Sudabeh Mohafez

Nachdenken über Wasser – eine Annäherung an Sterben im Exil

„Water… “

Ich schlage die Augen auf.

„Water… “

Ich verstehe das Wort nicht. Verstehe nicht, wo ich bin. Bei der nächsten Wiederholung erkenne ich endlich die Stimme und mir fällt ein, in welchem Raum ich mich befinde. Nur das Wort verstehe ich immer noch nicht. Ich setze mich auf. Eine Wolldecke rutscht von meinem Schoß. Richtig, die Nachtschwester hatte sie mir gebracht.

Mein Gehirn setzt Puzzlesteinchen zusammen: Ich bin in Den Haag. Ich bin im Hospiz. Ich bin bei meinem sterbenden Vater. Ich sitze in einem Sessel, dessen Lehne

und Fußteil verstellbar sind, sodass ich während der Nacht beinahe liegen konnte.

Ich war eingenickt.

„Water… “, diesmal klingt es fast gequält. Diesmal schlage ich mir mit der flachen

Hand gegen die Stirn: Das ist Englisch! Immer wieder hat er in der Nacht um Wasser

gebeten. In unregelmäßigen Abständen. Immer wieder habe ich ihm Wasser gebracht. Was mir die Kehle zuschnürt, ist nicht sein Durst. Gegen ihn lässt sich etwas

unternehmen. Was mir die Kehle zuschnürt, ist die Sprache.

Water. Ich schüttle mich. Schrecke zurück vor der Fremde, die das Wort zwischen

uns schiebt. Auf Englisch war ich nicht gefasst. Wir sprechen es beide gut. Aber es

ist keine unserer Sprachen. Unsere Sprachen sind Farsi und Französisch. Mein

schlaftrunkenes Hirn hat versucht, aus den englischen Lauten ein persisches Wort zu

machen: um den Vater zu verstehen. Weil es wusste, wo ich war. Bin. Mit wem ich

wo war. Mein schlaftrunkenes Hirn war auf Farsi gefasst und hat versucht, aus diesen fünf eher geflüsterten als gesprochenen Buchstaben einen Sinn herauszufiltern.

Er muss vergessen haben, dass ich da bin. Er spricht, wie er hier spricht. Hier im

Hospiz. Spricht er hier so? An diesem Ort, in diesem Land? Wieso spricht er hier

Englisch? Und ich habe geschlafen. Vielleicht hat er mehrmals Āb gesagt – auf Farsi:

„Āb, Āb…“, und schließlich gedacht, ich sei gegangen, hier säße inzwischen jemand

anderes. Vielleicht hat er gedacht, er bekäme nicht, was er braucht, weil er nicht verstanden würde von der Person, die mit im Raum war. Vielleicht hat er es, weil er zu

schwach war, die Augen zu öffnen, einfach immer wieder vor sich hingemurmelt in der Sprache, die ihm die größte Wahrscheinlichkeit auf Erfolg zu versprechen schien.

In der Hoffnung, irgendwann käme jemand und verstünde sein Anliegen.

Ich schiebe die Decke beiseite. Hastig. Fahrig. Voll schlechter Gefühle. Wie lange

habe ich gebraucht, um aufzuwachen? Wie lange, um zu verstehen, wo ich bin, wer

da ruft und was er braucht? Ich tauche die Ecke eines Waschlappens in das Wasserglas auf dem Beistelltisch. Seine Lippen sind knochentrocken. Mit dem feuchten Tuch

streiche ich über sie. Er zieht den Stoff in den Mund, energisch: mit Zähnen und Lippen. Er saugt daran. Ich frage, ob er nicht lieber wie früher am Abend aus der Schnabeltasse trinken möchte. Er schüttelt den Kopf.

Nur mit einigem Kraftaufwand und gutem Zureden gelingt es mir, ihm das Frottee

nach einer Weile zu entwenden. Wieder tauche ich den Stoff ins Wasser, diesmal

eine andere Ecke und ein viel größeres Stück. Mein Vater trinkt aus dem Lappen. Er

befeuchtet den ausgetrockneten Gaumen. Er trinkt und trinkt. So halten wir es sicher

eine Viertelstunde lang. Das Trinken auf diese Weise zu gestalten, ist eine langsame,

aber erfolgreiche Angelegenheit.

Zwischendurch setze ich mich, betrachte ihn, ziehe die Decke wieder über seine

Beine. Mein Vater in einer großen Windel. Mein Vater mit seiner weichen, immer

noch nahezu faltenfreien, braunen Haut, die jetzt deutlich gelb schimmert.

„Weil die Leber nicht mehr richtig arbeitet“, hat P. mich auf diesen Anblick vorbereitet.

Es ist ein Nebensatz gewesen, den sie, vermutlich aus keinem speziellen Grund, an

einen anderen hängte, einen, in dem es generell ums Sterben oder vielleicht um

meine Überlegungen ging, hierher zu fahren oder es sein zu lassen. Eher in der Art

eines Bildes, das sie vor dem inneren Auge sah: die fahlgelbe Haut der Leberkrebspatienten kurz vor dem Tod. Auf die Windel war ich nicht vorbereitet.

Mein Vater von Kopf bis Fuß mit dieser Haut, über deren Braun ein Gelbton liegt. Darunter sein muskulöser Körper. Die Kraft, über die er immer noch verfügt, hat mich

unglaublich erstaunt: als er den Lappen mit den Zähnen festhielt eben. Als er meine

Hand nicht hergeben wollte, gestern Abend, nachdem ich angekommen war, mich zu

ihm gesetzt und sie in seine gelegt hatte. Mein Vater immer an der Grenze zu etwas,

das wie Einschlafen aussieht. Mein Vater mit seinem nach wie vor dichten, welligen

Haar, den gepflegten Händen und Füßen und seinem Wohlstandsbauch, der sich

über die Windel wölbt, wie früher über Gürtel und Hose. Mein Vater, der so furchtbar

zuschlug, dass ich immer Angst um das Leben meiner Brüder hatte – und um meines. Immer: wenn es wieder so weit war. Mein Vater, der mit vier Eiswaffeln der

Marke Bastanieh Ghifi durch den Park lief und uns rief: „Wo seid ihr denn? Euer Eis schmilzt schon!“, lachend, fröhlich, ausgelassen. Die Waffeln in diesen seinen Händen. Mein Vater, der uns Kinder spät am Abend in warme Decken einmummelte und

hinten ins Auto setzte, um mit seiner Familie hinauszufahren in die von bunten Lichtern und einem nicht enden wollenden Feuerwerk erleuchtete Stadt, mitten hinein in

den Autokorso, der die Prachtstraße hinauf- und hinunterzog, zwischen Menschen,

die sich in den Armen lagen und feierten und tanzten und sangen, weil der Kronprinz

Geburtstag hatte. Mein Vater lachend und hupend und glücklich. Mein Vater, der eigentlich keine Kinder haben wollte, dem es vollkommen gereicht hätte, ein Leben mit

seiner Frau aus Europa zu teilen. Ein Leben, das angefüllt gewesen wäre mit Geologie und Reisen und Cocktailpartys.

„Āb…“ Er hat verstanden und er hat sich gemerkt, dass ich doch noch da bin.

„Komme schon“, murmele ich auf Farsi, „ich hab‘ nur frisches Wasser geholt“, und

tunke einen neuen Lappen in das Glas. Mein Vater liegt auf der Seite. Ein Katheter

schlängelt sich aus der Windel in einen Urinbeutel, der am Bett hängt. Ich schaue

weg.

Am linken Handgelenk trägt er ein Armband mit Notfallknopf. Zufall? Ob sie ihn gefragt haben? Sind Sie Rechtshänder? Benutzen Sie die rechte Hand, um auf den

Knopf zu drücken? Bent u rechtshandig? Are you right-handed? Āb. Hat er einfach

nur den Arm vorgestreckt? Hat er rein zufällig den richtigen gewählt? Hat er verstanden, worum es ging? Haben sie seine Frau gefragt?

Im Gegensatz zu ihr spricht mein Vater ein sehr gutes Niederländisch. Aber es ist

eine späte Sprache für ihn. Und eine, die er nur lernen musste, weil er bleiben wollte.

Bleiben in einem Staat, der nicht ganz so weit entfernt war von seinen Kindern, die

nun in ihrem Mutterland lebten. Die nicht mehr mit ihm lebten. Keine Sprache, die

sein Herz bewegt: Jedenfalls vermute ich das.

Das Trinken erleichtert ihn so sehr, dass ich schon wieder mit aller Kraft gegen

schlechtes Gewissen kämpfen muss. Es liegt nicht daran, dass er mein Vater ist. Es

liegt daran, dass er abhängig ist: Ich habe noch mein ganzes Leben lang Zeit zu

schlafen. Er hat jetzt Durst. In diesen letzten Stunden seines Lebens. Er scheint beinahe vollständig reduziert auf Durst.

Schrecklich am Sterben ist vielleicht gar nicht der Tod, denke ich. Schrecklich am

Sterben ist das Leiden, bis er eintritt. Am schrecklichsten scheint mir die Abhängigkeit. Vor allem, wenn sie das Leid vergrößert, statt es zu verringern.

Ich denke diese Dinge zum ersten Mal. Ich denke, er habe Durst, dabei ist er durch

den Tropf ausreichend mit Flüssigkeit versorgt. Was ihn so quält sind, das erfahre ich später, die ausgetrockneten Schleimhäute in der Mundhöhle. Ich habe keine Ahnung

vom Sterben. Ich weiß nichts darüber. Noch hat es mich nie interessiert.

Am schrecklichsten ist die Abhängigkeit, denke ich wieder und wappne mich gegen

die nächste lästige Welle von Mitleid. Im Falle meines Vaters kann eigentlich nicht

wirklich von Leiden die Rede sein. Bislang ist er beinahe schmerzfrei. Aber ist Leid

nicht immer subjektiv? Was nutzt einem Leidenden das Wissen darum, dass ein anderer auch, vielleicht mehr leidet? Würde es mir nutzen? Das Wissen darum, nicht

die Einzige zu sein, die leidet: Mir würde es vielleicht helfen.

Abhängig sein von der Gnade einer anderen. Abhängig sein, wirklich abhängig, von

der Freundlichkeit einer anderen. Davon, dass sie nicht rachsüchtig ist, wenn wir ihr

ausgeliefert sind. Dass sie die Waage nicht aufstellt. Dass sie nicht all unsere Verfehlungen aufhäuft in einer Schale und, wenn wir durstig sind, auf die nur spärlich gefüllte, die viel weiter oben baumelnde, andere Schale zeigt: statt uns Wasser zu geben. Wenn wir Glück haben, ohne Häme. Wenn wir Pech haben, mit einem sadistischen Blitzen im Blick.

Abhängig sein. Davon, dass jemand im Zimmer ist. Davon, dass die Person im Zimmer nicht einschläft. Davon, dass sie eine der Sprachen beherrscht, die man selbst

spricht. Davon, dass sie einem nichts Böses will. Davon, dass sie nicht zuschlägt,

nur, weil sie ihre Gefühle nicht im Griff hat. Nur weil man schwächer ist. Nur weil man

niemanden hat, der einen schützt. Nur weil man ihr ausgeliefert ist.

Die Achtsamkeit, die ich empfinde, weil mein Vater abhängig ist, gefällt mir nur bedingt. Er hat sie nicht verdient, denkt etwas in mir. Denkt es laut und schrill. Aber ich

habe sie verdient.

Danach ist Ruhe.

Wenn es schlecht läuft, vergrößert Abhängigkeit das Leid ins Unermessliche. Das gilt

für Kinder, wie für Sterbende. Das gilt, fällt mir auf, eigentlich immer und für alle. Die

vielen Fertigkeiten der Beruhigung, die ich einübe, seit ich erwachsen bin, all die

Techniken, um meinen Körper fit (und das meint eigentlich: jung, also noch genauer:

in Todesferne) und meinen Geist ruhig und ausgeglichen zu halten, all das Meditieren, das Yoga, das Laufen, von dem ich dachte, ich übte es ein, um mit dem Stress

der heutigen Welt besser zurande zu kommen, praktiziere ich all das schlussendlich

nur aus Angst?

Wenn ich in der Lage bin, mich gedanklich auf nichts weiter als meinen Atem zu konzentrieren, wenn ich mich so weit von den Sorgen und Nöten des Körpers und des Geistes abstrahieren (weg-ziehen!) kann, dann werden die Abhängigkeit, in der ich

mich als Kind auf Gedeih und Verderb befand, und das Zurückgeworfensein auf

diese körperliche Existenz im Sterben vielleicht ein bisschen aushaltbarer. Könnte

das, wenn ich lange und gründlich genug in der Tiefe der Zusammenhänge schürfte,

die, meinem eifrigen Üben von Pranayama bis Halbmarathon wahrhaft zugrundeliegende, Hoffnung sein?

Die Kausalkette wäre immerhin verständlich. Ich habe viele Jahre meines Lebens darangegeben, mich aus den zerstörerischen Abhängigkeiten von meiner Familie herauszuarbeiten. Die Vorstellung, jemals wieder in eine vergleichbar substantielle Unfreiheit zu geraten, ist in der Tat äußerst erschreckend.

Wenn ich aber die Angst vor dem Tod – und das Wieder-abhängig-Werden gehört bei

einem natürlichen Tod wohl zu diesem dazu – wenn ich diese Angst nicht mehr empfände, schnitte ich mich damit nicht gleichzeitig von einer wesentlichen Erfahrung

ab? Einer wesentlichen LEBENSerfahrung? Von der nämlich, dass es wirklich bitter ist,

vorbei zu sein? Dass es unvorstellbar traurig ist, das Wunder der Lebendigkeit, wie

schmerzhaft diese im Einzelfall auch ausfallen mag, aufgeben, hergeben zu müssen? Was ist das für eine Bewegung, in der ich das Ziel, auf das ich mich Tag für Tag

zubewege, immer wieder konsequent beiseiteschieben, vernebeln, aktiv aus den Augen verlieren will? Und ist Ziel überhaupt das richtige Wort? Wäre es nicht viel treffender, einfach nur von Ende zu sprechen? Vom Ende der (Lebens-) Geschichte?

Dieser und aller anderen Geschichten – soweit sie mich betreffen?

Mir kommt ein Lehrer in den Sinn, bei dem ich im Rahmen einer Ausbildung ein ganzes Wochenende lang ein Seminar zur Philosophie des Yoga besuchen musste. Beständig kreisten alle Begründungen, mit denen er arbeitete, alle Herleitungen und

kausalen Zusammenhänge wie selbstverständlich darum, dass der Tod überwindbar

sei. Dass er eigentlich gar nicht, nämlich nur ein Durchgang sei, etwas, vor dem wir

uns nicht fürchten müssten und das (wie ein Gegner) durchaus besiegbar sei. Ich

fühlte mich an meine eigene fromme Zeit erinnert, als ich mich, lang nach der Kleinkindtaufe in der evangelischen Johanniskirche im Berliner Südwesten, mit einundzwanzig Jahren in einer Freikirche konfirmieren ließ: im Land der Mutter und ihrer

auch während der achtziger Jahre noch tief in der Wertewelt des Nationalsozialismus

verwurzelten Familie, nicht weniger verängstigt und verloren, als zuvor in dem des

Vaters und einzig aus dem Wunsch heraus dazuzugehören, geborgen zu sein. Ein

Wunsch, der sich – wen wundert‘s – auf diesem Weg nicht erfüllte. Was hatte ich damals nicht alles für flammende Reden gehalten über die Erlösung von allem Elend.

Jahrzehnte später einem Mann, noch dazu einem Lehrer zuhören zu müssen, der

den Tod rundheraus leugnete, löste große Ungeduld in mir aus. Ich hatte den Eindruck, einem anhaltend aggressiven Monolog der Angstabwehr ausgesetzt zu sein.

Mein Vater dagegen, der jetzt genau an dieser Schwelle steht, der, wie man so leichthin sagt, dem Tod ins Auge sieht, scheint nicht ängstlich zu sein. Er leidet an einer

ausgeprägten Trockenheit der Mundhöhle. Leidet zumindest solange daran, bis ich

ihn endlich höre und verstehe. Jetzt liegt er ruhig vor mir. Nur seine Beine zucken immer wieder hin und her.

„Die Unruhe der Sterbenden.“ Noch so ein hilfreicher Fingerzeig von P. Es sind diese

ganz konkreten Dinge, die mir zum Geländer werden am Sterbebett meines Vaters.

Kein einziges Wort darüber, dass der Tod in Wahrheit (!) nichts von Ende, Schluss

und Vorbei habe, gibt mir dort Orientierung.

Wieder ziehe ich die Bettdecke über seine Beine, betrachte ihn dabei. Mein Vater ist

Geologe. Er ist auch Bergbauingenieur. Während der fünfziger Jahre hat er in Teheran studiert, in Paris und in London und ist als Student Empfänger von mindestens

zwei großen Stipendien gewesen. Er liebte seinen Beruf. Und ich liebte diese seine

Liebe: Die Begeisterung und Freude, in die er getaucht schien, wann immer er mit

Geologie zu tun hatte. Das Strahlen, das von ihm ausging, wenn er zurückkam von

den Expeditionen, die er leitete. Von vier, fünf, sechs Wochen in der Salzwüste oder

im Gebirge. Wochen, während derer die Teams in Jeeps durchs Gelände fuhren, zu

Zielen, die er zuvor ermittelt hatte. Wochen, während derer sie in Zelten lebten und

von Sonnenaufgang bis in die Dämmerung hinein Bohrungen vorbereiteten, durchführten, abschlossen, Proben entnahmen, neue Erdölfelder erschlossen. Die Bilder

die ich dazu vor Augen habe, sind fast so alt wie ich selbst:

Abends sitzen die Männer um ein Feuer. Die Arbeiter mit den Chefs, die studierten

Herren Geologen mit den einfachen Angestellten und Tagelöhnern. So stelle ich es

mir vor als ich vier, neun und dreizehn bin, so stelle ich es mir heute noch vor. Alle

haben sie sich mit Wasser aus denselben Kunststoffkanistern gewaschen und nach

der erbarmungslosen Hitze, der sie tagsüber ausgesetzt waren, warme Pullis und

Anoraks übergezogen gegen die plötzlich und heftig einsetzende Kälte der Wüstennacht. Sie plaudern. Vermutlich singen sie. Sie lesen die Tabellen, die sie tagsüber

angelegt haben, die Karten und Notizen. Trinken Wasser. Trinken Wodka. Brechen

Fladenbrote. Angeln große Brocken Schafskäse aus Salzlaken in Blechdosen, würzen das Ganze mit Chilischoten und frischen Kräutern. Sie rösten Fleisch über offenem Feuer. Sie lassen es sich schmecken.

Aus der Stimmung, in der er ein ums andere Mal zurückkam, war leicht abzulesen,

dass diese Expeditionen für meinen Vater zum Schönsten in seinem Leben gehörten.

Dass es glückliche, sinnerfüllte und freudvolle Wochen für ihn waren. Immer kehrte

er mit einem glänzend schwarzen, fein säuberlich gestutzten Bart heim, den er am

nächsten Tag mit übertrieben feierlichem Spektakel entfernte: uns Kinder in der leeren Badewanne nebeneinander hockend als begeistertes und konzentriertes Publikum. Wie weich seine Haut nach der Rasur war! Jedes von uns durfte so lange mit

der flachen Hand über seine Wangen fahren, bis genug Weichheit für eine ganze

Weile gespeichert war. Unsere Hände dufteten dann nach Tabac, seinem After

Shave, und vor dem Zubettgehen am Abend, weigerten wir uns, sie zu waschen.

Ich liebte meinen Vater für seine Freude und Intensität. Ich liebte die Stimmung von

Konzentration, von unzweifelhaftem Sinn und stillem, innigem Glück, die von ihm

ausging, wenn er auf unserem ausziehbaren Esstisch seine schwarz-weißen, topographischen Karten im DIN-A-1-Format ausbreitete, einen Kasten mit Buntstiften in

vierzig oder fünfzig Farbschattierungen aufklappte und im Stehen über das große Papier gebeugt aus den weißen Flächen und den geschwungenen, schwarzen Linien

die traumhaftesten Landschaften zauberte, die ich je gesehen hatte. Lachsrote, farngrüne und lichtblaue Gebirge, von denen viele unter dem Wasser lagen, wie er mir

erklärte, Flussläufe in Ginstergelb, grau schraffierte Felder und fein gestrichelte Flächen in beinahe pulsierendem Weinrot. Ich liebte es, wenn er völlig versunken dieser

Arbeit nachging.

Das Wunder, das sich da vor meinen Kinderaugen abspielte, war, das verstand ich

intuitiv, nicht nur wegen seiner Schönheit so ergreifend, sondern weil es eine enorme

Tragweite hatte: Auf eine ganz und gar emotionale Art verstand ich damals, dass

Kunst, Versenkung, Bedeutung und Abstraktion etwas Wesentliches miteinander zu

tun hatten. Ich konnte meinem Vater stundenlang dabei zusehen, wie er dieser offensichtlich sinnvollsten und befriedigendsten aller Tätigkeiten nachging. Er wusste, was

er tat. Er konnte das.

Jetzt kann er nur noch: atmen, die Hand heben, um Wasser bitten, auf Schmerzen

hinweisen. Als ich kam, vor zehn Stunden oder vor zwölf, bevor ich einschlief, bevor

ich ihn nicht hörte, als ich kam gestern Abend und bei ihm saß, seine Hand in meiner,

und noch nicht verstanden hatte, wie weit weg er schon war, noch nicht verstanden

hatte, dass Gespräch nicht mehr wirklich möglich war, als ich kam, fragte ich in einer

Art Smalltalk-Ton und weil ich weder wusste, was ich sagen sollte, noch aushalten

konnte, nichts zu sagen, ich fragte ihn, ob er müde sei.

Da öffnete er die Augen. Da sah er mich an mit äußerst klarem Blick. Und sagte unmissverständlich deutlich: „Bishtar az chasteh.“

Das erinnere ich jetzt, mit dem Trinklappen in der Hand auf dem Sessel sitzend, denn

er ist eingeschlafen, und bin mir sicher zu wissen, dass er fertig ist mit diesem Leben.

Bishtar az chasteh. Mehr als müde.

Immer liebte ich auch das an meinem Vater: seine Klarheit. In all seiner Gewalt. In all

seiner Lebensfreude. In all seiner fehlgeleiteten, nämlich an die Tochter, noch dazu

die misshandelte Tochter, gerichteten Bedürftigkeit war er immer klar, eindeutig. Nie

vernebelte er etwas. Nie hat er mir ausweichend geantwortet oder mich belogen.

„Water“ murmelt mein Vater, und zum ersten Mal an diesem sehr frühen Morgen

denke ich erstaunt, dass das Wort vielleicht gar nicht als ein englisches gedacht ist.

„How do you say water in Dutch“, frage ich aufgeregt die Ehrenamtliche von der

Frühschicht, die kurze Zeit später hereinkommt, um nach dem Rechten zu sehen.

„Water“, sagt sie und lächelt ein strahlendes Lächeln und legt frische Decken ans

Bettende, und, was sie sagt, klingt original wie das, was mein Vater die ganze Nacht

lang gesagt hat: Das A ist lang und offen, das W klingt ein bisschen stimmhaft. Er hat

nicht vor Schwäche genuschelt. Er hat Niederländisch gesprochen. Astreines, akzentfreies und gut verständliches Niederländisch.

Und vielleicht, denke ich plötzlich, ist sein Sterben gar kein Sterben in der Fremde.

Vielleicht ist es kein Sterben in Einsamkeit, Verlorenheit und Sprachlosigkeit. Vielmehr scheint er ganz und gar einverstanden damit, jetzt zu sterben, hier zu sterben:

in Europa, wo er seine große Liebe gefunden und die Hälfte seines Lebens verbracht

hat. Hier in den Niederlanden, deren Steuerzahler er war, deren Staatsbürger er ist

und deren Sprache er spricht. Und er scheint gut zu sterben, umgeben von Menschen, die seine leibliche Not zu lindern wissen und den Tod längst nicht zum ersten

Mal sehen. Umgeben von anderen Menschen, die ihm keine Vorwürfe machen, die

ein Stück Weg mit ihm gegangen sind, die ihm keine Vergebung aufdrängen und

nicht beschäftigt sind mit Versöhnungsgedanken, die nichts verschleiern. Menschen,

die da sind. Bei ihm. Mit ihm.

Eine Stunde später breche ich auf. Seine Frau ist hier. Mein Bruder ist hier. Bald wird

ein weiterer unserer Brüder dazukommen. Als ich zu meinem Vater ans Bett gehe,

weiß ich noch nicht, was ich sagen werde. Ich umarme ihn. Er lächelt mit geschlossenen Augen. Eine Weile betrachte ich ihn, dann sage ich: „Safaret khosh basheh, gute

Reise.“

Mein Vater öffnet die Augen. Ich warte, bis sein Blick sich klärt, und bilde mir ein,

dass er mich, kurz bevor er wieder wegdämmert, anzwinkert. Ein leises, erstauntes

Lachen kommt mir über die Lippen. Hat er wirklich gezwinkert?

Vielleicht… Es würde zu ihm passen. Zu diesem Mann, der alles Formale, Aufgesetzte, alles Traditionelle und Artifizielle immer unsinnig, ja absurd gefunden hat, zu

diesem Mann, der selbst die Verantwortung für seine Kinder nie so ganz ernst genommen hat und jederzeit bereit war, einen Witz auf eigene Kosten zu machen.

„Gute Reise?“, wird er später auf der Autobahn in meiner Vorstellung sagen, und

zwar mit genau diesem Zwinkern in den Augen. „Was für ein Tamtam! Versteck‘ dich

nicht hinter Floskeln, dochtar-joon, Töchterchen. Da kommt keine Reise mehr. Das

war‘s. Das ist schon der ganze Zirkus gewesen.“