Sophia Strasser
Dreißig Jahre
Als er aufwachte, war seine Zunge ein trockener Klumpen, der am Gaumen klebte. Er spürte scharfe Sandkörner an seinen Zähnen. Heute würde es heiß werden. Schon bei den ersten bewussten Atemzügen brannte der Staub in seinen Lungen. Er schluckte hart, es schien, als wäre in dieser Wüste nun auch sein Speichel versiegt. Er schluckte noch einmal, verscheuchte den Gedanken an Wasser. Mittags würde die Sonne wieder vom Himmel herabglühen, den Boden in ihrer Erbarmungslosigkeit versengen. Er war müde, unendlich müde. Aber die Rufe des Muezzins riefen die Bewegungen seines Körpers hervor, ohne dass er auch nur darüber nachdenken musste. Er erhob sich von seiner Matte, mühsam, seine steifen Glieder mussten sich erst erinnern, dass sie Gelenke hatten, und wandte seinen Körper gegen Osten. Die Bewegungen liefen von allein ab, seine Gedanken noch weit weg. Er hörte die Worte des Gebets, ihren beruhigenden Rhythmus, langsam begannen auch seine Gedanken, ihren gewohnten Weg zu gehen.
Als erstes dachte er an sie. Ihr Gesicht war ihm immer vor Augen, es war das erste Bild, wenn er aufwachte, und das letzte, bevor er einschlief. Oft sah er sie auch im Traum, wie diese Nacht. Es war immer derselbe Traum. Als würde selbst seinen Gedanken nichts Neues mehr einfallen, brachten sie immer nur denselben Traum hervor, und er durchlebte ihn fast jede Nacht. Er versuchte sich zu konzentrieren auf die Worte, aber heute waren seine Gedanken wieder nicht zu bändigen, hartnäckig blieben sie immer bei ihr und kamen zu ihr zurück. Noch immer wandte er sich jeden Morgen auf die Seite und war wieder kurz verwundert, sie nicht dort an ihrem Platz neben ihm liegen zu sehen. Aber sie war fort, schon seit sieben Jahren.
Das Gebet war zu Ende. Er richtete sich langsam auf.
Sie hatte ihn alleingelassen. Hier, an diesem trostlosen Ort, zu dem er sie geführt hatte. Er hatte ihr versprochen, dass es besser werden würde. Dass alles besser war, als zu bleiben. Er hatte ihr versprochen, dass sie sicher sein würden. Sie hatte es ihm nie geglaubt, er wusste es. Sie hatte es nie gesagt, aber er sah den Zweifel in ihren Augen in der Art, wie sie ihren Blick von ihm abwandte und über den Horizont schweifen ließ, skeptisch, ob sich irgendwo dahinter ein Ort verbarg, der ihr Zuhause werden würde. Aber sie war mit ihm gegangen.
Er hatte die Angst nicht mehr ertragen. Diese Angst, die sein Innerstes gefror, seinen Magen erstarren ließ. Tagelang hatte er oft nichts gegessen, kaum etwas getrunken. Wochenlang hatte er sich versteckt in ihrem Haus und sie alle mussten so tun, als ob er nicht da wäre. Sie kamen auch, um ihn zu suchen. Die Schreie seiner Frau hatten sich in ihn eingebrannt wie heiße Eisen. Die Kinder schrien nicht. Als sie weg waren, brauchte er Stunden, um sie zu beruhigen. Sie hockten in der Ecke und hielten sich die Ohren zu. Sie fragten nicht, was vorgefallen war. Aber in ihren Augen stand die nackte Angst. Von da an klammerten sie sich nachts an ihre Mutter, wichen ihr tagsüber kaum von der Seite. Ihre großen dunklen Augen, der fragende Blick. Er wusste nicht, ob sie ihnen je verziehen hatten.
Er klopfte sich den Staub aus den verschlissenen Kleidern und von der Matte. Dann trat er ins Freie. Der Himmel war grau verschleiert, gefüllt mit Wolken und Staub. Man konnte die Sonne nicht erkennen, das konnte man fast nie, aber sie ließ niemanden ihre Gegenwart vergessen. Schon ein Blick zum Himmel blendete seine Augen so, dass er sie mit der Hand schützen musste. Wieder ein Tag. Es fiel ihm nicht gleich ein, welcher. Es zählte nicht. Er zählte sie nicht mehr. Er zählte nicht einmal mehr die Jahre. Die Tage vergingen einfach, verrannen zwischen seinen knotigen Fingern und wurden zum staubigen Sand, der in die Falten der Kleider und unter die Fingernägel kroch, der die Lungen vertrocknete und zwischen den Zähnen knirschte. Irgendwann würde auch er zu diesem Sand werden. Er fühlte den Tag immer näherkommen.
Er machte seinen täglichen Rundgang. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Er hatte keine Eile. Er ging nur, um seine Glieder vor der völligen Versteifung zu bewahren, wie er es bei anderen gesehen hatte, die schließlich nicht nur an diesem Ort, sondern auch in ihrem eigenen Körper vollends gefangen waren. Als erstes ging er um sein Zelt herum. Er begutachtete seine Schlafstatt, überprüfte, ob die Ratten noch mehr Löcher in die Plane gebissen hatten. Sie hatte es nie „ihr“ Zelt genannt, die ganzen Jahre über sprach sie nur von „dem“ Zelt, aber sie vermied es, überhaupt darüber zu sprechen, und klopfte nur jeden Morgen den Sand aus der Plane, stopfte die neuen Löcher mit herumfliegenden Resten, als ob es einen Unterschied machte. Die Zelte neben ihm sahen aus wie seines. Eine weißliche, sandige Plane, über Holzstecken gebreitet. Löcher, die mit Fetzen anderer Planen verdeckt worden waren. Hier ein grauer Fleck, dort ein bräunlicher, eine Wolldecke, die der Sand grau verfärbt hatte. Notdürftige Schlafstätten, durch die der Wind pfiff und in die mit der Kälte der Nacht auch die Ratten und Schlangen hereinkrochen und um die schlafenden Körper herumstrichen. Er wandte den Blick ab, ließ die Zelte in seinem Blickfeld verschwimmen zu milchigen Flecken. Er wollte nicht darüber nachdenken. Es machte keinen Unterschied.
Sein Gang führte ihn weiter entlang der Zelte, vorbei an noch kleineren, aber auch vorbei an den Hütten, niedrige, türlose Häuschen aus grauen Steinen. Vorbei an ihren Bewohner:innen, Männer, die vor ihrer Schlafstatt saßen und grüne Blätter kauten, Frauen, die die blauen Matten ausklopften, eine Mutter stillte ihren Säugling, er war wohl erst zur Welt gekommen. Würde er je etwas anderes sehen? Bevor der Gedanke ihn mit Schmerz erfüllen konnte, wandte er den Blick ab und schlurfte weiter. Auf dem kleinen Hügel konnte man ein Stück weit sehen. Zelte, so weit das Auge reichte. Aneinandergedrängt, schief und armselig standen sie da. Die niedrigen Hütten in strengen Reihen und regelmäßigen Abständen, jede wie die andere. Dazwischen kleine Straßen, die die Behausungen teilten. Eine Straße führte hinaus. Sie hatte Schlaglöcher, groß wie Felskrater. Sie war lang, viel zu lang für seine müden Füße. Trotz der vielen Menschen war kein Leben in den Behausungen. Niemand lebte hier. Es war kein Zuhause. Es war der Ort der verschwindenden Hoffnung.
Sie waren so jung, als sie gekommen waren. Er hatte sie hergeführt. Sie war mit ihm gegangen, obwohl sie nie wegwollte, den Ort nicht verlassen, den Gott ihnen als ihre Heimat gegeben hatte. Das Schlimmste war, die Kinder zurückzulassen. Sie taten es trotzdem. Die Nacht, in der ihr Herz brach und nie wieder heilte. Sie hatten es immer wieder durchgesprochen. Der Weg war zu gefährlich für die Kinder. Sie waren sich einig, dass sie ihnen das nicht antun würden. Seine Schwester würde sich um sie kümmern. Bis sie nachkommen konnten. Einige Wochen lang hatten sie sie immer zu ihrer Tante gebracht, damit sie sich daran gewöhnten. In dieser Nacht brachte sie die Kinder allein zu ihr, während er das kleine Bündel zusammenpackte. Er war weniger streng mit ihnen gewesen in den letzten Tagen. Hatte versucht, Zeit mit ihnen zu verbringen. Sie merkten, dass etwas nicht stimmte, das wusste er. Er hätte ihnen gerne eine Nachricht hinterlassen, in der er es ihnen erklärte. Dass es nicht für immer war. Dass er nur das Beste für sie wollte. Eine bessere Zukunft. Sie würden es jetzt nicht verstehen, aber später. Sie würden sehen, wofür es gut war. Und dass er sie liebte, er wollte es ihnen sagen. Aber sie konnten beide nicht schreiben und die Kinder nicht lesen. Er würde es ihnen selbst erklären, in wenigen Jahren. Sie hatte auf dem Rückweg von der Tante geweint, aber jetzt war ihr Blick eisern. „Gehen wir mit Gott“, sagte sie.
Von weitem sah er das Auto kommen. Es kroch die Straße herauf, die aus dem Lager führte, suchte sich einen Weg um die metertiefen Schlaglöcher. Die Leute der Organisation kamen regelmäßig und fuhren wieder. Sie verteilten blaue Matten an die Neuen. Sonst taten sie wenig, verschwanden in ihrer Hütte, der größten, stabilsten, und vermaßen etwas, installierten Apparate und bauten sie wieder ab, sprachen mit den Leuten oder ignorierten sie geflissentlich. Er hatte ihnen zugesehen, all die Jahre lang und einen gewissen Rhythmus erkannt. Es kamen neue, sie stellten neue Apparate auf. Dann kurzer Stillstand. Dann kamen andere, sie bauten die Apparate wieder ab. In all den Jahrzehnten hatten sich nur ihre Autos verbessert. Und jetzt waren manchmal Frauen dabei.
In ihrer Hütte befand sich ein riesiges Regal, daneben noch eines, ein ganzer Raum voller Regale. Sie waren befüllt mit blauen Matten. Sie stapelten sich bis zur Decke, eine jede zusammengerollt und in Plastik eingeschweißt, der weiße Schriftzug darauf noch gut lesbar. Die Matten waren wohl das Einzige, woran es hier nicht mangelte, und sie sorgten regelmäßig dafür, dass sie nicht zu wenig wurden. Schon oft hatte er ihnen geholfen, die blauen Pakete aus großen Kisten in die Regale zu räumen, dicht an dicht, jederzeit griffbereit. Die meisten der Europäer waren jung, und alle lachten sie zu viel. Die ebenmäßigen Zähne im weißen Gesicht, umrahmt von blassen Lippen, die sich selbst im Ernst immer wieder zu einem Lächeln verzogen. Wie sie ihm lächelnd dankten, wenn er ihnen behilflich war beim Umladen der Matten, beim Abbau alter Gerätschaften und beim Aufbau der neuen. Der ungläubige Blick, wenn er ihnen erzählte, wie lange er schon hier war, der Mund, der sich zu einem O formte. Die Mundwinkel, die sich doch wieder in Richtung der Ohren verzogen zu einem selbstsicheren Lächeln. Er hörte nicht mehr zu, wenn sie dann weitersprachen. Nichts würden sie ändern. Über die Jahre hatte er gelernt, dass die Europäer vor allem naiv waren. Sie glaubten wirklich, sie hätten Einfluss auf die Welt.
Sie hatte immer davon geträumt, Europa. Sie schwieg darüber, aber er sah es an ihrem Blick, den sie nie von ihnen abwandte, sobald sie da waren. Wie ihre Augen an den sauberen Hemden und den ledernen Sandalen hingen, wie sie ihre Bewegungen studierte und der fremden Sprache lauschte. „Bring mir Englisch bei“, forderte sie manchmal. Aber ihre Zunge war schwer, die Wörter sperrig in ihrem Mund. Sie vergaß die meisten bald wieder.
Er setzte sich auf den Boden und betrachtete seine Füße. Sie waren knochig und krumm. Seine Zehen bohrten sich in den Sand, versanken darin und tauchten wieder auf. Er spürte, wie die rauen Körner an seiner trockenen Haut schmirgelten. Die Zehen verschwanden, wenn er sie krümmte, tiefer im heißen Boden. Dort unten war der Sand auch schon warm. Wenn er sie hob, tauchten sie wieder auf, die Nägel bedeckt von einzelnen Körnern, die langsam herabrieselten.
Die Jahre, in denen sie das Café hatten, waren die besseren gewesen. Es war ihre Idee gewesen, natürlich. Jeden Tag war sie nach dem Morgengebet Wasser holen gegangen. Stundenlang schleppte sie es auf dem Kopf bis zu ihrem Zelt. Dann saß sie davor und mahlte Bohnen in ihrem kleinen Mörser, bis sie einen ordentlichen Haufen zusammen hatte. Sie brauchte das Wasser nicht nur für den Kaffee, sondern auch für den Teig. Den bereitete sie zu und heizte das Feuer ein. Sie braute Kaffee und buk Fladen aus Maismehl über dem Feuertopf. Sie hatten ihre Stammkundschaft. Jeden Tag saß er mit ihnen um ihr Café, das gar kein Café war, sondern nur ein weiteres Zelt und ihr heißer Glutofen. Sie hockten im Kreis auf dem Boden und redeten. Freitags kauten sie Kath. Das grüne Kraut füllte die Leere in ihren Mägen und in ihrer Seele. Dann fanden sie Worte für ihre Hoffnungslosigkeit. Wie es war, jeden Tag zu warten. Dass sie es nicht mehr aushielten. Mit Kath verging die Zeit, ohne dass sie es merkten. Wenn die Männer so redeten, fuhr sie dazwischen. Sie hasste es, wenn sie sentimental wurden. Dann scheuchte sie sie auf, nannte sie schwach und schimpfte auf das grüne Zeug.
Er sah, dass Neue gekommen waren. Fünf junge Männer, schon wieder junge Männer. Sie waren so alt wie sein Sohn. Sie hockten im großen Hauptzelt auf blauen Isomatten, tiefe Falten eingegraben in den ausgezehrten Gesichtern. Die Augen müde und schwer, aber sie sahen sich um, inspizierten ihre Umgebung und redeten leise miteinander. Sie redeten viel für ihre Erschöpfung. Sie würden noch verstummen, er wusste, wie es war. Wie sie kamen, als junge Männer, ausgezehrt, geschwächt, manchmal verletzt. Wie sie ihre blauen Matten entgegennahmen. Sie bemerkten noch nicht die stumpfen Blicke der anderen. In ihnen waren noch die Angst und die frischen Wunden der jüngsten Erlebnisse, die nachts wieder aufrissen. Die sie schreiend und mit verkrampften Gliedern aufwachen ließen. Es dauerte dreißig Jahre, bis sie vernarbten. Fleischige, eitrige Geschwülste in der Seele, die durch die kleinsten Erschütterungen ihren ätzenden Saft unaufhaltsam in ihr ausschütteten. Die Schreie der Alpträume gehörten genauso zur nächtlichen Geräuschkulisse dieses Orts wie der Lärm der Grillen und das Kreischen kämpfender Ratten. Schlimmer als die Angst war die Hoffnung, die schwand, und die Leere, die darauf folgte. Anfangs redeten sie viel. Dann wurden sie stiller. Und dann wütend. Die Wut war das letzte Aufleben ihrer Seele. Schreiend äußerten sie ihre Verzweiflung, ihre Seelen beklagten den Verlust ihrer Nahrung, der Hoffnung. Ohne Unterlass schlugen sie auf etwas ein, einen Wasserkanister, ein Stück Holz, manche schlugen ihr Zelt kurz und klein, sie schlugen und schlugen, schrien, zerkratzten sich das Gesicht, bis sie nicht mehr konnten. Das war das Ende. Weinend lagen sie am Boden, Sand im Gesicht. Nach ein paar Stunden standen sie wieder auf, aber sie waren nicht mehr wie vorher. Die Wüste hatte sie besiegt. Sie waren zu den Geistern geworden, die dieses Lager bewohnten. Hoffnungslose Seelen, gefangen im Nirgendwo, im ewigen Dazwischen, an diesem Ort, der die Welt nicht interessiert. Es zerstörte jeden, das wusste er. Nach einem Jahrzehnt schon gingen viele zugrunde. Aber er war noch hier. Er wusste nicht, warum.
Manchmal half er den Leuten der Organisation. Er räumte Matten in das blaue Regal, gemeinsam mit einem der neuen Europäer. Seine Statur schmal und schlank, fast die eines Jungen. Er trug beige Kleidung, die dunkelblonden Locken kurz geschnitten und seine Haut war gebräunt, dunkler als seine hellen Kleider, dunkler als der weiße Wüstensand. Ihm fielen seine Augen auf. Sie waren ozeanfarben, ihr helles Blau bildete einen stechenden Kontrast zur weißen Haut. Eine tiefe Falte lag eingegraben zwischen seinen Brauen. Sie passte nicht zu dem jungen Gesicht. Sie räumten gemeinsam blaue Matten in das Regal. Er sprach erst, als sie schon fast fertig waren. Er sagte seinen Namen und fragte nach seinem. Es war nicht sein erster Auslandseinsatz für die Organisation. Er sagte nicht, dass er glücklich war, hier zu sein. Als er ihm eine Matte reichte, sah er, dass die Haare auf seinen schmalen Handrücken golden waren. Er mochte so alt sein wie sein Sohn.
Sie. Ihr Sohn. Sein Gesicht, das in seiner Vorstellung immer noch das eines kleinen Jungen war. Die dunklen Augen. Das drahtige Haar. Ob es mittlerweile auch schon ergraute? Er hatte erfahren, dass er selbst Kinder hatte. Seine Enkel, die alle aussahen wie sein Sohn damals. Sie wuchsen ohne ihn auf. Sie kannten ihn nicht. Er hatte sie nie spielen sehen, nie hatten sie sich an seine Beine geklammert, sich hinter seinem Rücken versteckt, nie hatte er sie getröstet und ihre Tränen aus den weichen Gesichtern gewischt. Er war nichts für sie, er war ihnen nicht wichtig, und sie dachten nicht an ihn. Er wusste nicht, ob sie gesund waren oder krank, ob ihnen der Hunger sehr zusetzte oder ob sie genug bekamen. Sie wuchsen in diesem verfluchten Land auf, das nur Dürren oder Überschwemmungen kannte. In dem die Kadaver der Kühe nach einem plötzlichen Regenfall, wenn die rote Erde ergrünte, mit aufgedunsenen Bäuchen und einem Grasbüschel im schaumigen Maul herumlagen und zwischen den braunen Hütten verfaulten. Er stellte sich vor, wie sie dazwischen herumliefen und ihre Eltern mit fragenden Augen ansahen, weil sie nicht verstanden, was geschah. Für sie war er fortgegangen, weg aus diesem Land, in dem kein Leben möglich war, in dem die Menschen nur überlebten. Für sie hatte er hier ausgeharrt, gewartet, endlos gewartet, er wollte ihnen endlich geben, was er schon ihrem Vater ermöglichen wollte. Aber er war hier, immer noch hier, für immer hier, unerreichbar weit weg, und er konnte nichts erreichen, es gab keinen Weg heraus … Oh Allah, wo bist du? Ich bin hier. Du weißt, wo mein Weg und mein rechter Platz sind.
„Wie schaffst du es, dass du nicht verrückt wirst?“, hatte der Europäer gefragt. Er wusste nicht, woher die Antwort kam. Er sprach diese Dinge nicht aus. „Gott“, sagte er. „Ich bete zu Gott.“
Aber dann war sie krank geworden. Eines Tages brach sie beim Wasserholen zusammen. Ihre Haut schien sich dem Wüstensand angepasst zu haben, bräunlich grau, aschig, fahl. Ihr stahlharter Blick war gebrochen. Die Schmerzen fesselten sie an ihre blaue Matte, ihre Hand umklammerte die Seine nur noch mit schwachem Griff. Er hatte alles versucht. Natürlich konnten sie ihr nicht helfen. Er gab alles Geld, das sie in vielen Jahren mühsam in ihrem Restaurant zusammengeschuftet hatten, für Medizin aus. Jeden Tag stand er vor der Hütte der Organisation, redete, fragte, bettelte. Es kamen Ärzte, um sie anzusehen. Hepatitis B. Sie hätte ein Krankenhaus gebraucht. Aber hier gab es keines. Hier gab es nur ein weiteres Zelt mit weißer Plane, darin eine Liege, auf die sie sie gelegt hatten. Sie gaben ihr etwas gegen die Schmerzen. Er hielt ihre Hand bis zum Ende und betete ohne Unterlass. Das Gebet hatte seine Füße bis zu diesem Ort getragen. Die Dunkelheit durchwachter Nächte mit beruhigendem Rhythmus gefüllt. Seiner Zunge eine Beschäftigung gegeben, wenn er sie vor Hunger selbst zerbeißen wollte. Seinen Speichel in Bewegung gebracht, wenn sein Mund vor Durst verdorrte. Seinen Gedanken Halt gegeben, wenn er in einem Strudel aus Angst zu versinken drohte. Das Gebet brachte ihn auch durch diese Nacht. Er begrub die letzte Hoffnung mit den Überresten ihres eingefallenen Körpers.
Seitdem war er allein, ganz allein. Er konnte nirgends hin. Er hatte nichts zu tun. Er hatte keine Hoffnung mehr. Dreißig Jahre war er hier. Es war egal, dass heute war. Gestern war wie heute, morgen würde wie vorgestern sein. Er würde dieses Lager nie verlassen, niemals ein besseres Leben führen. Er fühlte seinen Tod näherkommen. Er wollte nicht hier sterben.
Er bat die Organisation um eine Rückführung in sein Land. Er wollte zu seinem Sohn. Wenigstens bei ihm sterben, wenn sie schon kein Leben geteilt hatten. Er fragte den Europäer. Aber die Welt war in einer Pandemie. Niemand durfte ausreisen. Niemand, der nicht jemand war. Die Augen des Jungen blickten ihn an aus ihren tiefen Höhlen. Der Ozean war dunkel und tieftraurig. Man wollte ihn nicht hier haben, aber auch nicht dort. Seine Tränen schmeckten nach Meer.
Mühsam erhob er sich aus dem hellen Sand. Seine trüben Augen blickten auf die Geisterstadt. Ein milchiger Film überzog die dunkle Iris, wie Nebel über einem tiefen See. Der Blick getrübt und sich allen Blicken entziehend, sah er auf die Welt. Er sah nie direkt hin. Seine Augen suchten das Weite, oder er war in sich gekehrt. Langsam ging er zurück. Es war noch nicht einmal mittags.