Susanne Gregor
Kleine Leute
Ich bin ein kleiner Mensch, aber ich kenne viele große Worte, zum Beispiel adäquat, prätentiös oder obsolet. Außerdem bin ich wirklich gut darin, Gesichtsausdrücke zu verstehen. Besonders die meiner Mutter. Wenn sie die Erdbeeren betrachtet, die es hier das ganze Jahr zu kaufen gibt, und ihre Stirn Falten wirft, ihre Augen groß werden. Erdbeeren das ganze Jahr? Es ist ein Merkmal dieses Landes, sich den Gesetzen der Natur nicht zu beugen, sondern sich über sie hinwegzusetzen. Dieses neue Land scheint uns riesig, auch wenn es auf dem Globus so klein ist, dass man kaum mit dem Finger darauf zeigen kann, nicht einmal mit dem Fingernagel, ihr könnt es mir glauben. Aber dieses Land kann Dinge klarmachen, wie Erdbeeren im Winter, als sei es die normalste Sache der Welt. Ich sehe meiner Mutter zu, wie sie die in Plastik eingepackten Früchte dreht und wendet, skeptisch an ihnen riecht. Sie überfliegt das Etikett, das sie doch nicht versteht, sieht den Preis, legt die Packung wieder zurück ins Regal, schüttelt den Kopf, so leicht, dass nur ich es bemerke, während ihr Blick nachdenklich über das bunte Angebot des Supermarktes schweift. Ich denke, sie findet es irgendwie nicht adäquat.
Wir sind kleine Leute, und das ist unser Vorteil. Man erwartet nicht viel von uns. Jedes deutsche Wort, das meinen Mund verlässt, ist eine Überraschung. Unsere Nachbarn heben freudig die Augenbrauen, reichen mir ein Buch. Wenn du so weitermachst, kannst du das eines Tages sogar lesen. Thomas Mann. Mann kann ich schon verstehen. Man kann mich verstehen. Ich kann den Mann verstehen, als er seine Frau auslacht. Was soll das Kind mit Thomas Mann? Nur weil es „Der Zauberberg“ heißt, ist es kein Kinderbuch. Sein Lachen ist tief und kehlig wie das Lachen eines großen, starken Mannes, dabei ist er klein und schmächtig. Die Haut der Frau wird rot, aber nicht vor Scham, sondern vor Wut, das kenne ich schon von den Erwachsenen, wenn sie wütend werden und ihre Münder verschlossen bleiben, dann wechseln ihre Wangen die Farbe. Sie drückt mir das Buch an die Brust, schließt die Tür hinter sich, und ich bleibe noch eine Weile stehen, fühle den Fußabstreifer unter meinen dünnen Sohlen, betrachte die Wohnungstür mit dem seltsamen Kranz darauf, warte, dass dahinter ein Streit ausbricht, aber aus der Wohnung dringt nichts als Stille, eine bedrohliche, angespannte Stille, die gleich überzugehen droht wie Mutters Milchreis, der den ganzen Herd ruiniert hat. Ich drehe mich langsam um und steige die Treppe hinab, drücke das dicke Buch an mich und denke, dass meine Schritte vielleicht zu laut sind für dieses Wohnhaus, dessen Stille so allumfassend ist, dass sie meine Mutter manchmal verrückt macht. Weil man diese Lautlosigkeit nicht verstehen kann, sie lässt sich nicht übersetzen. Ich finde keine Worte dafür, sagt Mutter.
Meine Mutter ist eine kleine Mutter, und das ist ein Vorteil. Sie versteht nicht, was meine Lehrerin in mein Mitteilungsheft schreibt, was unter meinen Hausübungen mit Rotstift geschrieben steht. Was ist das, sagt sie und hält mir das Heft unter die Nase, den Finger auf der geschwungenen Schrift meiner Lehrerin, und ich sage, was mir gerade einfällt, weil sie es ohnehin nicht überprüfen kann. Die Freiheit in meiner kleinen Welt ist grenzenlos. Ich gehe voraus, meine Mutter folgt mir und ich übersetze, frei, nach Laune, Schilder, Aufschriften, Angebote. Ich höre dem Beamten zu, dem Handwerker, dem Arzt, dem Apotheker, während Mutter daneben steht, sich auf meine Worte verlässt. Ich übersetze langsam, und sie nickt, überlegt, fragt nach, berät sich mit mir, während in der Apotheke die Schlange hinter uns immer länger wird und die Leute ungeduldig von einem Fuß auf den anderen steigen, untereinander Blicke wechseln, die man nicht übersetzen muss und die meine Mutter im Rücken spürt, auch ohne sich umzudrehen, und die sie immer kleiner und noch kleiner machen, bis sie so klein ist, dass ihr nichts anderes übrigbleibt, als sich zu ergeben. Was meinst du, fragt sie schließlich, und ich treffe eine Entscheidung. Es sind schließlich nur Tabletten, kleine bunte Pillen, die wie Süßigkeiten aussehen, wenn man sie aus der Verpackung drückt und sie davonhüpfen, auf den Teppich fallen, in seinem Muster verloren gehen.
Thomas Mann ist ein Erfinder. Er erfindet Worte, wie Schmalspurbahn, Sommerüberzieher und Kesselschmiede, die in meinem Wörterbuch nicht vorkommen. Nicht einmal Klara, die in der Schule neben mir sitzt und das Buch ein paar Mal verwirrt hin und her wendet, versteht, was sie bedeuten. Weiß nicht, sagt sie, noch nie gehört, als ich sie nach den Worten frage, die ich mit Bleistift unterstrichen habe, ganz leicht, damit ich das Buch der Nachbarin später sauber zurückgeben kann. Klara findet, ich muss mir das nicht antun. Sie lädt mich zu sich nach Hause ein, eine Einladung, die das Gesicht meiner Mutter in Falten legt. Ich muss pünktlich um sechs Uhr zu Hause sein, sagt sie, also lasse ich die große Uhr über den Bücherregalen in Klaras Wohnzimmer nicht aus dem Blick, während wir auf dem Flatscreen Nintendo Switch spielen. Ihr Vater, ein blonder Mann mit vorstehenden Zähnen und einer dicken Brille, bringt uns Apfelsaft und macht uns Chicken Nuggets, während er unablässig ein Buch in der einen Hand hält, aufgeschlagen, in das sein Blick sich immer wieder bohrt, als wären wir zwei nur ein Hintergrundgräusch zur Realität, die sich zwischen den Seiten abspielt. Als es Zeit ist, heimzugehen, und er mich über die Treppe zur Haustür begleitet, ergreife ich die Chance. Was ist eine Kesselschmiede, frage ich ihn, bevor er die Tür hinter mir schließt, und er hält verdutzt inne. Du stellst Fragen, sagt er und drückt seine Brille tiefer in sein Gesicht hinein. Dann sehe ich meine Mutter die Straße hinuntereilen, ihre Augen vor Wut ganz schmal, und lasse schnell die Tür hinter mir zufallen. Ich bin fünfzehn Minuten zu spät.
Deutsch ist eine kleine Sprache. Sie passt in ein kleines Wörterbuch, das ich immer mit mir trage und das ich sogar in meine Hosentasche stecken kann, auch wenn es dann ein Stück herausschaut. Sie besteht im Kern aus einfachen, kleinen Worten, die sich gern als große Worte verkleiden, um Fremden Angst einzujagen. Ich sehe meiner Mutter zu, wie sie zurückschreckt vor den langen Worten auf den Anzeigetafeln, den Reklamen, den Verpackungen und den Briefen, die sich auf unserer Anrichte stapeln. Manchmal zeigt Mutter mit dem Finger darauf und lacht. Bahnsteigübergang. Haftpflichtversicherung. Marillentopfenknödel. Sie denkt, dass Lachen das Gegenteil von Angst ist, aber die Falte zwischen ihren Brauen mag sich dabei nicht entspannen. Die Worte sind zu groß, sagt sie und hält ihren Zeigefinger an die Lippen, sie passen nicht in meinen Mund. Und es stimmt, dass ihr Mund ein kleiner ist und leicht in den Mundwinkeln einreißt, wenn sie nur unvorsichtig in den Apfel beißt.
Dinge, die mir Angst machen:
- wenn Mutter von einem Fremden angesprochen wird und nichts versteht. Wenn sie den Fremden dabei lächelnd ansieht und ihr Blick zwischen seinen Augen und Lippen hin und her wechselt. Es ist, als tauche sie unter Wasser, wo kein Laut zu ihr durchdringt und die Flut sie verschluckt, sie weit weg von mir reißt. Ich kann sie nicht finden, der Fremde kann sie nicht finden, niemand weiß, wo sie ist, also schreite ich ein. Ich nehme ihre Hand, ich übersetze, und da kommt sie wieder zurück, an die Luft, nickt, ohne mich anzusehen.
- wenn wir nicht angesprochen werden. Manche Menschen sehen schlecht, sagt Mutter. Wenn die anderen Mütter am Spielplatz miteinander sprechen, aber meine Mutter alleine auf der Bank bleibt. Sie haben mich bloß nicht gesehen, sagt sie später. Sowas kommt vor.
- wenn ich direkt angesprochen werde, weil man annimmt, dass Mutter nicht Deutsch spricht, was die Wahrheit ist. Sag deiner Mutter, wir schließen, meint die Frau im Supermarkt, und meine Mutter nimmt meine Hand, zieht mich mit einem festen Ruck zurück, an sich heran, weg von der großen Frau mit den langen Leopardenmuster-Nägeln. Ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst habe: vor dem strengen, festen Griff meiner Mutter oder vor den Krallen der katzenhaften Supermarktfrau.
- so zu werden wie Mutter. Im lautlosen Meer unterzugehen, aus der Welt zu verschwinden. Vor dem Spiegel betaste ich meine Nase, die genau die gleiche Form hat wie die meiner Mutter. Da sind sie, mitten in meinem Gesicht, zwei Löcher ins Nichts.
Aber Angst ist keine Option, sagt Mutter. Mehrmals am Tag drückt sie meinen Rücken durch, wenn ich die Schultern fallen lasse, ohne es zu merken. Steh gerade, sagt sie, was machst du dich so klein? Niemand mag kleine Leute. Mutter duldet keine Tränen. Wenn ich Heimweh habe, hält sie mit beiden Händen mein Gesicht, hebt es zu sich hoch, sodass ich ihr direkt in die Augen sehen muss, und fragt, was genau vermisst du. Aber es ist keine Frage, es ist ein Vorwurf, eine Ermahnung, eine Falle. Ich verstehe und schlucke meine Tränen, sie laufen mir im Hals hinunter in den Magen, dort ist Weinen erlaubt. Aber etwas zu vermissen ist keine Option. Meinen Vater zu vermissen ist verboten. Über Vater wird nicht gesprochen. Mutters Augen bleiben immer trocken wie eine Wüstenlandschaft. Aber dass sie keine Angst hat, stimmt nicht.
Dinge, vor denen Mutter sich fürchtet:
- vor dem Dackel der Nachbarn unter uns, der schwanzwedelnd auf sie zuläuft, wenn sie einander im Flur begegnen. Mutter springt zur Seite, aber der Dackel hält das für ein Spiel, sagt der Nachbar, verstehen Sie, er will nur spielen. Das Gebell des Hundes, so klein er auch sein mag, hallt im Hausflur wider und Mutter tut so, als würden nicht kleine Explosionen in ihren Ohren hochgehen. Früher, im alten Land, hat ein Hund sie ins Bein gebissen, denn dort leben Hunde auf der Straße und sie beißen wenn sie wollen, wen sie wollen, wann sie wollen.
- vor den Ausschlägen auf ihren Händen, gegen die keine Salbe und keine Tabletten helfen. Die Ärzte sagen, sie soll Wasser meiden, und sie lässt mich übersetzen, dass sie einen anderen Ratschlag braucht. Eine stärkere Salbe, Tabletten. Den ganzen Tag kratzt sie sich zwi-schen den Fingern, kratzt sich ins Blut, trägt Pflaster, Salben, Handschuhe.
- so zu werden wie ich, die manchmal ein Wort unserer Sprache vergisst. Dann zwickt sie mich so lange in den Oberarm, bis ich mich erinnere. Unsere Sprache ist eine Insel, die man nicht verlassen darf.
Aber es ist ein Trugschluss, zu glauben, wir seien die Einzigen, die Angst haben; auch die Menschen, die immer schon hier gewohnt haben, hier geboren sind und hiesige Namen tragen, haben Angst. Sie befürchten, dass man ihnen ihr Land wegnimmt, das ist verständlich, denn wohin sollten sie dann gehen? Also gestalten sie Plakate, von denen sie ihre Angst laut ausrufen, große Fotos, auf denen Männer in schicken Anzügen große Versprechungen machen. Sie wollen sich das nicht mehr länger gefallen lassen, dass Leute in ihr Land kommen und es besiedeln. Sie versprechen, das Volk zu schützen und uns, kleine Leute, nach Hause zurückzuschicken. Sie sprechen überall darüber, im Fernsehen, in der Zeitung, im Internet und auch im Gasthaus an der Ecke, wo sie essen und trinken und sich ärgern, und man darf sich nich täuschen lassen, wenn sie mal auflachen, denn es gehört zur Empörung und geht so: Der Mund bleibt gerade, die Augen ernst. So lachen sie und nicken einander zu und wischen sich die Lippen mit Servietten ab und schieben ihre leeren Teller von sich.
Ihre Angst ist eine, die Wurzeln schlägt, die von den Wänden hallt und die Luft verändert. Einmal werde ich krank, bleibe eine Woche lang im Bett und huste und huste und der Arzt verschreibt mir etwas, aber es hilft nicht, ich huste weiter, eine zweite, eine dritte Woche und Mutter weiß keinen Rat. Sie merkt nicht, was in der Luft liegt, kann die Plakate nicht lesen, die ich ihr nicht übersetze. Und selbst wenn ich es tun würde, es würde sie nicht kümmern. Sowas nehmen wir nicht persönlich, würde sie sagen und meinen Rücken durchdrücken.
Mutter spült ab, jeden Tag außer Sonntag, zwischen 16 und 23 Uhr. Es ist ein Fakt, dass man in diesem Land nicht Geschirr spülen kann, die Menschen haben Maschinen dafür und dennoch sucht jedes Lokal eine Küchenhilfe. Ich habe den Zettel im Fenster des Gasthauses bemerkt und für Mutter übersetzt, und dann hat sie mich hineingeschoben, wo ein Mann mit breiten Händen und großem, schwammigem Gesicht fragte, ob Mutter Deutsch spricht, und uns gleich wieder nach Hause schickte. Ein paar Tage später nahm er mich aber beiseite, als ich zufällig vorbeikam, mit meiner Schultasche auf dem Rücken, er zog mich an meiner Jacke zu sich und sagte, deine Mutter kann morgen anfangen, 16 Uhr. Sie kratzt die Essensreste vom Geschirr, schichtet die Teller in die Maschine und holt sie dann wieder heraus, während sie noch heiß sind, denn die nächsten Stapel warten schon. Dazwischen wäscht sie mit der Hand ab und poliert Gläser, verstaut alles in die dafür vorgesehenen Regale und Schubladen, die Schüsseln zu den Schüsseln, die Teller zu den Tellern, die Tassen zu den Tassen. Wenn sie nach Hause kommt, schlafe ich schon und wenn ich von der Schule komme, ist sie gerade im Begriff, aufzubrechen.
Manchmal nehme ich einen Zehneuroschein aus Mutters Handtasche und kaufe mir davon eine Kinokarte. Ich sehe mir den Film an, über den in der Schule alle sprechen, und dann schleiche ich mich noch unbemerkt in drei weitere Filme, die gar nicht für Kinder sind. In einem fliegen Kriegsflugzeuge über zerstörte Städte, im anderen schießen zwei Männer alle anderen Männer tot und im dritten weint eine Frau scheinbar grundlos, aber ununterbrochen, so viel, dass ich mitten im Film aufstehe und den Saal verlasse. Zu Hause schlage ich ein paar Worte nach, die ich nicht verstanden habe und die mir nützlich vorkommen: evident, gravierend, legitim, prätentiös, trivial. Sie kommen mir so groß vor, größer als jedes andere Wort, das ich bis jetzt kannte.
Meine Lehrerin findet, ich sei ein Genie. Obwohl meine Aufsätze voller Korrekturen sind, in jedem zweiten Wort ist ein Buchstabe zu viel oder zu wenig. Das liegt daran, dass Worte aus komplizierten Abfolgen von Buchstaben bestehen. Meine Lehrerin meint, dass Rechtschreibung wichtig sei, sie lässt mich Worte endlos aufschreiben, bis sich mein Kopf dreht. Eine sehr triviale Übung, die ich persönlich für obsolet halte, aber der Lehrerin scheint sie große Freude zu bereiten.
Wenn nach dem Unterricht alle Kinder zur Ausspeisung drängen, gehe ich nach Hause. An den meisten Tagen hat Mutter Fischsuppe gekocht, in einem großen Topf. Schaut man zu früh hinein, schwimmen noch Köpfe und andere unsagbare Dinge an der Oberfläche, die Mutter später abschöpft, bevor sie den Topf auf den Tisch stellt. An anderen Tagen gibt es Bohnensuppe, Linsensuppe oder Kürbissuppe. Was es bei uns nie gibt, sind Kartoffeln, denn die sind laut Mutter überbewertet. Außerdem, sagt sie, wer mag schon Kartoffeln, niemand mag Kartoffeln. Sie schmecken nach nichts. Wenn ich ihr beim Kochen zusehe, ist es fast, als arbeiten ihre Hände unabhängig von ihrem Körper. Sie kann still stehen, während ihre Hände über das Schneidebrett und den Topf flitzen. Dabei zählt sie endlos auf, was man im Leben niemals machen sollte, davon hat sie in ihrem Kopf immer lange Listen parat.
Dinge, die man niemals machen sollte:
- Tiere domestizieren. Warum etwas Wildes zähmen und versuchen, es menschlich zu machen? Hunden Jäckchen stricken und für Katzen Bäume aus Fell basteln? Für die eigene Freude, zur Belustigung, gegen die Einsamkeit? Was sie meint, ist, dass es dafür keinen Grund gibt, der legitim wäre.
- bei Liedern mitsingen, deren Text man nicht versteht. Sprich nie Worte aus, wenn du nicht weißt, was sie bedeuten.
- Du musst nicht dauernd deine Meinung sagen. Es gehört sich nicht, mit deinem Wissen und deinen Ansichten hausieren zu gehen. Wenn du klug bist, bleibst du still. Du bist der Herr deines Schweigens, aber der Sklave deiner Worte, sagt sie. Sie will wohl nicht, dass man mich für prätentiös hält.
- barfuß herumgehen. Mutter trägt immer, immer, immer Hausschuhe und deshalb ist sie in der Wohnung noch nie auf etwas getreten, das sie an der Fußsohle verletzt hätte.
- ein Opfer sein. Selbst als mich ein Kind in der Schule mit dem Fuß tritt und sich ein großer blauer Fleck auf meiner Wade bildet, sind Tränen nicht erlaubt. Hat er etwa wegen dir geweint, fragt sie, und wir kennen beide die Antwort. Also tust du ihm auch nicht den Gefallen, sagt sie und drückt meinen Rücken durch.
Wenn wir Mutters Schwester besuchen, breche ich all diese Regeln. Sie wohnt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in einer schönen Wohnung mit Balkon auf dem Land, wo es nichts gibt außer kilometerweite Maisfelder, durch die Hasen und Rehe hüpfen. Unsere Eltern bedeuten uns mit einer Handbewegung, wir sollten draußen spielen, und das müssten sie gar nicht, wir sind schon aus der Tür. Ich fahre auf dem Fahrrad-Gepäckträger meines Cousins mit und meine Cousine fährt voraus bis zum Waldrand, wo wir die Fahrräder ins Gras schmeißen und eine Raupe finden, die wir mit einem Glas einfangen. Wir nennen sie Helga, schließlich ist sie von hier, aber jetzt haben wir sie in der Hand, wir kleinen Leute werden sie schon domestizieren. Ich habe gehört, dass man Raupen sogar trainieren kann, erzähle ich und gehe dabei mit meinem Wissen hausieren, sie haben kein ganzes Gehirn, nur ein halbes, aber das genügt, um ihnen ein paar Kleinigkeiten beizubringen. Wir liegen im Gras und singen laut mit zur Musik, die mein Cousin mit seinem I-Phone spielt, auch wenn wir die Worte nicht verstehen, während wir Helga in ihrem Glas beobachten und die Sonne langsam hinter den Maisfeldbergen untergeht.
Wenn wir zurückkommen, essen wir Fleisch in kleinen Teigtaschen und tunken sie in Soße. Die Finger darf man dabei weder abschlecken noch am Tischtuch abwischen oder in den Ärmel. Man kann sie nur unbeholfen in die Luft halten, während die Soße an ihnen runterrinnt. Helga weilt in der Zwischenzeit hinten im Bücherregal, wo sie bestimmt nicht gefunden wird. Wir holen sie erst später wieder heraus, wenn wir eigentlich schon schlafen sollen, lassen sie sogar aus ihrem Glas, verfolgen ihren Fluchtversuch über den Teppich mit einer Taschenlampe. Als ich zur Toilette muss und am Wohnzimmer vorbeigehe, sehe ich die Erwachsenen mit Weingläsern in der Hand auf dem Sofa sitzen. Mit trübem Blick starren sie auf den Boden und sagen nichts, sind Herren des Schweigens. Später hören wir sie durch die dünne Wand Musik spielen, deren Worte sie verstehen, da ist mitsingen erlaubt.
Unsere Sprache ist eine kleine Sprache, deren Worte sich frei bewegen. Sie tanzen beschwingt durch die Sätze und stellen sich mal hier- mal dorthin. Sie sind ein Sammelsurium von Zufälligkeiten. Mutter sagt, dass unsere Sprache früher mal eine große und bedeutende Sprache war. Wenn das stimmt, dann muss sie runtergefallen und in tausend Teile zerbrochen sein, bevor man sie einfach wieder zusammenfegte und in eine Plastiktasche stopfte. Man kann beliebige Kunstwerke daraus basteln, sie dann wieder wegräumen, und wenn dabei einmal was kaputtgeht, ist es nie so schlimm wie im Deutschen, wo Worte in Reih und Glied und der richtigen Abfolge stehen müssen, mit durchgedrücktem Rücken. Unsere Worte lassen die Schultern hängen, tanzen zur Musik und drehen sich im Kreis, um sich selbst, umeinander, um ein Gefühl, das ins Blut schießt, in den Kopf steigt und die Menschen verwirren kann wie Alkohol. Es gibt bestimmte geheimnisvolle Kombinationen aus Worten, die magisch sind und Kinder nicht benutzen dürfen. Erwachsene können damit den Tod beschwören oder das Leben verlängern oder Gott milde stimmen oder ihn ausschimpfen, und das ist wirklich, aber wirklich nichts, das man in die deutsche Sprache übersetzen sollte.
In Wirklichkeit sind es Sprachen, die die Welt beherrschen, aber nicht alle. Wie viel Welt eine Sprache beherrscht, kann man daran messen, wie der Buchstabe „r“ ausgesprochen wird:
- In meiner alten Sprache gibt es ein „r“, aber es spielt keine große Rolle, es wird weder betont noch weggelassen, es ist ein durchschnittlicher Buchstabe, der nicht viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Wahrheit ist, Sprachen wie der meinen ist das „r“ recht egal, was ein fataler Fehler ist.
- Dann gibt es Sprachen, die gern viel Macht hätten und es mit dem „r“ ein wenig übertreiben, sie rollen es unnötig lang und laut und in Wirklichkeit bringt es ihnen nicht so viel, wie sie denken. Es stimmt zwar, dass viele Leute diese Sprachen lernen wollen, aber nur weil sie in diesen Ländern Urlaub machen und einen Cocktail in der Landessprache bestellen wollen. Was ein bisschen armselig ist.
- Die eine Sprache, die wirklich die Welt regiert, hat ein „r“, das im Mundraum ein Echo verursacht und den Buchstaben fast zu einem Vokal macht. Es ist das vorzügliche „r“ der Amerikaner, das weich ist wie ein Hamburger, in den man hineinbeißt.
- Und vergessen wir nicht die eine Sprache, die alle sprechen wollen, weil sie am vornehmsten ist, so vornehm nämlich, dass sie auf den Rest der Welt und alle anderen Sprachen pfeift, und die legt das „r“ ganz hinten in den Gaumen rein, wo es sich so delikat anfühlt wie teurer Käse oder ein Glas Champagner.
Deutsch ist wirklich keine Sprache, die sich leicht beherrschen lässt. Nur einer hat sie bezwungen, geknechtet, und das ist Thomas Mann. Ich verstehe nicht viel von dem, was ich da lese, aber ich weiß, dass Worte wie ausdehnungslos nicht in meinem Wörterbuch stehen und auch nicht in dem der Schule, und das ist das größte, das ich je gesehen habe. Wenn ich aber Klara frage, kann sie es mir erklären, und so nehme ich an, Thomas Mann macht sich nicht viel aus den echten Worten der deutschen Sprache, er erfindet eigene und er wird dennoch verstanden. Ich weiß nicht, was ich später einmal werden will; wenn man mich danach fragt, zucke ich mit den Schultern, aber mit Sicherheit weiß ich, dass ich einmal über die deutsche Sprache herrschen will wie Thomas Mann, und alle werden sagen, ich sei ein Genie wie er, oder sie werden es gar nicht sagen müssen, denn es wird einfach für alle evident sein.
In der Schule ist mein Genie-Status erstmal gestrichen, denn wir haben eine neue Lehrerin und die ist von meinen Sprachkenntnissen nicht überzeugt. Sie sagt, ich bringe Artikel durcheinander und Buchstaben, und führt eine Deutsch-Förderklasse ein, was ein bisschen wie Nachsitzen ist. Ich bin nicht das einzige Kind in der Klasse, auch Elvira, Salma, Siyabend und Andrej brauchen Hilfe. Die Lehrerin ärgert sich, dass sie nicht normal unterrichten kann, wenn wir nicht normal sprechen können. Früher hätte es noch normale Klassen gegeben. Das finde ich ein bisschen prätentiös. Schließlich können wir nichts dafür, dass es nicht mehr früher ist, sondern jetzt. Sie hat Falten um den Mund und um die Augen, und wenn mich ihr Laserblick streift und meinen Kopf durchdringt, meine Schädeldecke durchleuchtet wie ein Röntgengerät, dann fürchte ich, dass sie es sofort sehen kann, mein Kleine-Leute–Gehirn, und schon habe ich alles vergessen, was ich jemals auf Deutsch gelernt habe. Sie erklärt mir, was ein Präfix ist, zum Beispiel ent- in entschuldigen oder entnehmen, aber Achtung: Entsetzen bedeutet nicht etwa, dass man aufsteht. Ich würde ihr gern sagen, was ich darüber denke, aber dann erinnere ich mich daran, dass man mit seiner Meinung nicht hausieren geht.
Außer man wird Politiker, dann kann man den ganzen Tag mit seinen Ansichten hausieren gehen, ob es die Leute hören wollen oder nicht. Dazu muss man auch kein Genie sein und bestimmt nicht Thomas Mann gelesen haben, denn sonst würden die Männer auf den Plakaten nicht so einfallslos reimen wie bei „Mehr Mut zu unserem Blut“ oder „Abendland in Christenhand“. Manchmal sind die Poster dramatischer als ein Kinoplakat für den neuesten Actionfilm. Unter den lächelnden Gesichtern der Männer in schicken Anzügen prangt dann noch ein gelber Zusatzsticker mit dem astreinen Actionthriller-Spruch: Tag der Abrechnung. Sie wollen die Mutigen sein unter den Ängstlichen. Sie drücken für das Foto ihren Rücken durch. Aber Mut vortäuschen ist keine große Sache, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Als uns Helga fast entwischt wäre, habe ich sie mit bloßen Händen angefasst, und obwohl ich Angst hatte, habe ich dabei so getan, als wäre nichts. Deswegen muss man nicht gleich ein Plakat machen.
Ich springe in Mutters Schatten und wieder heraus. Ich schlecke an meiner Eiskugel, die meine Zunge blau färbt, und nehme meine Mutter bei der Hand, bevor wir zusammen über die Straße gehen, obwohl ich dafür vielleicht schon zu groß bin. Die Sonne scheint und Mutter hat eine Decke mit, die sie am Fluss ausbreitet. Wir setzen uns darauf, sie schlägt die Beine übereinander und ich betrachte ihre nackten Füße mit den dicken Sohlen, die von all den Schritten zeugen, die sie in diesem Leben schon gesetzt hat. Sie holt eine kleine Dose aus der Tasche, gefüllt mit Trauben, und bietet sie mir an. Heute ist ihr Sorglos-Tag, und ich bete, dass die dunklen Wolken am Himmel sich rasch wieder verziehen. Aber ich bin nicht sicher, ob Gott auch Gebete kleiner Leute hört oder meine Bitte womöglich zu belanglos ist, wenn es sich bloß um Wetter handelt. Schließlich haben Leute echte Probleme. Wie die alte Frau, die wir auf dem Weg hierher gesehen haben, die in der Unterführung um Geld gebettelt hat. Und die uns, als wir vorbeigegangen waren, ohne ihr etwas zu geben, Worte nachgerufen hat, die wohl nur Gott verstanden hat. Dagegen ist mein Gebet sicher zu klein. Mutter sieht in den Himmel und putzt sich ihre dicken Sohlen mit den Händen ab. Das sieht nicht gut aus, sagt sie. Also gehen wir nach Hause. Aber es ist umsonst, der Sturm bleibt aus.
Jeden Tag, wenn ich zur Schule gehe, sehe ich mehr und mehr Plakate. Politiker kämpfen um die Gunst der Leute und jeder will der beliebteste sein. Das ist wie bei uns in der Klasse, erklärt die Lehrerin, wenn wir entscheiden, wer Klassensprecher werden soll. Aber das ist kein guter Vergleich, denn da haben alle für Viktoria gestimmt, weil sie lange blonde Haare hat und große braune Augen und weil sie uns in der großen Pause zeigt, wie man aus dem Handstand in die Brücke fällt. Die Politiker hingegen haben wenig Haare und müde Augen und alles, was sie können, ist, sich in Rage zu reden. Einmal haben sie die Rede von einem auf dem großen Fernseher im Gasthaus übertragen und alle haben ihm gebannt zugehört, und je lauter er sprach, desto stiller wurden die Leute und als er sich in Rage geredet hatte und sein Kopf rot anlief, als würde er gleich explodieren, hoben die Leute ihre Fäuste in die Luft und pflichteten ihm bei. Ich saß auf einem Stuhl neben der Küche, wo ich auf Mutter wartete und meine Hausübungen machte. Von dort aus sah ich die Szene, als säße ich im Kino, und der Film hieß, wie auf den Plakaten, Tag der Abrechnung.
In meinem Aufsatz habe ich geschrieben, dass dieses Land in der Tat vielschichtig ist. Dass es hier so viel zu essen gibt, dass die Arbeit meiner Mutter darin besteht, die Überreste wegzuschmeißen, und oft sind es so viele, dass man nicht weiß, wohin damit. So ein Problem muss man mal haben. Und dass die Leute sich gern anziehen, als würden sie gleich zum Sport gehen, denn das lieben sie am allermeisten, das Laufen und das Wandern und das Spazieren und Radfahren. Sie können tagelang ziellos in der Gegend herumgehen, in variierendem Tempo, ab und zu fühlt einer sich sogar berufen, mit dem Fahrrad einen Kontinent zu überqueren, um dann nach seiner Rückkehr mit sonnenverbranntem Gesicht einen Diavortrag darüber zu halten. Und dass Dinge wie Erdbeeren im Winter hier überhaupt kein Problem sind, dieses Land beschafft dir alles, wann immer du willst, wie du es willst. Deshalb ist es ein großes Land, nicht auf dem Globus, aber in der Welt. Weil jeder aufsieht, wenn man von diesem Land spricht und den Rücken durchdrückt, weil man beneidet wird, wenn man hierher auswandert. Die Lehrerin mag meinen Aufsatz, auch wenn ich wieder viele Buchstaben vertauscht habe. Sie sagt, statt vielschichtig hätte ich vielsichtig geschrieben und dass das eigentlich eine recht interessante Worterfindung sei. Ich habe also bereits ein neues Wort erfunden und musste dazu gar nicht einmal so alt werden wie Thomas Mann.
Unser altes Land dagegen ist ein kleines Land, und seitdem wir nicht mehr dort wohnen, schrumpft es mit jedem Tag immer weiter. Wenn ich gefragt werde, woher ich komme, und ich den Namen meines Landes nenne, ist es, als reiche ich den Leuten ein feuchtes Stück Seife, es entwischt ihnen sofort, sie vergessen es, verwechseln es, verlieren es aus dem Gedächtnis und fragen mich beim nächsten Mal wieder und ich weiß, dass das nur bei den Ländern kleiner Leute so ist. Ich kenne niemanden, der meine Sprache als Fremdsprache gelernt hat oder es auch nur möchte, und deshalb spreche ich sie ungern in der Öffentlichkeit. Einmal hat Klara mich mit Mutter am Telefon in unserer Sprache sprechen gehört und sie hat gelächelt, aber es war ein mitleidiges Lächeln. Klaras Vater ist der Einzige, der sich an mein Land erinnert, als ich sie zum zweiten Mal besuche. Er schenkt mir ein Wörterbuch, das richtig schwer ist, und erklärt mir endlich, was eine Kesselschmiede ist. Im Hintergrund laufen die Nachrichten, die seinen Blick anziehen und die vielen Plakatpolitiker zeigen, die so gerne reimen. Klaras Vater seufzt und schüttelt den Kopf und sagt, wenn diese Idioten wirklich gewinnen, dann haben wir den Salat. Ich notiere das auf der ersten, weißen Seite meines neuen Wörterbuchs und überlege, um welche Art Salat es sich hier wohl handeln würde.
Das Gasthaus sagt, am Wahltag gibt es für alle, die dort essen, gratis Blaubeerkuchen und darunter steht in Schreibschrift gekritzelt, falls einer es vergisst: Heute ist Wahltag. Das interessiert mich, denn Wahltag ist nämlich ein anderes Wort für den Tag der Abrechnung. Mutter findet, dass seit Tagen ein Sturm über der Stadt hängt und sie deswegen Kopfschmerzen hat. Vor der Arbeit nimmt sie deshalb zwei Tabletten und trinkt einen halben Liter Wasser und murmelt etwas vor sich hin, was ich nicht verstehe, während sie aus dem Fenster in den bedeckten Himmel schaut. Ich fürchte mich ein wenig, während eines Sturms allein zu Hause zu sein, und frage sie, wann sie heute nach Hause kommt, und sie sagt etwas Seltsames: Nach der Abrechnung. Anscheinend gibt es jeden Abend im Gasthaus eine Abrechnung, und das ist nichts anderes als eine genaue Auflistung der Einnahmen. Deutsch ist eben recht vielsichtig, das habe ich euch aber schon gesagt.
Als ich am nächsten Tag wach werde, kann ich meinen Augen kaum trauen. Der Sturm hat Mülltonnen umgedreht und den Abfall über die ganze Straße verteilt. Außerdem, so erfahre ich später, Bäume ausgerissen, Stromausfälle verursacht und den Fluss über die Ufer steigen lassen. Ein paar Poster fliegen lose durch die Luft, hie und da ist ein Fenster kaputt. Mutter schläft noch und ich sollte eigentlich zur Schule gehen, aber meine Füße tragen mich richtungslos durch die Straßen der Nachbarschaft. Ihr seht schon, ich werde langsam wie die Hiesigen, die stundenlang richtungslos herumspazieren. Ich betrachte umgefallene Balkonpflanzen, zerbrochene Blumentöpfe, lose Äste auf dem Bürgersteig. Das Gasthaus an der Ecke, in dem um diese Zeit normalerweise geputzt wird, ist geschlossen, dunkel und leer, wie ein Geisterhaus. Ich frage mich, warum ich kaum jemanden in den Straßen sehe, als wäre ich der einzige Mensch, der wach ist. Ich fühle ein seltsames Brennen in meiner Lunge, so etwas wie eine Hitze. Irgendwo auf dem Gehsteig liegt ein Stück Blaubeerkuchen, der gar nicht appetitlich aussieht, daneben ein Salatblatt. Sofort muss ich an Klaras Vater denken, der den Salat doch prophezeit hatte. Es scheint, dass er recht behielt.