Stefan Petermann

Jakob im roten Shirt

Das Bild

Ein Kind liegt am Strand, regungslos, die Arme eng am Körper, die Handflächen

nach oben, der Kopf zur Seite gedreht, die rechte Wange im Schlamm, der kleine

Junge im roten T-Shirt, Wasser gegen seine Stirn.

Wie der Junge liegt, fällt er einem Badegast auf. Der Urlauber kommt näher, unschlüssig erst, weil er dieses Bild nicht erwartet hat, Muscheln wollte er sammeln,

den von der Sonne aufgeheizten Sand unter den Sohlen wollte er spüren, einen erholsamen Urlaubstag hat er angenommen. Aber da liegt regungslos ein Junge im roten T-Shirt.

Der Urlauber schaut, zögert, wägt ab, greift nach der Hand des Kindes, will es

aus dem Wasser ziehen, ein Leben retten will er, als der Junge die Augen aufschlägt.

Einen Moment nur und schon wieder geschlossen, und der schmale Brustkorb hebt

und senkt sich. Der Urlauber ist verwundert. Er wollte helfen. Doch ein Eingreifen ist

überflüssig. Dieses Kind lebt.

Andere Urlauber haben den Jungen im roten T-Shirt bemerkt. Sie treten näher,

auch sie wollen retten, auch sie erkennen, dass der Junge keine Hilfe benötigt, auch

sie sind irritiert. Wie sie in der Gruppe stehen, vergeht die Irritation. Unmut kommt

auf. Die Urlauber fühlen sich in ihren guten Absichten verhöhnt. Sie rufen nach den

Eltern des Jungen. Von ihnen erwarten sie eine angemessene Reaktion, eine Entschuldigung, eine Erklärung zumindest.

Die Eltern des Jungen sind Katrin, die sich hinter dem Windschutz zum Schutz

vor der Sonne den Krimi aufs Gesicht gelegt hat, und ich, der in einem Sachbuch

liest.

Unser Junge, unser Jakob, liegt im roten Shirt wie tot am Strand und lässt sich

von den Urlaubern, die ihn und inzwischen auch einander beschimpfen, nicht stören.

Er liegt und liegt und liegt, bis ich aufstehe und den Windschutz verlasse und zum

Wasser laufe, mich an den Urlaubern vorbeidränge und Jakob wortlos packe und in

meine Arme nehme, diesen kleinen, warmen, vertrauten Körper.

Katrin ist mittlerweile erwacht. Ich sage ihr, dass wir jetzt gehen sollten, wir sollten besser den Strand verlassen. Jakob schaut mit seinen grünen Augen zu, wie

seine Eltern die Strandtagsutensilien packen.

Im Hotel fordern wir eine Erklärung von Jakob. Für was, will er wissen, und wir

sagen ihm, dass er die Leute mit seinem Verhalten verärgert habe. Warum, will er

wissen, und wir sagen ihm, dass er die Leute an eine schlimme Sache erinnert habe.

War ich die schlimme Sache, fragt Jakob, und wir verneinen und fragen unseren

Sohn, warum er sich auf diese Weise in den Sand gelegt habe. Ein Spiel, sagt er.

Warum dieses Spiel, fragen wir und darauf sagt Jakob: Ich will jetzt ein Eis.

Das Büffet

Am Abend suchen wir das Büffet auf, denn wie die meisten Gäste haben wir All Inclusive gebucht. Die Auswahl an Nahrungsmitteln ist üppig. Katrin und ich haben kaum

Hunger, wir holen Obst. Jakob isst das Übliche – Rührei mit Schnittlauch, dazu Pudding – und begibt sich danach zu den Kindern in die für Kinder vorgesehene Spielecke.

Wir sprechen über Jakob. Sein heute am Strand gezeigtes Verhalten ist nicht typisch für unseren Sohn. Unterdessen strömen Urlauber zum Büffet, an sich kein ungewöhnlicher Vorgang an einem solchen Ort. Doch greifen sie nicht nach Salaten

und kalten Platten, sondern umringen aufgebracht einen Jungen.

Erneut handelt es sich um Jakob. Er hat in kleine Plastikschalen verpackte Butterportionen auf zwei Haufen gestapelt, Haufen, die sich wie Zwillingstürme gegenüberstehen.

Er nimmt eine saure Gurke, bläst Luft so über die Lippen, dass das Geräusch an

einen Flugzeugpropeller erinnert. Zu diesem Sound lässt er die Gurke in einen der

Butterportionstürme rauschen.

Der Turm stürzt ein. Ungeachtet der Entrüstung der Urlauber schlägt Jakob mit

der Gurke auch in den zweiten Turm ein. Dieser fällt in sich zusammen. Plastikschalentrümmer am Urlaubsbüffet. Jakob sammelt die Butterportionen ein und beginnt mit

dem Wiederaufbau der Türme.

Einige Urlauber erkennen Jakob. Ebenfalls erkennen sie mich, als ich Jakob an

der Hand packe und vom Büffet wegzerre, strikt, da ich möchte, dass die Hotelgäste,

die mir allesamt fremd sind, begreifen, wie mich, den Vater, das Verhalten meines

Sohnes empört. Die Urlauber sollen glauben, ich würde ihn dafür bestrafen.

Aber ich bestrafe nicht. Katrin und ich bestrafen niemals. Wir gehen zurück aufs

Zimmer und bringen unseren Sohn zu Bett. Dabei entdecken wir unter seinem Bett

das Buch.

Das Buch

Ich bin Drehbuchautor. Momentan arbeite ich an der fiktionalen Geschichte eines

Rentners, der sich tief und tragisch in Weltverschwörungstheorien verstrickt. Er

glaubt, dass hinter allen bedeutsamen Ereignissen einflussreiche Geheimbünde stecken.

Obwohl der Urlaub mit der Familie der Entspannung dienen soll, habe ich einige

Bücher zur Recherche eingepackt. Eines davon heißt Die größten Katastrophen der

letzten 101 Jahre. Für jedes der zurückliegenden 101 Jahre ist beispielhaft ein katastrophales Ereignis ausgewählt, das als Sinnbild dieser Zeit steht: der Absturz der

Hindenburg, der Anschlag auf JFK, die Ermordung Hanns Martin Schleyers …

Zu jedem Ereignis ist neben einem leicht zu erfassenden Infotext ein ikonografisches Foto gestellt: der aus dem Zeppelin schlagende Feuerball, Jackie im rosafarbenen Kostüm über den sterbenden Leib ihres Mannes gebeugt, der Arbeitgeberpräsident mit dem Schild in den Händen ...

Jedes Jahr erscheint eine aktualisierte Fassung der Chronik. Die 101 Jahre bleiben bestehen. So rückt die Chronik stetig vorwärts. Der Untergang der Titanic ist

schon nicht mehr dabei. In vier Jahren wird sich kein Verweis auf den Ersten Weltkrieg finden, in einunddreißig Jahren wird der Zweite Weltkrieg nicht länger zu den

größten Katastrophen der nahen Gegenwart gehören.

Seit Langem gibt es diese Chronik. Noch immer hat sich für jedes neue Jahr eine

Katastrophe gefunden. Im Vorwort zeigen sich die Verleger optimistisch, dass sie die

gut verkaufte Reihe ohne Schwierigkeiten werden fortsetzen können.

Das letzte Bild im Band zeigt Aylan Kurdi, der tot an den Strand nahe Bodrum

gespült wurde. Die Herausgeber wählten diese Katastrophe aus, eine subjektive Entscheidung, für die sie viel Kritik einstecken mussten. Die nächsten 101 Jahre wird

das Bild des toten Aylan für 2015 sprechen.

Es ist offensichtlich, dass Jakob in der Chronik geblättert hat. Aufgeschlagen liegt

das Buch in seinem Bereich unseres großzügig ausgestatteten Apartments. Viele

Male muss Jakob Bilder von 101 Katastrophen betrachtet haben.

Das Buch ist nicht für Kinderaugen geeignet. Ich werfe mir vor, den Band in den

Urlaub mitgenommen zu haben. Katrin widerspricht, sagt, das Buch sei Teil meiner

Arbeit, und diese Arbeit habe uns den Urlaub überhaupt erst ermöglicht. Ihr Zuspruch

rührt mich. Ich nehme das Buch an mich, und obwohl es draußen noch hell ist, gehen

wir drei zu Bett, selbst wenn an Schlaf nicht zu denken ist.

Die Erklärung

Am nächsten Morgen erklären Katrin und ich unserem Sohn mit sanften Stimmen

und kindgerechten Worten, dass sein Verhalten falsch sei. Die Fotos, die er gesehen

habe, seien nicht für Kinder gedacht. Es sei nicht in Ordnung, sie nachzustellen.

Jakob nickt, als würde er verstehen. Katrin und ich müssen das so annehmen,

wir müssen glauben, er würde solche Aktionen zukünftig unterlassen. Doch insgeheim verspüren wir eine gewisse Zufriedenheit.

Jakob ist ein Kind, das wir lieben, so, wie Eltern ihr Kind lieben sollten, uneingeschränkt und streng. Er gehört nicht zu den Schlechten, er gehört nicht zu den Guten, nirgends gehört er richtig dazu. Nichts scheint sein Interesse über das übliche

Maß hinaus zu wecken. Er spielt Ball, er macht Unsinn, er beschäftigt sich mit Dinosauriern: Er tut Dinge, die seinem Alter entsprechen.

Doch wenn wir sein Wesen beschreiben sollen, sagen wir seinen Namen. Jakob.

Er ist Jakob. Nun entwickelt er Eigenheiten. Erstmals lässt sich so etwas wie ein

Charakter bei unserem Sohn feststellen.

Der nächste Vorfall

Jakob zieht sich nackt aus, klemmt den Penis zwischen die Schenkel, so dass sein

Geschlecht verschwindet, und läuft mit hilflos ausgebreiteten Armen und schmerzverzerrtem Gesicht auf den Hotelflur. Seine Augen hat er mithilfe von festem Klebeband

zu Schlitzen verzogen. Ein junges Pärchen kommt Jakob entgegen, betrachtet ihn

eher erheitert als verärgert. Es gelingt uns, Jakob einzufangen, bevor er die Rezeption erreichen kann.

Dennoch bleibt sein Ausflug nicht unbemerkt. Der Hotelmanager bittet Katrin und

mich zu einem Gespräch. Im Hotelmanagerzimmer sitzend wird uns von der Verstörung, die Jakobs Verhalten bei den Urlaubern hervorruft, berichtet. Der Manager legt

uns nicht nahe abzureisen. Aber er lässt bedeutungsvolle Pausen, Leerstellen in seinen Schilderungen, die wir mit einer Entscheidung füllen sollen, beispielsweise jener

abzureisen.

Wir fühlen uns persönlich angegriffen. Was können wir für das Unbehagen der

Urlauber? Niemand sei zu Schaden gekommen, Jakob habe nicht falsch gehandelt.

Katrin und ich verteidigen unseren Sohn. Wir sind Löwen. Der Hotelmanager versucht, seine über Jahre gedrillte Freundlichkeit Kunden gegenüber zu bewahren.

Am Ende platzt ihm doch der Kragen. Er ruft, dass Jakob allerdings falsch gehandelt habe, was für ein geschmackloses Spektakel sei das denn gewesen, was für ein abnormaler Geist habe dieses Schauspiel ersonnen, was für gewissenlose Eltern

würden dies dulden, ob wir nicht verständen, wie ekelhaft das alles sei und dass es

sich nirgends gehören würde, schon gar nicht an einem Ort wie diesem.

Hier ist Urlaub!, ruft er.

Ja, was soll er denn spielen? Cowboy und Indianer?, rufe ich ebenso aufgebracht wie spitzfindig zurück. Katrin hat da schon das Büro des Hotelmanagers verlassen.

Das Verschwinden der Bilder

Wir reagieren trotzig und schimpfen den Manager einen Kleingeist. Doch als wir zurück im Hotelzimmer sind, ist klar, dass wir etwas unternehmen müssen. Jakob ist

nicht in der Lage, den allgemeinen Unmut über das Nachstellen der Bilder zu verstehen. Er ist ein Kind. Sein Verhalten ist ihm nicht anzulasten. Es sind die Bilder, die

Schuld tragen. Verschwinden sie, verschwindet das Unbehagen.

Wir verstauen die mitgebrachten Bücher – darunter die 101 Katastrophen – an

einem sicheren Ort. Auch Katrins Krimi muss daran glauben, da auf dem Umschlag

eine, wenn auch abstrahierte, doch deutlich als solche zu erkennende Leiche abgebildet ist. Katrin fällt es schwer, den Roman wegzugeben, gern hätte sie weiter darin

geschmökert.

Danach fühlt sich das Apartment rein, aber öde an. Es drängt uns hinaus. Als wir

die Lobby durchqueren, läuft auf dem Flachbildschirm ein Nachrichtensender. Ich bin

erstaunt. Weshalb sollte man in einem Hotel Nachrichten sehen wollen? Ist man als

Urlauber nicht hier, um alle Aufregung zu vermeiden? Als wir den Concierge bitten,

den Apparat auszuschalten, weigert er sich.

Ratlos schauen wir Eltern uns an. Wie können wir Jakob vor den Bildern schützen? Katrin hat eine Idee. Sie bedeckt Jakobs Augen mit ihren Händen, während ich

ihn durch die Lobby führe. Erst als wir im Freien sind, lassen wir unseren Sohn los.

Am Abend müssen wir feststellen, dass sich die Bücher nicht am sicheren Ort befinden. Wieder sind sie in Jakobs Bereich. Er blättert darin ohne jedes Anzeichen von

Reue.

Diesmal werde ich deutlich. Erst rufe, dann brülle ich. Es sei ihm verboten, die

Bücher zu beschauen. Woher nehme er das Recht, diese Order zu missachten? Was

wolle er damit beweisen?

Mir ist meine Lautstärke unangenehm. Ich bin kein Mensch, der schreit.

Auch an diesem Abend liegen wir lange wach. Katrin ist müde und kann nicht

schlafen. Sie vermisst das Lesen, sie vermisst den Krimi. Ihre Beine treten die Bettdecke, planlos schüttelt sie das Kissen auf, wälzt sich von einer Seite auf die andere.

Wenn sich unsere Blicke treffen, starrt sie mich an, demonstrativ, wie mir scheint.

Niemand trägt Schuld an unserer Unruhe. Jakob nicht. Wir nicht, denn sobald wir

das Problem erkannten, handelten wir umsichtig und mit nachvollziehbaren Maßnahmen. Dennoch ist die Stimmung gedrückt. Dabei ist Urlaub. Ich bitte Katrin, mir vom

Krimi zu erzählen. Vielleicht finden wir so in den Schlaf.

Der Detektiv

Zuerst weigert sich Katrin. Ich bleibe hartnäckig. Sie gibt nach und beschreibt den

Plot. Hauptfigur der Kriminalerzählung ist ein ehemaliger Polizist, der nach privaten

Problemen (tragischer Tod der Tochter, daraus folgend Zerwürfnis mit der Ehefrau,

Scheidung, Alkoholismus etc.) aus dem Dienst schied. Seither verdingt er sich als

Privatermittler. Zu Beginn der Geschichte wird er von einer jungen Frau engagiert.

Deren Vater soll sich selbst getötet haben. Doch die Tochter glaubt den offiziellen

Stellen nicht. Sie verdächtigt ihre Stiefmutter, den Vater ermordet zu haben, um an

dessen Vermögen zu gelangen.

An diesem Punkt unterbreche ich Katrin und erkläre, dass ich den Plot für einfallslos, geradezu schablonenhaft halte.

„So etwas haben wir schon hunderttausend Mal gelesen.“

„Willst du’s nun hören oder nicht?“

Als ich nicke, weil mich doch interessiert, wie es weitergeht, verweist Katrin auf die

Welt, in der die Kriminalerzählung spielt. In dieser Welt wurde zweifelsfrei festgestellt,

dass ein Leben nach dem Tod existiert.

In Folge dieser Erkenntnis kam es zu zahlreichen Selbstmorden. Ein beträchtlicher

Teil der Menschheit zog ein Leben nach dem Tod dem Leben vor dem Tod vor. So

erscheint der Suizid des Vaters in neuem Licht. Der Ermittler bleibt skeptisch. Vieles

deutet daraufhin, dass die Tochter ...

Wieder unterbreche ich Katrin. Ich will wissen, auf welche Weise das Leben nach

dem Tod zweifelsfrei festgestellt wurde. Die Antwort, die mir Katrin gibt, überzeugt

mich nicht. Sie ist hanebüchen. Ich äußere mein Missfallen, was wiederum Katrin in

Rage bringt. Ich kann ihren Ärger nachvollziehen. Zugleich erscheint mir meine Kritik

berechtigt. Wie kann ich mich ernsthaft auf eine Geschichte einlassen, wenn mir deren Ausgangssituation nicht glaubwürdig erscheint? Katrin sieht das pragmatisch. Ihr

stellt sich diese Frage nicht. Wenn sie liest, will sie ganz in der Fiktion versinken.

Wir einigen uns darauf, dass wir unterschiedlicher Meinung sind. Ich biete Katrin

an, von meinem Drehbuch zu erzählen. Sie winkt ab. Wir löschen das Licht. Keine

zwei Minuten später ist meine Frau eingeschlafen.

Der Vulkankegel

Im Hotel fühlen wir uns nicht länger willkommen: die Unterstellungen des Managers,

die Unlust des Concierges, die vorwurfsvollen Blicke der Urlauber, überall Flachbildschirme. Deshalb halten wir uns kaum mehr im Resort auf. Wir unternehmen Ausflüge in die Umgebung. Die menschenleere Natur soll Jakob erleben; die Salzwüste,

das Eiskraut, die Wolfsmilchgewächse, die Flechten auf dem Lavagestein, die fernen

Archipele, die Schönheit vorbeiziehender Wolken. Weitere Vorfälle bleiben so aus.

Wir entspannen. Allmählich stellt sich das erholsame Urlaubsgefühl der ersten Tage

wieder ein.

Bleibt der Vulkankegel. Mehrmals schon haben wir uns zu ihm aufgemacht. Stets

mussten wir den Aufstieg abbrechen. Doch je öfter wir scheiterten, desto größer

wurde mein Ehrgeiz, es bis zum Gipfel zu schaffen.

Am vorletzten Tag haben wir endlich Erfolg. Es riecht nach Schwefel, auf den

Hochebenen sehen wir die roten Blütenstände der Natternköpfe, die selbst an ausbrechende Vulkane erinnern. Wir passieren die Basaltrosen, steigen über steingewordene Eruptionen. Es ist still, wir sind die einzigen Menschen hier.

Nach einigen Stunden ist die Kegelspitze erreicht. Der Krater, das Massiv, die

Landschaft beeindrucken uns. Wir schauen auf die Insel hinab. In den sich matt bewegenden Punkten an den Stränden vermuten wir Urlauber.

Katrin hat Brote eingepackt, die wir hungrig verzehren. Genussvoll trinken wir

Wasser. Jakob wird schläfrig. Er schmiegt sich an Katrin, legt den Kopf in ihren

Schoß. Katrin lehnt sich an mich. Wie von selbst lege ich den Arm um ihre Schulter,

halte meine Frau fest, damit meinen Sohn.

Mir geht der Krimi nicht aus dem Kopf. Ich frage mich, warum der Ermittler, dem

das Leben so übel mitgespielt hat und der tagtäglich mit Grausamkeiten konfrontiert

ist, anstatt den Tod zu suchen, es vorzieht, am Leben zu bleiben und weiter die Barbarei zu ertragen. Der Tod hätte keine nachteiligen Folgen für ihn. Welcher Sinn besteht darin, weiterzumachen und das immer anwesende Böse auszuhalten?

Ich spüre meine Familie. Das leichte Auf und Ab von Jakobs Körper, sein Atmen,

Katrins Wärme, die Präsenz von beiden, hier auf dem Vulkan, um uns die Hochebene, das erloschene Feuer.

Wie würde ich an Stelle des Detektivs handeln? Wie an meiner?

Für den Moment packe ich Katrin und Jakob und werfe sie in den Kegel. Sie stürzen ohne Schrei. Ich warte, bis ich bereit bin, ihnen zu folgen. Gemeinsam fallen wir

durch den Schacht. Gestein zieht an uns vorbei, der Himmel wird kleiner, der Boden

öffnet sich, ein kalter Krater.

Kurz vor dem Aufprall friert das Bild ein. Wir hängen über dem Abgrund, gefangen im Fall, für Ewigkeiten wir drei.

Der Moment vergeht. Jakob schlägt die Augen auf. Er schaut zu Katrin. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, das Katrin ihrerseits zu einem Lächeln veranlasst.

Sie streichelt über seine Wange. Beide sind glücklich, ich bin es ebenfalls.

Vor dem Windschutz

Jakob zieht es wieder an den Strand. Er bittet darum. Unser Sohn. Seine großen,

grünen Augen. Familienurlaub am Meer. Er hat sich nichts weiter zu Schulden kommen lassen. Katrin und ich fühlen uns gewappnet. So entsprechen wir Jakobs

Wunsch, nicht ohne ihn ausdrücklich zu ermahnen. Hinter dem Windschutz soll er

bleiben.

Wellen rauschen, von der Promenade das Läuten des Eiscremewagens. Katrin

schlägt die Augen zu. Ich greife nach Stift und Notizblock. Die Geschichte muss weitergehen, sie hat noch kein Ende.

Jakob verlässt den Windschutz. Er läuft zum Meer, dahin, wo der Sand nass ist,

und kniet sich nieder, streicht über den feuchten Boden, greift aus dem Schlamm einen Klumpen, formt ihn zu einer geometrischen Figur.

Jakob spielt.

Ein erster Urlauber sieht ihn, ein zweiter. Ein kleiner Junge im Shirt, der eine

Sandburg baut.

So ist das Bild.

Noch immer eine touristisch erschlossene Küste, zahlreiche Badegäste auf

Handtüchern liegend, Familien, Ballspiele, Flirten, die schlendernden Urlauber. Im

Hintergrund, von der Promenade kommend, eine Gestalt. Um ihre Schultern eine

Sporttasche. Die Sporttasche auf den Sand gesetzt, wird geöffnet. Die Gestalt holt einen länglichen, schwarzen Gegenstand heraus. Nimmt diesen in die Hand, prüft.

Setzt den Weg fort, hin zu den Urlaubern auf ihren Liegen, den Badenden.

Ein erstes Geräusch. Noch eines unter vielen. Ein zweites, ein drittes. Allmählich

trennen die Urlauber das Geräusch von Mündungsknallen von den Geräuschen eines Urlaubstages. Sie drehen ihre Köpfe in Richtung der Schüsse und damit zur Gestalt. Die Gestalt zielt nicht. Sie richtet den Lauf auf das, was vor ihr ist. Urlauber auf

Liegen, Badende. Manche rennen instinktiv los. Andere erstarren, unfähig zur Bewegung.

Die Kulisse verändert sich. Die, die nicht die Gestalt sehen, sehen zumindest die

Rennenden. Ohne den Grund zu verstehen, ergreift sie Furcht. Angestellte des Resorts rufen in knappen englischen Worten Urlaubern Warnungen zu, weisen ihnen

vermeintlich sichere Wege. Die Kameras einiger Smartphones zeichnen auf.

Wer kann, flüchtet. Manche bleiben liegen. Manche von ihnen haben sich bewusst dafür entschieden. Einen erholsamen Urlaubstag haben sie angenommen, den

von der Sonne aufgeheizten Sand unter den Sohlen wollten sie spüren. Jetzt warten

sie still in diesem Sand und hoffen, dass die Stille sie retten wird.

Die Gestalt geht den Strand entlang. Sie zielt nicht, sie richtet. Nahe dem Wasser

liegt – regungslos, die Arme eng am Körper, die Handflächen nach oben, der Kopf

zur Seite gedreht – ein Kind im roten Shirt.

So ist das Bild, wieder ein Bild.