Rudi Nuss

Nebenan, die Weite

Das Loch versteckte sich hinter einer Fliese, die von der Badezimmerwand herunter-

fiel und am Boden zersprang. Mischa zeigt mir das Loch in seiner Wohnung. Ich

schaue hindurch in die Dunkelheit des sich nun offenbarten, unbekannten Raumes.

Die Wand des Badezimmers, sie war Illusion – dahinter geht es tatsächlich weiter.

Mischa hat verschiedene Theorien, was sich dort verbergen mag: vielleicht ein

obskures Mausoleum vom Vormieter oder ein Schrein für eine längst vergessene

Gottheit oder jemand lebt in diesem kleinen Zimmer, ernährt sich von M&Ms und

Sprite aus dem Automaten im Flur und krabbelt durch das Belüftungssystem der

Wohnanlage oder man gelangt durch das Loch in eine geheime andere Realität, die

subkutan unter der Oberfläche der Wirklichkeit verläuft und jetzt anfängt, Risse zu

bilden. Mischa entschließt sich, die restlichen Fliesen zu entfernen und das Loch zu

vergrößern. Er hat sich improvisiertes Werkzeug aus Besteck zurechtgelegt. Seine

Wohnung sieht schlimm aus. Überall liegen benutzte Taschentücher, Zigaretten-

asche und ungelesene abonnierte Zeitschriften. Zu Essen findet man bei ihm ledig-

lich Nachos mit Käsepulver, Kondensmilch und Schmelzkäseerzeugnisse. Ich gehe

nachher etwas frisches Gemüse vom Markt kaufen und werde für Mischa kochen.

Dann werden wir Sex haben. Er ist immer sehr nervös dabei, aber ich zeige ihm, was

er zu tun hat. Die Weihnachtsbeleuchtung hängt noch am Fenster.

Der Frühling ist da. Sobald die Temperaturen erstmalig auf über zehn Grad steigen,

versammelt sich eine Gruppe aus Männern jeden Abend auf den Bänken in der Nähe

des Tümpels, trinkt Schnaps, isst Pombär Ketchup Style und hört Techno. Erstmal

kein ungewöhnlicher Anblick, beim genaueren Hinsehen bemerkt man dann aber die

vollautomatischen Maschinengewehre, die sich die Männer umgeschnallt haben. Der

Wohnblock ist autonome Wohnzone. Jeder Vertreter der Wohnungsbaugesellschaft

wird beim Überqueren der Grenze erschossen. Seit Monaten zahlen wir keine Miete

mehr, wir dekorierten die Flure mit Pflanzen, Graffiti und Sofas, feiern ausgiebige

Feste zwischen den Wohneinheiten und rufen über einen Piratensender das neue

Wohnzeitalter aus: Jeder, der einen Platz zum Leben braucht, solle kommen.

Touristen werden erschossen.

Ich habe keine eigene Wohnung, sondern durchwandere den Komplex, kümmere

mich um einsame Seelen und schlafe auf den Couchen tausender Menschen.

Das geheime Zimmer, das Mischa und ich entdeckt haben, wird von der einen Seite

von seinem Bad und auf der anderen Seite von Emalias Wohnzimmer begrenzt. Bei

Emalia schaue ich jeden Tag vorbei – inzwischen haben die Katzen große Teile der

Couch zerfetzt, sodass das Innenfutter zu Tage tritt, welches die Katzen fressen und

wieder auskotzen. Seit Emalia vor einigen Wochen an einer sehr seltenen Krankheit

an einem für das Überleben nicht notwendigen Organ verstarb, kümmere ich mich

um die neun Tiere. Emalia lebte seit dem Tod ihres Mannes Eduardo alleine in der

vierzig Quadratmeter großen Wohnung und war mit einigen Dingen überfordert und

verirrte sich des Öfteren im Wohnkomplex. Ich kaufte für sie ein und putzte einmal

wöchentlich das blaue Linoleum in ihrer Wohnung mit Waschlappen, die Emalia aus

den alten Hemden von Eduardo schnitt. Emalia schaute die meiste Zeit Fernsehen,

alte Serien mit amerikanischen Privatdetektiven, die eine absolute Struktur in den

Nebel ihres Geistes brachten und das Gefühl, dass Gerechtigkeit real und konkret

sei. Und so behalte ich sie auch in Erinnerung: Vor dem Fernseher sitzend. Das

letzte Mal, dass ich sie sah, da saßen wir auf der Couch, sie war leicht high von ihren

Medikamenten und wir schauten eine Dokureihe über Menschen, die in Wäldern le-

ben und sich nur von Wildbeeren und Moos ernähren und sich Zelte aus radioaktiv

verstrahltem Schrott bauen. Wir redeten nicht. Im hereinfallenden Licht tanzte Staub

und Katzenhaar. Wir schauten in das blaustichige Fernsehbild und in den Pixeln des

Bildschirms sah ich für eine Sekunde eine merkwürdige Interferenz, ein aufflackern-

des Bild einer anderen Gesellschaft, einer ganz anderen Welt mit acht Monden, de-

ren Gezeitenkräfte dafür sorgen, dass alle Dinge jener Welt um etwa 45 Grad ange-

winkelt sind: Häuser, Menschen, Bäume. Sie sind alle schief. Und ihre Schiefe ist al-

les, was sie kennen. In ihr wirkt die Welt trauriger. Aber es hat auch etwas Beruhi-

gendes, nicht ordentlich orthogonal zum Boden, sondern wie im Fallen fixiert zur

Welt zu stehen. Ich glaube, ich hatte an diesem Tag etwas gesehen, das ich nicht

hätte sehen dürfen, und das ich jetzt immer bei mir trage in entlegenen Winkeln mei-

nes Hirns.

Emalia war fest davon überzeugt, dass sich die Seele ihres Ehegatten Eduardo im

Moment seines Todes in neun Teile aufgespalten und sich gleichmäßig auf die

Katzen verteilt hatte. Eduardo ist in die neun Teile seiner Persönlichkeit zerfallen,

seine Unsicherheit, seine Liebe zu Fernsehwerbespots, die er mit einem VHS-Rekor-

der aufnahm, sein Hass gegen jede Autorität und sechs Mal Angst vorm Sterben.

Aus dem Fenster von Emalia und Eduardo kann man den gesamten Wohnblock

überblicken, die Weiten des in sich verschlungenen Wohnungskomplexes, der Tüm-

pel, die Wastelands, das eine Kind, das dort auf dem Dach lebt (es hat ein Zelt, ei-

nen Minikühlschrank voll Capri Sun und einen Gaming Laptop, auf dem es Charak-

tere in diversen MMOPRGs hochlevelt und sie dann auf ebay verkauft, um sich mit

dem Geld Chicken Nuggets und süße Soßen zu kaufen).

Ich bereite Zucchini und Auberginen für Mischa vor. Er hat den Radius des Lochs auf

ganze fünf Zentimeter erweitert. Viel sieht man aber noch nicht von dem geheimen

Zimmer. Seit dem Vorfall, der ihn sein Bein kostete, verlässt Mischa selten die Woh-

nung. Er brach sich das Bein, als er von einem nicht allzu hohen Hügel hinunterfiel;

der Bruch verheilte gut, aber zwischen den Schrauben und der Platte, die ihm zur

Osteosynthese eingesetzt wurden, entwickelten sich durch die verschiedenen Metall-

behandlungen der Osteosynthesematerialien galvanische Ströme und mit der Zeit

auch Rost. Selbst im Inneren seines eigenen Körpers war Mischa nicht sicher vor der

Korrosion. Sein Fleisch wurde durch die freigesetzten Nickelionen des Korrosions-

prozesses nekrotisch und bis sein Bein abstarb, dauerte es ziemlich lange und

Mischa hatte das alles sehr gut verdrängen können und wegen des Schmerzes lange

keinen Arzt aufgesucht, weil er Angst davor hat, sich oder seinen Körper in irgend-

einer Art zu zeigen, was den Sex mit ihm erschwert, aber zugleich das Spielfeld bil-

det, auf der sich seine Scham und Angst zu Lust und Freude wenden können, wenn

ich nur die richtigen Worte in sein Ohr flüstere.

Mit der Zeit entwickelte Mischa eine Angst vor der Außenwelt und vertiefte sich, statt

hinaus zu gehen, lieber in seinen Arbeiten – irgendein kleines Institut bezahlte

Mischa dafür, eine Topographie der Melancholie verfallener Internetplattformen an-

zufertigen, von Neopets.com, ICQ oder Myspace, von leeren Internetforen, verlasse-

nen Chatrooms und einsamem pornographischem Material, das noch auf entlegenen

Servern gespeichert ist und stets nur ein paar Clicks entfernt, aber seit Jahrzehnten

von niemandem mehr erblickt wurde. In seiner Freizeit schreibt Mischa Erotika über

Roboter, die sich in Menschen verlieben. Momentan sitzt er an einem Text über die

Liebe zwischen einem gallertartigen Schleim-Roboter und dem Vertriebsrepräsentan-

ten eines Baulogistikunternehmens.

Nachdem wir gegessen und miteinander geschlafen haben, gehe ich mit Mischa

raus, etwas Luft schnappen. Wir setzen uns auf die Bank neben dem Waschhaus

und schauen auf die sich drehenden Waschtrommeln. Im Wohnkomplex fühlt sich

Mischa noch sicher. Einmal erzählte er mir, er bräuchte eigentlich immer eine Umar-

mung, eine Form von Gewicht um ihn herum – sei es von Menschen, Decken oder

Tonnen aus Metall und Dämmmaterial. Manchmal umarmt er das Haus, die Wände,

eine Säule oder das Treppengeländer. Als Kind hatte Mischa geweint bei der Er-

kenntnis, dass Tiere in der Nacht nie Heim gehen. Sie bleiben immer da draußen, im

Wald, wo keine Wände in den Raum schneiden.

Hinter der Grenze plant seit Tagen ein Sondereinheitskommando der Wohnungsbau-

gesellschaft mit Atemschutzmasken, Sturmgewehren und abgerichteten Schäferhun-

den mit kleinen ballistischen Schutzwesten ihren nächsten Angriff. Am Abend wird es

wieder Schusswechsel geben – sie wollen uns belagern und aushungern lassen.

Gut, dass wir über ein abgesichertes Tunnelsystem mit anderen separatistischen

Wohnkomplexen verbunden und so stets in der Lage sind, Pudding und Zitronen

durch Tauschhandel zu erwerben.

Nach einigen Tagen hat Mischa einen Durchgang in seiner Wand durchgelöffelt. Den

Stuck und das restliche Wandmaterial hat er stückchenweise im Klo hinuntergespült.

Ich gehe durch das Loch ins circa fünf mal fünf Meter große Zimmer, schwach be-

leuchtet von einer Lampe, die Mischa hierhergestellt hatte. Gerade als ich sagen

möchte, dass ich nichts sehe, bemerke ich, dass ich nicht nichts, sondern einen lee-

ren Raum sehe. Einen weißen, leeren Raum, seit Jahren versiegelt von der Außen-

welt. Mischa breitet sich auf dem Sofa aus und trinkt Kondensmilch direkt aus der

Dose; er ist frustriert, dass in dem Raum kein Schatz, keine versteckte Welt auf ihn

gewartet hatte. Der Architekt des Wohnkomplexes, wie wir später mit etwas Recher-

che herausfinden, hatte in einer Mixtur aus Schludrigkeit und Müdigkeit einen absolut

sinnlosen Raum in das Haus geplant. Weil es ihm so peinlich war, verheimlichte er

den Fehler und schaffte es, dass keiner der Bauleiter, Technischen Zeichner, Inge-

nieure oder gar Bauarbeiter irgendetwas davon bemerkte, was schon eine ziemliche

Leistung war. Aber dieser Fehler würde sich massiv in sein Leben schneiden. Denn

er kam auf den Geschmack: Seitdem hat er in über einhundert Wohnanlagen solche

leeren Zimmer eingebaut. In seinen Träumen wurde er verfolgt von dem Verlangen,

leeren Raum zu schaffen, perfekt konservierten Raum und in dem Raum selbst: Zeit,

geschützt von den Schrecken der Welt. Und niemand hatte etwas gemerkt, weil es

so absurd war. Wenn man seinen Namen googelt, so stößt man auch gleich auf eine

Netflix-Dokumentation über sein Leben namens The Art Of Wasting Space.

Abends gehe ich zum Tümpel neben der Wohnanlage. Dort schwimmt zwischen den

erodierten Einkaufswagen ein riesiger Fisch. Er stirbt jede Nacht unter entsetzlichen

Qualen und seine Schreie hallen wie Sirenen durch die Häuserschluchten bis hinauf

in das sechzehnte Stockwerk zum Jungen mit dem Gaming-Laptop auf dem Dach.

Der Fisch erwacht jeden Morgen wieder aufs Neue mit der schrecklichen Erkenntnis,

in der Nacht sterben und wiederauferstehen zu müssen, ohne die Möglichkeit, sich

ein für alle Mal vom Leid zu erlösen, denn er hat keine Arme und ist so glitschig,

dass er an dem steilen Ufergelände stets wieder herunter ins eutrophierte Gewässer

rutscht. Für den Fisch überlagert das Ende des Tages die gesamte Zeit, jede Se-

kunde wirft der Tod einen überdimensionierten Schatten über den Tümpel wie ein

einziges langgezogenes Ende.

In der darauffolgenden Nacht träume ich von dem leeren Raum, ungenutzt und ver-

siegelt von der großen Weite der Welt. Ich sehe ein Netzwerk leerer Räume, die sich

wie eine zweite Realität über diese legt, in der Staub in aller Ruhe fällt und die Zeit

nicht vergeht, sondern zähflüssig wie Honig in Wabenzellen gespeichert bleibt. Ich

sehe Mischa, wie er die Wand des leeren Zimmers umarmen zu versucht. Ich sehe

die leeren Weiten von Neopets.com. Ich sehe eine Million verlassener Neopets in ih-

ren verlassenen Neohomes, seit Jahrzehnten ungenutzte Accounts und unangetas-

tetes Ingame Money. Ich sehe Mischa, wie er langsam verschwindet im Inneren der

perfekten Räume. Ich sehe Eduardo, neunmal, wie er aus dem Fenster springt. Ich

sehe das Kind auf dem Dach hinunterblicken auf gepanzerte Spähfahrzeuge der

Wohnungsbaugesellschaft, sie fahren über die Hochbeete, Buddelkästen und die

Leichname von Eduardo. Es wird keine Gefangenen geben.