mit Freunden oder auch Fremden, sogar Feinden, zu denen man nett ist, denen man auch zuhört, alle hören allen zu, das Einfachste wird als Geschenk begriffen. Vermutlich wird dieser Zustand der Erfüllung nicht lang anhalten, aber das ist egal jetzt, in dieser suppigen Illusion, in der wir treiben und uns an nichts sonst festhalten können. Wir wissen sogar, wie das Bierglas aussehen muss in dem imaginären Gasthaus, jeder hat eben sein Lieblingshohlmaß, die Sicherheit, die man befüllen kann. In Kneipen unserer Geisterstädte.
5.
Ich hab kürzlich eine Formulierung aufgeschnappt, eine englische: Irgendetwas ist ein „White Knuckle Ride“. Man muss nicht nachschlagen, man weiß oder ahnt, was das sein könnte, ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn ich der Erfinder dieser Formulierung gewesen wäre, irgendwer muss sie ja mal geprägt haben, wer, lässt sich nicht mehr herausfinden, ein „White Knuckle Ride“, das ist so ein Synonym für eine anstrengende, verbissene, gehetzte Fahrt, bei der die Knöchel der Hand, die das Lenkrad umklammert, ganz weiß werden; und seit Jahren trage ich eine ganz ähnlich klingende Formulierung, den „Five Knuckle Shuffle“, mit mir herum, als Begriff für Masturbieren also, primär für das männliche, und da sind sie eben das Paar, die zwei Formulierungen, die darauf warten, zusammengefügt und ergänzt zu werden mit weiteren Knöchelbegriffen, es gibt nur keine, komischerweise hat man offenbar nur eine Hand am Lenkrad, sonst würde es ja Ten Knuckles heißen. Offenbar soll neben der Angestrengtheit auch eine Lässigkeit vermittelt werden, man kann also den Ride auch mit dem Shuffle kombinieren, Rasen und Masturbieren, Gefahr und Sex, Bedrohung und Erlösung, auch schöne Paare. Aber aus Antagonisten kann man keine Kollektive machen, sie bleiben immer zu zweit.
Das Virus und ich. Fragt sich, wer fährt, und wer auf dem Beifahrersitz sitzt.
6.
Diese momentane Isolation fühlt sich so seltsam an wie eine neue Geschmacksrichtung, weil man sie bisher nicht kannte, außer man war mal in Haft oder hatte einen Liegegips. Die Bewertung des Moments kommt in Wellen, das Unbehagen des Nichteinschätzenkönnens teilen aber viele, was wiederum tröstlich ist, weil ja das Ende offenbleibt, das ist wie Luft anhalten, nicht mehr atmen können. Wir brennen, aber unter Wasser, wir sind Unterwasserfackeln.
Man verliert in diesem Transitraum auch das Zeitgefühl, man ist wach und munter zugleich, alles ist superhell und doch stockdunkel, und man fragt sich, was man für eine Funktion im Kalender hat, wenn der Kalender funktionslos geworden ist, man vermisst nichts, weil man nicht mal weiß, was man alles vermissen könnte, man vermisst nicht mal das Ausgehen, sondern nur die Möglichkeiten, etwa ausgehen zu können, und weil man nicht ausgeht, vermisst man nicht einmal sein Aussehen. Hedonismus ist jetzt eine Fackel unter Wasser, man verspricht, dass man zukünftig auch mit weniger Sauerstoff auskommen wird.
7.
Wie lang liegt das zurück, dass man Dinge geplant hat, hat planen können? So lange, dass man sich jetzt sogar danach sehnt, Pläne zu machen, die auch schief gehen können, nach der Energie und der Lust daran, dann eben einfach neue Pläne zu machen, die alten Pläne in den Altplancontainer zu werfen, ist ok, dass etwas schief gehen kann, ist leichter hinzunehmen, als gar keine Pläne mehr machen zu können, nichts von einem Morgen zu wissen, von einer besseren oder meinetwegen anderen Zukunft, sich überhaupt an eine Zukunft zu erinnern, zurück in die Zukunft gehen zu können, wie in dem einen Film, den alle kennen, nicht zurück in die abgelegte Vergangenheit reisen zu können, die ja sowieso irreversibel ist, sondern in das, was wir uns mal als Zukunft ausgemalt haben, egal wie, jede Dystopie hatte dann doch immer noch einen Notausgang, weil jede Dystopie ausgedacht war, und nun befinden wir uns in diesem Geisterraum und haben keine Zukunft mehr, weil sich das niemand ausgedacht hat, das wäre dann ja die Hoffnung gewesen: War nur ein Witz, das Ganze, ok, jetzt aber langsam mal wieder zurück zur sichtbaren Tagesordnung, das ganze Lebenszeug, das immer so weitergeht, auch nicht lustig, immer noch mplizierter, aber eben linear, vorhersehbar, aber davon sind wir jetzt abgeschnitten, weil uns die Zukunft fehlt, die Erinnerung an eine Zukunft.
8.
Alles wird unvorstellbar laut sein, grell, groß, schnell, was dann kommt; der Hunger wird so groß sein, und auch die, die so abgeklärt tun, nun mal schön die Kirche im Dorf lassen, werden lächeln, ja, schreit nur, tanzt, jubelt, weint alle vor Glück, aber vergesst trotzdem nicht, was war, was sein könnte, wie anders es hätte ausgehen können, was woanders schief gelaufen ist und schief laufen wird, deshalb vergesst bitte nicht, immer nach links und rechts zu schauen, wenn ihr über die Straße geht, lebt im Moment, aber lebt auch für den Moment, tut etwas für diesen Moment, baut eine neue Kathedrale des neuen Bewusstseins, seid ruhig pathetisch, aber vergesst nicht die Einsamkeit, aus der ihr entlassen wurdet, denkt immer daran, dass ihr auf Kaution hier draußen seid, Liebe bekommt eine neue Bedeutung, Einsamkeit kennt man jetzt in einer anderen Farbe. Wenn Liebe alles war, was wir hatten, warum brauchten wir dann dauernd Ablenkungen, warum mussten wir immer alles veralbern, immerzu lachen und andere zum Lachen bringen? Die Einsamkeit weiß, wo sich die Liebe versteckt hat, Dankbarkeit kennt viele Geräusche, das lauteste ist der Schlag deines Herzens.
9.
Was nicht ausbleiben wird in Zeiten der Isolation, ist eine Zunahme an psychosomatischen Defekten. Wenn man zu viel Zeit mit sich selbst hat, reibt sich die Psychosomatik die Hände, das ist ihre Chance, mal irgendwo zuzubeißen, und Psychosomatik ist ja auch eine Art von Übersprungshandlung, der Umweg und die Ablenkung von etwas Großem, das so groß ist, was da vor einem steht, aber das man dennoch nicht sieht, also lagern wir erstmal alles aus, mit einem Tic, mit einer juckenden, nässenden oder trockenen Stelle irgendwo am Körper, man findet einen Knoten in einem Schamhaar, wer oder was hat den da reingefummelt? Bin das eigentlich noch ich, der mich da im Spiegel anschaut, oder ist das nur eine periodische Knotenkonfiguration? Für wen wasche ich meine Hände, für wen trage ich eine Maske, für mich oder für die Gesellschaft, wenn ich ja noch nicht mal sicher sein kann, ob ich überhaupt Teil dieser Gesellschaft bin? Und wenn nicht dieser, vielleicht einer anderen? Einer mit seltsamen Riten und Gebräuchen und Gebrechen, die juckende Stelle, vielleicht ist die ja nur ein Zeichen dafür, dass ich noch lebe, und die nässende Stelle ist eigentlich eine trockene? Der ziehende Schmerz im Oberarm ist eine Botschaft, ich muss nur lernen, sie zu lesen. Ich zeig dir meine Wunden, zeig du mir deine, wir lesen sie uns gegenseitig vor. Ich wasche meine Hände im Wasser deiner Toilette, ich wasche meine Hände in der Schönheit deiner Tränen, und immer, wenn ich dich lächeln sehe, denke ich, ich ertrinke im Nil. Komm in meinen Garten, hier ist Platz für uns drei, dich und mich und den Mann aus dem Spiegel.
10.
Geoffrey Ingram ist der Typ, der alles irgendwie schafft, er ist der, der immer rechtzeitig zuhause ist, wenn es regnet, Geoffrey hat den besten Anzug an, und der war auch noch unverschämt billig, er sieht gut aus und muss nicht viel dafür investieren. Geoffrey steht auf der Gästeliste, obwohl das Konzert schon lange ausverkauft ist, keine Ahnung, wie der das immer macht, Geoffrey Ingram, alle bewundern ihn, er ist aber kein Nassauer, es passiert ihm einfach, vielleicht ist er smart, aber berechnend ist er nicht, vielleicht kennt er mehr Regeln als wir, Tricks, während wir uns im pessimistischen Gestrüpp der Möglichkeiten und Zweifel verheddern und uns blutig kratzen, steht er auf der geraden Straße und wartet auf uns, aber er verachtet uns nicht, weil wir den Weg nicht gesehen haben, er denkt, irgendwann werden wir auch draufkommen, wie der Trick geht, er hat ja auch an sich nichts gegen Umwege, er denkt, auf dem Umweg lernen die anderen das, was ihm an Instinkten von irgendwem irgendwann mal mitgegeben wurde, er hatte einfach nur Glück, und er hat die Geduld des Optimisten und nicht die Ungeduld der Paranoiden, trotzdem hat er nicht das Lachen des Siegers, das wäre ihm zu billig, er reicht uns die Hand, komm, ich helf dir da raus, du kannst nichts dafür, irgendwann reichst du mir auch die Hand, und dann ziehst du mich aus meiner Misslichkeit raus. Geoffrey Ingram ist der Mann der Stunde, und sein Anzug ist virenresistent, und er zeigt uns, wie man in dem Anzug auch noch gut aussieht. Er lehrt uns, heil aus der Sache rauszukommen.
11.
Als ich aufwachte, versuchte ich einen Traum in den noch nicht ganz wachen und noch irgendwie verdrehten Zustand herüberzuretten, aber es war nichts da, ich wusste einen Moment weder wo, noch wer ich war, der frühe Abend warf ein schwaches Restlicht in mein Zimmer, unterstützt vom tückischen Zwielicht meiner wenigen Erinnerungen an den Flug und dem erschöpften Desinteresse daran, woher ich kam, was hinter mir lag, und der Neugier auf das Kommende, und als sich alles um mich herum langsam materialisiert hatte, das Zimmer mit den wenigen bescheidenen Möbeln, einem ausgetretenen Läufer, einem Kühlschrank der Marke Bauknecht, auf dem Nachttischchen lag ein schwarzes Buch mit einem Kreuz, vermutlich die Bibel, war ich dennoch nicht sicher, ob das wirklich ich war, der hier lag, denn die Kleider, die säuberlich zusammengefaltet auf einem niedrigen Schemel lagen, waren die einer Frau. Eine blassgrüne Bluse und ein hellgrauer Faltenrock, und am Boden darunter standen hochhackige Schuhe, weiß mit roten Punkten. Ich stand auf, meine Unterhose hatte ich noch an, zumindest das, das war noch der Teil von mir, den ich kannte und der mir vertraut war.
Ich war in Seoul, in Korea, wo sie es geschafft hatten, die Viren zu bannen, und ich war beauftragt worden, den Impfstoff nach Europa zu bringen. Sie hatten mir eine Kühltasche mitgegeben, verschraubbare Petrischalen für die Kulturen, eine Handvoll Won, die koreanische Währung, und eine Verfügung, von allen Staatsoberhäuptern Europas unterzeichnet, ich sei offiziell als Kurier der Antikörper unterwegs.
Ich stand auf und ging, nein, taumelte schlafbetäubt ins Bad, und als ich sah, was mir dort der Spiegel präsentierte, so muss man das wohl sagen, entfuhr mir vor Schreck ein kleiner Schrei, gerade so laut, dass es für mich als akustisches Ventil der Fassungslosigkeit war, denn ich hatte ja keine Zeugen, denen ich theatralisch etwas hätte vormachen müssen, dass der Schrei in Dezenz italienisch war, kam nicht von mir, sondern war offenbar ebenfalls gesteuert aus irgendwelchen inneren Schächten, von wo aus die Seuche für uns begann: „Maledetta primavera“, verdammter Frühling, bezeichnenderweise so kurz vor Ostern, ein Seufzer der Resignation, Motto „Bitte nicht das auch noch“, das bekannte Lied, gesungen von einer Mexikanerin namens Yuri, die heißt wie eine Japanerin, aber so tut, als sei sie Italienerin, das Lied passte zu mir, zu meinem inneren Zustand der Indifferenz, aber was mich offenbar nicht abbildet, ist das, was ich im Spiegel sah.
Mein Gesicht war nicht das eines Menschen, sondern nichts anderes als eine große Schraube, die in einem Gewinde steckte, der wohl mal mein Hals war, das Gewinde wiederum ging über in eine große Drüse, oder wie man sich eine Drüse vorstellt, so ein rotes, nässendes und pulsierendes Etwas, ein Klumpen, der auf zwei Stricknadeln steckte, zumindest hatte ich, wer auch immer ich noch war oder sein sollte, noch meine Unterhose an, die blau weiß gestreift war.
Es klopfte. Eine Frauenstimme fragte etwas auf Koreanisch, vermutlich der Zimmerservice, ob ich etwas bräuchte, ob sie das Zimmer machen, Ordnung schaffen sollte? Das einzige, was hier unordentlich war, war ich selbst, aber wie sollte ich ihr das verständlich machen? Konnte ich überhaupt sprechen, kann eine Schraube Töne von sich geben, ich versuchte das Lied zu singen, das eben noch in mir war, „Maledetta Primavera“, sah dabei im Spiegel weder Mund noch sonst etwas, was einem Gesicht ähnelte, aber ich gab Töne von mir, kann also kommunizieren, aber an Mimik war da augenscheinlich nichts vorhanden, nichts mehr, vielleicht auch gut so, konnte man mich wenigstens nicht mehr „lesen“.
Ich ging zur Tür, öffnete sie mit einer Art Wurmfortsatz, der aus meinem Rumpf ragte, im Gang stand das natürlich maskierte Zimmermädchen mit seinem Servicewagen, auf dem aber nicht die üblichen Putzsachen, Shampoofläschchen, Handtücher und Klorollen, sondern lauter Bibeln lagen. Mein Aussehen irritierte sie offenbar nicht, denn sie deutete mit dem Kopf und einer fragenden Mimik auf ihre Bücher, ob ich eine ihrer heiligen Schriften brauche? Ich war so perplex, dass ich nur ein Anio rausbrachte, das koreanische Nein, ein paar Worte hatte ich mir im Flugzeug angeeignet. Die Frau zuckte nur mit den Schultern, sagte etwas, was ich nicht verstand, und schob ihr Wägelchen zur nächsten Tür. Wenn ich besseres Koreanisch gekonnt hätte, hätte ich sie gefragt, ob sie glaubte, dass ich die Bibel in meinem Zimmer ausgelesen hätte und eine frische bräuchte, oder was das alles sollte, aber wollte das eine Drüse mit einem Schraubenkopf wissen, hatte die nicht eher andere Sorgen? Was, wenn ich tatsächlich eine frische Bibel gebraucht hätte, wie hätte sie sie mir gegeben, mit welchem Gesichtsausdruck? Die Maske, die ich nicht trug, war mein Schweigen. Aber das spielte auch keine Rolle mehr, es würde sich ja nichts an mir und meinem Zustand ändern. Ich überlegte, was ich tun sollte, mir die Frauenkleider anziehen und so auf die Straße gehen, passten die mir denn überhaupt? Würden die Leute auf der Straße genauso unbeteiligt reagieren wie das Bibelmädchen von eben? Oder sollte ich mich nochmal ins Bett legen, versuchen einzuschlafen, vielleicht war das ja auch alles nur ein Traum, und wenn ich aufwachte, war nichts?
Schlaf als Problemlöser. Ich öffnete das Fenster, mein Zimmer befand sich im 19. Stock. Vielleicht sollte ich ja springen? Empfand ich Schmerz, war das dann nicht eine Meldung wert? Drüse mit Schraubenkopf nimmt sich das Leben, Ostern in Seoul, er nannte sich Tex Rubinowitz. Da war doch Schwung drin, eine Nachricht, die vielleicht für 15 Minuten Aufmerksamkeit hätte generieren können, ich hätte meine 15 Minuten Ruhm gehabt, von denen Andy Warhol einst sprach, vielleicht aber auch nur für 15 Personen, die überhaupt davon Kenntnis nehmen würden. Oder sollte ich mich lieber betrinken, mich mit meinem Zustand durch Alkohol arrangieren, ihn begießen, so als eine Art Neustart, der beginnt eben bereits hier und nicht wie geplant in Europa, vielleicht wollte mir das mein Zustand sogar abnehmen; ich sollte den Leuten in Europa ein Fax schicken, werde nicht zurückkommen, habs mir anders überlegt, andere Pläne, neues Glück, viel Glück mit euren Kurven und Verläufen. Jetzt bekam ich Panik, so viele Fragen und noch mehr zu treffende Entscheidungen, kann mir denn keiner helfen? Wie komme ich hier raus? Durch die Tür oder durchs Fenster? Weil, fiel mir ein, wie sollte ich mich denn überhaupt betrinken, wenn ich nicht mal einen Mund hatte? Also die Option entfiel schon mal.
Plötzlich machte sich jemand an der Tür zu schaffen, ich sah (womit eigentlich?), dass etwas darunter hindurchgeschoben wurde, ein Fax, interessant, eben noch daran gedacht, schon kommt eins, und dieses kam ausgerechnet aus Europa, ja, warum auch nicht. Die Europäer schrieben, es täte ihnen leid, mich soweit geschickt zu haben, aber sie hätten jetzt ihre eigenen Antikörper entwickelt, ganz einfach aus dem 3D-Drucker, die koreanischen hätten sowieso nicht „gegriffen“. Sie wünschten mir noch alles Gute im weiteren Leben sowie frohe und erholsame Osterfeiertage. Ich musste innerlich lächeln, nicht nur, weil sie einer Drüse mit Schraubenkopf etwas Erholsames wünschten, sondern weil mir die Europäer nun mit ihrem Fax eine Entscheidung abgenommen hatten, musste ich sie nicht enttäuschen und mit leeren Händen zurückzukommen. Ich öffnete den Kühlschrank, um zu sehen, was es denn zu trinken gäbe, was ich ja gar nicht zu trinken bräuchte, wie auch, ohne Mund. Im Kühlschrank lag nichts weiter als ein menschlicher Kopf, und es war meiner, er murmelte: „Frohe Ostern und ein gutes, virenfreies Jahr“
Ich zog mir die Frauenkleider an, sie passten wie angegossen, ging zum Fenster, öffnete es und sprang.