Stav Yehiel Szir
Kawana
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Pläne für mein zukünftiges Einkommen. Als meine Mutter mich darauf anspricht, bekomme ich eine Panikattacke. Im Online-Schach entfliehe ich der Hyperventilation und gebe jede Hoffnung für diesen Text auf. Dann sinke ich auf den Boden.
In Unterhose knie ich auf den Holzdielen. Der Druck an den Füssen zieht durch die Beine. Auf den Unterarmen abgestützt, verzahne ich die Finger: Schau mich an Gott, ich lade dich ein, schau meine Lächerlichkeit,die absackende Bauchwölbung, das Kinn, eingeklemmt zwischen Kiefer und Hals. Vater Unser bete ich auf Hebräisch. Avinu she ba shamayim. Ich bin dein Lehm, knete mich um. Das war gestern. Gestern war es ein anderer Text.
Heute, am Abgabetag, um 18 Uhr 10, schaue ich auf das Datum und verstehe, dass mir knappe sechs Stunden bleiben. Dass es ein improvisierter Versuch wird. Ein Un-möglicher. Über die erdrückende Anwesenheit der kommenden Krisen kann ich nur schreiben, weil die Toten uns vorausgehen. Hätten die Deutschen nicht versucht, meine Existenz zu verhindern, würde es mich nicht geben. Ich weiss nicht, ob ich in dieser Sprache eine Zukunft denken kann. Alles, was ich versuchen will, ist, mit beiden Händen die Wunde offen zu halten.
Nachmittags sehe ich mich auf einem Foto und erschrecke. Eingerahmt steht es auf dem Schreibtisch meines Sohns. Mama, Aba, Kind. Nicht die Erinnerung an die Trennung schneidet schmerzhaft, sondern das Leuchten: Mein Blick voller unverwelkter Möglichkeiten. Mein Sohn ruft mich zum Wasserturm, den er in ihrem Wohnzimmer aus Papprollen gebaut hat. Ich greif in meinen Bart. Ohne Spiegel weiß ich um die ermattete Geometrie meiner Augen. Im Wohnzimmer reparieren wir das abgerutschte Rohr.
Als ich kurz nach dem Abitur Vater geworden bin, gab es keinen Grund zur Sorglosigkeit, aber ich glaubte an eine Zukunft als Kette unvorhersehbarer Wendungen. Kendrick Lamar sagt: My life is a plot, twisted from directions that I can’t see. Ich liebe Kendrick, aber was ich heute sehe, ist unabwendbar: Wirklichkeitstrümmer um Wirklichkeitstrümmer stapeln sich ohne Halt. Jede zukünftige Krise ist schon da: im transzendenten Aggregatzustand der Angst. Es ist eine Angst, für die ich mich schäme. Sie hat sich so weit ausgebreitet, dass ich Tage verwechsle. Meine Urgrossmutter in Auschwitz hatte das Recht auf Angst. Ein Mensch auf einem überfüllten Boot im Mittelmeer oder im Klang des Raketenalarms hat das Recht. Aber ich?
Die Gesundheit meines Vaters, das leere Bankkonto, die Abweisung vom Crush, der Erfolg als Autor. Für meine persönlichsten Sorgen finden sich vielleicht Lösungen oder Trost. Dann kommen aber AfD und Inflation, Sintflut, Hitze, Pandemien und alle weiteren Symptome eines ‚Ende der Welt‘ — wie manche sie zu kennen glaubten. In der Serie ‚The Walking Dead‘ verschanzen sich die letzten Menschen in einem Hochsicherheitsgefängnis. In Vogelperspektive sieht man, wie die Zombies sich aus allen Richtungen gegen Zäune und Stacheldraht werfen. Um zu überleben, sperren wir uns selbst ein. Es fällt uns nicht bloß leichter, die Apokalypse zu imaginieren als eine gerechtere und gesündere Welt — die Imagination, nur im Gefängnis zu überleben, gestaltet die Wirklichkeit: in größerem und grausamerem Ausmaß an der sogenannten Europäischen Aussengrenze, mittelbarer als Luxus-Suiten in Dubai, nur um ein Beispiel zu nennen.
Vor wenigen Wochen sahen wir New York in Lachsfarben und glühendem Orange, in den Flammenschwaden kanadischer Wälder. Diese Tage sind es brennende Autos in Frankreich — die Feuer sozialer Ungerechtigkeit. Es erscheint kaum eine Meldung, die in Wort und Bild nicht Warnung ist. Die einzigen Orte, an denen die Katastrophen unserer Zeit nicht mit allen Sinnen und durch den ganzen Körper erfahrbar sind, sind Inseln: auf Ausbeutung gebaut und mit Gewalt verteidigt. Den Meldungen ausgesetzt, wird mein Kopf zum Gefängnis. Ich weiß, dass mit jeder kommenden Nachricht alles schlimmer geworden sein wird. Die Toten drängen durch die Augen ein.
Die Toten sind mir vorausgegangen. Die Wunden der nationalsozialistischen Verbrechen sind nie verheilt. Sie bleiben in jeder Minute Wohnung der Geister. Eine Katastrophe ist keine Möglichkeit, sondern die höchste Wahrscheinlichkeit. Ich kann mich in kein Bewusstsein hineinversetzen, für das eine Krise in der Zukunft liegen könnte. Wieso scheint jede Warnung zu scheitern?
Vielleicht hatte Adorno in seiner berühmten Aussage recht, dass sich nach Auschwitz kein Gedicht schreiben lässt. Nicht das Dichten an sich, sondern die Kraft des Wortes, das Geschehene zu erfassen und das Kommende begreifbar zu machen. Die Wirklichkeit hat jede schreckliche Möglichkeit der Fiktion übertroffen und übertrifft sie weiterhin. Wäre folgender Plot in einem Buch glaubhaft?
Der persönliche Koch Putins und Besitzer einer Catering–Firma marschiert mit seiner Privatarmee aus mörderischen Schwerverbrechern, mit einem Nazi als Oberkommandant Richtung Moskau. Es wird in den Medien als Hoffnungszeichen gewertet.
Oder: Um dem Gefängnis zu entgehen, paktiert der Premierminister Israels mit ultraorthodoxen Juden, die den Tempel in Jerusalem wieder aufbauen wollen, und rechtsextremen Terroristen, die eine jüdische Geheimpolizei fordern.
Diesen Roman würde kein Verlag drucken.
Es scheint, als ob weder Berichte aus der Gegenwart noch Warnungen über Krisen der Zukunft zu einer Wende führen können. Zumindest nicht rechtzeitig. In der Bestrebung, durch Sprache eine gerechtere Welt zu erreichen, sehen wir das Gegenteil eintreten: In den USA werden Bücher verboten, in Deutschland gewinnt die AfD, eine Partei, die das Gendern zum Feind erhoben hat. Wieder nur Beispiele.
Die Universitäten, historisch betrachtet ein Ort, an dem Visionen entwickelt werden, sind erkrankt. Vorgestern erst, am 28.6.23, meldet ‚Die Zeit‘: Mehr als jedem dritten Studierenden droht ein Burn-Out. Innerhalb von drei Jahren stieg der Anteil der Studierenden, die Antidepressiva verschrieben bekommen, um30 %. Ich erlebe es nicht nur am eigenen Leib, sondern auch im Freundeskreis. Die Hintergründe dieser Zahlen sind sicherlich komplex, doch, von ihrer Interpretation unabhängig, an sich deprimierend. Ist es an der Zeit, jede Hoffnung und Vertrauen in das Wort, in die Sprache, in die Kunst aufzugeben?
Der Schriftsteller Elie Wiesel schreibt von einer absoluten Perversion der Sprache[1], die mit dem Euphemismus im Nazi-Jargon einsetzte: „Spezialbehandlung“. „Wiedervermietung“. „Nacht und Nebel“. Und heute? Heute sind wir von einer Dauerbeschallung umgeben. Der Mensch, der ständig so viele Stimmen hört, vernimmt am Ende keine einzige mehr und sicher nicht einmal mehr seine eigene.[2]Wir sind mit einer Sprache konfrontiert, die durch Lüge und Gewalt ausgehöhlt wurde und weiter ausgehöhlt wird. Wir sind der Sintflut einer ausgehöhlten Sprache ausgesetzt.
Während es die Sprache ist, die uns von der Wahrheit und Hoffnung auf eine bessere Welt trennt, ist sie auch die einzige Verbindung. So groß auch die Versprechen der Naturwissenschaften und der Informatik, der Genforschung und der KIs sind: Wir erleben nicht nur das Gegenüber, die Ereignisse und Gedanken der Welt durch Worte, sondern auch uns selbst. Wir gestalten unsere eigene Zukunft durch die Art und Weise, in der wir mit uns selbst sprechen.
Mit welcher Sprache, welchen Erzählungen und Bildern macht ihr kommende Krisen und Kipppunkte erfahrbar? Diese Frage ist Aufgabe des Textes. Für mich ist die wesentliche Frage: Mit welcher Sprache kann ich kommende Krisen und Kipppunkte überhaupt erfahren? Wie finde ich zu einer Sprache, der ich vertrauen, in der ich die Wirklichkeit der Krise erleben kann?
Es ist die Frage nach der Öffnung der Gefängnistore im eigenen Kopf. Nach einer Sprache, die nicht die Angst vor der Angst heraufbeschwört. Nach einer Sprache, die weder verdeckt noch verrät.
In der letzten Stunde, die mir noch zu schreiben bleibt, 22:55, weiß ich, wieviel ungesagt bleiben wird.
Alles, was bleibt, ist, vom Gebet zu sprechen.
Die natürliche Reaktion nicht-religiöser Menschen auf den Impuls, im Anblick der Krise zu beten, lautet wahrscheinlich: Ein Gebet kann jetzt auch nicht mehr helfen.
Elie Wiesel erinnert sich, wie in der fahlen Morgendämmerung in Auschwitz Menschen in der Schlange standen, um Gebetsriemen anzulegen. Wie sie an den Festtagen die Lobeshymnen flüsterten, den Kaddish sprachen und sich den Massengräbern zuwandten. Das Gebet ist eine Sprache, die selbst von der größten Vernichtungsmaschine der Menschheit nicht ausgelöscht werden konnte.
Wiesel schreibt über das Verhältnis von Literatur und Gebet: Beide haben im dunkelsten und geheimnisvollsten Bezirk unseres Wesens ihre Wurzeln.[3] […] beide schöpfen aus derselben gemeinsamen Quelle, wo Wortgeräusch sich zur Sprache formt. Dasjenige, was wir im Schreiben die Inspiration nennen, ist im jüdischen Beten die Kawana, das freie Herzensgebet.
Auch mir fällt es schwer zu beten. Auch mir haben Macht und Gewalt der Religionen die Möglichkeit des unbefangenen Glaubens genommen. Wenn ich vom Gebet schreibe, meine ich nicht die Anbetung eines patriarchalen Gottesherrschers. Ich meine auch nicht das Gebet, das sich um eine Wirkung bemüht.
Vielleicht ist die Entfernung zwischen den Worten und ihrem Sinn heute größer als von der Erde zum Mars. Das Gebet ist die aufmerksamste Zuwendung zu den Worten. Der Bereich ihrer intimsten Nähe. Das Gebet ist Aufmerksamkeit.
Solange wir Krisen, Kipppunkte, Katastrophen als Wort- und Bildflut erfahren, als Abschaffungsmaschine unserer Aufmerksamkeit, können wir sie weder beschreiben noch erfahren. Sogar dann, wenn sie uns persönlich treffen, laufen wir Gefahr, bloss ausgehöhlte Worte vorzufinden. Es ist kein Zufall, dass Franz Kafkas Texte als prophetisch bezeichnet werden: Er nannte sein Schreiben Gebet. Es gilt, den Worten in Demut, in Reue und Hingabe zu begegnen, damit die prophetische Fantasie eintreten kann.
Auch wenn dieser Text in größter Eile und mit zahlreichen Unachtsamkeiten geschrieben wurde, so weiß ich, dass zumindest das Beten nicht als Trost, aber als Zukunft entgegenkommt.
23:53. Heute wird gleich gestern sein. Meine Augen sind noch matt, aber ihre Geometrie kann sich verändern. Die letzten Jahre hatte ich solche Angst, dass ich das Abendgebet meines Sohnes nicht kenne. Ich habe so viele Krisen und Kipppunkte verpasst, dass ich keine Ahnung habe, wie es passieren konnte. Ich kannte kein Gebet. Morgen Abend werde ich mit ihm beten. Es ist das Wunder.
[1] Wiesel, Elie: Macht Gebete aus meinen Geschichten, Freiburg, 1986. S. 18.
[2] Ebd. S. 16.
[3] Wiesel, S. 24.