Raphaela Edelbauer
Der Suizid des Otto Weininger aus der einzig anständigen Perspektive erzählt
Vorbemerkung.
Otto Weininger, 1880 – 1903, war ein jüdischer sogenannter Philosoph aus Wien, der für sein Werk Geschlecht und
Charakter bekannt wurde. In diesem verfocht der Keuschheitsapologet drei Thesen: erstens, dass der Mensch zweigeschlechtlich sei, zweitens die Minderwertigkeit der
Frau sowie drittens die Weiblichkeit der als durch und
durch schlecht klassifizierten jüdischen Religionsgemeinschaft. Adolf Hitler bezeichnete ihn nach seinem Tod bekanntlich als „den einzig anständigen Juden“. In der
Nacht vom 3. auf den 4. Oktober 1903 nahm er sich in
Beethovens Sterbehaus in der Schwarzspanierstraße 15 das
Leben. Ludwig Wittgenstein, Karl Kraus und Stefan Zweig
folgten zwischen vielen anderen Intellektuellen, die ihn
bewundert hatten, seinem Sarg. Noch heute verehren ihn
maskulinistische Gruppierungen wie „Men Going their Own
Way“.
Du bist also dabei, die Briefe an Vater und Bruder zu verfassen, an die Verwandten
ersten und zweiten Grades sowie männlichen Geschlechtes, um sie aufzuklären über
deinen Entschluss, heute Nacht in den Tod zu gehen aus dem tief empfundenen Gefühl deiner eigenen Schlechtigkeit heraus.
„Der anständige Mensch geht selbst in den Tod, wenn er fühlt, dass er endgültig
böse wird“, bist du gerade dabei in den Brief zu schreiben, lässt es dann aber doch
und kritzelst es auf einen bereitliegenden Schmierzettel, den deine Bewunderer später in einen schmalen Nachlassband einfügen werden. Die beiden Abschiedsbriefe,
die du dabei bist zu vollenden, insbesondere jener an den Vater, kriechen dir unter
die Haut: Wie merkwürdig es noch immer ist, das Du-Wort an ihn zu richten, an diesen Koloss von einem Mann. Du hältst für einen Moment inne: Aber die einzige seiner Gesten, die du dir nun ins Gedächtnis rufen kannst, ist das Schütteln seines
Hauptes – als habe Donatello es modelliert. „Du hast immer gesagt“, beginnt dein
Federhalter wieder zu schreiben, aber dir entfährt der Nebensatz bei der Vorstellung
des immer wieder sich ereignenden Kopfschüttelns deines Vaters. Du, Du, Du, versucht dein Stift aufs Neue, aber auf jedes Du beutelt es deinem imaginierten Erzeuger bloß das Genick. Es ist ein universaler Ausdruck – das Verneinen einer ganzen Welt, die dein Vater seit jeher als verrucht bezeichnete. Und obwohl du ihm zustimmst, vollinhaltlich, war der geteilte Eindruck der Verruchtheit nichts, wodurch sich
je Nähe herstellen hätte lassen. Nichts als ein Negativ. Das heißt, es ist unmöglich:
Du zerreißt den ersten Bogen und siezt ihn fortan, versiegelst die Briefe. Du stehst
auf und gehst nervös in der Dachkammer umher.
Du, du bist Otto Weininger, jugendlicher Asket und trachtend danach, ein ganzer
Mensch, d. h. ein Mann zu werden – dich und dein Jahrhundert aus den Fängen des
Weibes zu befreien. Der Frau, des Nichtseienden, des Alogischen, Amoralischen,
das alles in die Tiefe zu reißen droht.
Ort: Schwarzspanierstraße 15, Sterbehaus des allergrößten, des gottgleichen
Beethoven, an dessen tieftodtrauriger Einsamkeit du ihn als Schicksalsgenossen
identifiziert hast. Ein großer Deutscher, wie man ihn neuerdings nicht mehr allzu oft
findet, denn in diesem frisch angerissenen Säkulum hat, wie du weiters erkanntest,
der Jude als Typus die Macht ergriffen. Auch das ist ein Grund, warum du in dieser
Welt nicht mehr sein willst.
Der Mann als Mikrokosmos ist beides, hast du geschrieben, zusammengesetzt
aus Höherem und Niedrigerem, aus metaphysisch Existentem und Wesenlosem, aus
Form und Materie: Das Weib ist nichts, es ist nur Materie. Diese Erkenntnis hat dich
mit deinen 22 Jahren schon so tief durchwallt, dass du sie in ein monumentales Werk
fassen musstest. Du hast selbst jetzt ein Exemplar deines Operis Magni bei dir: Geschlecht und Charakter, deine Doktorarbeit, überarbeitet, ergänzt und bei Braumüller
und Co. vor erst fünf Monaten verlegt. Nun wirst du der Welt beweisen, wie ernst du
es mit den darin konstatierten Thesen meinst. Du warst schon in deinen Jugendjahren Verfechter der Selbstreinigung geworden: Keuschheit, Weltabgewandtheit, Formwerdung, das heißt: das Abwaschen des Schmutzes, wie es der Protestantismus
lehrt. Dass gerade dir diese Niederträchtigkeiten ein solcher Dorn im Auge waren, ist
Ironie – du, von dem es so viel abzuschälen galt. Die Uhr läuft über 11.
Der anständige Mensch geht selbst in den Tod, wenn er fühlt, dass er endgültig
böse wird, liest du nochmals und nickst. Dass deine Schriften den Kern der Verrottung so präzise getroffen haben, hat dich erst hierhergebracht. Denn du bemerktest
aus deinem eigenen Text heraus, wie verdorben du selbst bist – deine Triebe, deine
Verweichlichung, deine leise Stimme, dein weibisches Getue lagen beim Vergleich
mit Geschlecht und Charakter offen. Man könnte sogar sagen: Du hast eine Frau in
dir. Deine Realisierung war bald, dass Texte eine Art von Autoimmunreaktion entwickeln können, dass sie den Autor oder ihr Subjekt erfassen, wenn die Selbsttoleranz ihn verlässt. Dass dann die eigene Kreation ihren Schöpfer verschlingt, wenn er
merkt – ja eben wenn er merkt, dass er endgültig böse wird.
Aber wie das alles aus deiner letzten Nacht heraus zeigen, denkst du dir nervös
und drapierst die wenigen Gegenstände, die du mitgebracht hast, zu einer sogenannten markanten Szene: Strindberg, Aristoteles und die Lutherbibel schlägst du
auf, als hättest du noch in deiner letzten Sekunde gelesen und seist mannhaft denkend in den Tod gegangen. Man muss dem Menschen eine Kulisse für seine Menschwerdung bieten. Die Feder wirfst du aufs Papier – du, ein meisterhafter Fechter
des Wortes im Todesduell, der das Florett bis zum letzten Ausfall umklammert hält.
Du spritzt sogar ein wenig Tinte aufs oberste Blatt. Die Heftigkeit des Ausdrucks ist
dir ein Anliegen, so sehr es dich auf der anderen Seite vor dieser Makulatur auch
ekelt. Das Stoffliche ist dir ja zutiefst zuwider, und jetzt musst du den Stoff, aus dem
die Nachwelt deine Legende weben wird, immer wieder anprobieren, bis er sitzt: Der
Gehrock ist zu sakrosankt, zu gewollt. Du legst ihn aufs Canapé und lockerst nun sogar die Krawatte überm gestärkten Hemdkragen. Das Jugendliche an deiner Erscheinung will aus deinem Gesicht herausbetont werden – also rasierst du dich ein wenig.
Das Bedürfnis, Cognac zu trinken, kämpfst du nieder, weil du keinen Stoffwechsel
evozieren willst, der das Gefühl einer Entweihung dieser Situation mit sich bringen
würde.
Was für ein Elend, diese Materie – dieser Körper und seine Entsorgungsproblematik. Du ziehst zur Ablenkung das Zigarettenetui aus deiner abgegriffenen Manteltasche. In Fragen deines eigenen Leibes fehlt dir die Routine. Das meiste von dem,
was dir stark missfällt, befindet sich im menschlichen Körper. Stuhl, Blut, Geschlechtsorgane, Kohlenstoffe und andere Bauteile, die permanent in irgendwelchen
Verhältnissen stehen. Geistlos liegen sie da und wissen nichts von einer Kantischen
Kategorie. Du weißt nicht was tun; deine Füße sind überzählig, dein Schweiß, die
verspannten Schultern – deine Hände, die nicht wissen, wohin mit sich. Viertel nach
elf, die Zeit will und will nicht vergehen. Rauchen, denkst du dir da erleichtert, rauchen und die Zeit in dieser angemieteten Heldendachkammer totschlagen, bis es
über Mitternacht geht und alle anderen Bewohner im Bett liegen. Du stößt das Fenster in die schlafende, und in diesem Schlaf doch stets träumende, und in diesem
Traum immer sich analysierende, und in dieser Analyse berühmt gewordene, und
diese Berühmtheit dir verwehrt habende Stadt Wien auf, um zu ihr hinabzurauchen.
Wieder nagende Verachtung: Du spürst das Weib als solches breitbeinig über dieser
Stadt hocken. Der bis ins Tiefste verruchte achte Bezirk, in dem die Huren, die lasziven, schwindsüchtigen Kadaver in jedem Hauseingang warten. Wien, dessen biedermeierliche Hochbauten bevölkert sind von blassen Syphilismädchen und großäugigen Kindfrauen, von Müttern, Konkubinen, Gouvernanten. In allem Loch, in allem
Frau, darunter: nichts. Du wirfst das Fenster wieder zu und kreist durch deine Kammer.
Wenn man deiner Argumentation in Geschlecht und Charakter folgt, so wird man
verstehen, warum du dir das Leben nehmen musst: Sie ist stringent, zwingend und
unwiderlegbar, weil sie auf biologischen Fakten beruht. Mann und Frau sind verschieden, das weiß in den Grundzügen jedes Kind, es ist offenkundig. Folgendermaßen: Der Mensch an sich ist zweigeschlechtlich und vereint immer verschiedene Prozentsätze des Weiblichen und Männlichen in sich, wie du deinen Anhängern einsichtig vorgerechnet hast. Das Niedrige, Stoffliche, Geistlos-Materienhafte ist das Weibliche, der Anteil an Seele und Geist das Männliche. Ein reiner Mann wäre der pure Ingenius, Idee an sich – eine reine Frau nicht wesenhafter als ein Stein oder eine
Pflanze. Die Frau ist also eine Art Gegenstand, der herumläuft. Oder sagen wir: ein
Umstand, so wie eine Landschaft, nur dass man von ihr nicht auf erhebende Weise
ins Tal schauen kann, weil sie dazu zu niedrig ist.
Du kennst nicht sonderlich viele Frauen, aber das ist auch gar nicht nötig. Ein
einziges Mal hattest du ein Rendezvous, weil der Vater dich dazu nötigte, der seinen
Goldschmiedebetrieb an eine ordentliche Verbindung weitergegeben wollte. Wortlos
saßt du in einem Café auf der Ringstraße, dir gegenüber ein Weib, das quakend und
hohl Kommentare zu Lehárs rezenter Operette im Theater an der Wien absonderte.
Du warst dennoch höflich und zurückhaltend, wie du es in persönlichen Begegnungen immer bist, und sahst verstört und zugleich mesmerisiert die Brustwarzen sich
unter der Frau sich unter ihrem Kleid abzeichnen. Die Materie sitzt in den Fetten des
Zytoplasmas. Bedrohlich sammeln sich diese zu ihren bekannten Konglomeraten an
Brust und Hüfte des Weibes, voll mit Substanz, die gerne einmal die Form, also den
Mann, an sich reißt und sich in diese hineinstopft, weil sie ja selber formlos wäre. Du
bemerktest verstört, dass dich ihre Rundungen erregten, dass dich sogar ihre stupide
hohe Stimme anzog; ebenso wie dich im Übrigen auch oft die Ausbuchtung an der
Hose eines vorbeilaufenden Soldaten erhitzt. Während du merktest, dass du in jenen
Zustand gerietest, den du normalerweise mit kalten Bädern bekämpfen musst, riefst
du den Kellner und zahltest.
Du konntest deine biologische Reaktion mit deinen eigenen Thesen gerade noch
rationalisieren, während ihr durch die Sommernacht nach Hause marschiertet. Das
Entscheidende ist die Polarität, die jedem innewohnt: Ein Subjekt aus 70 % Mann
und 30 % Frau wird automatisch angezogen von einem anderen aus 70 % Frau und
30 % Mann. Bleibt man hingegen wie du und deiner Empfehlung nach zölibatär, so
kann man auch diese 30 % einsparen und muss die Zinsen der Fleischlichkeit nicht
entrichten. Dann wart ihr bei ihrer Tür. Auf einmal ihr Körper bedrohlich nah an deinem: eine Hölle aus warmem, weichem Fleisch, der sich für einen Moment an deinen
drückte. Dir war klar, was sie wollte. Dass ein Leib das reine Sein, das reine Mannsein immer umschließen muss, ist ein Jammertal. Die Begattung hast du später als
einen Extremfall dessen beschrieben, denn dort liegen gleich zwei ganze Körper um
den Logos herum: erstens der des Mannes selbst, der ja auch nicht unbedingt nötig
wäre, und dann auch noch der der Frau, was den Weltengeist vollkommen erstickt.
Du sagtest also ein kräftiges Gutenacht und trafst dich nie wieder mit einer Frau.
Aber ein Fragment dieses Verweichlichten, dieser Körperlichkeit ist wie ein Granatensplitter in dir verblieben.
Verstört von dieser Erinnerung an deine Unpässlichkeit, kommen dir auch alle
anderen Fehlschläge ins Gedächtnis: Dein Buch ist nicht der von dir erhoffte Welterfolg geworden. War es zu radikal? Zu wahrheitsgetreu? Statt den Schmutz der Welt
abzusprengen, hat dein Text dich angegriffen. Wie um dich abzulenken, beschließt
du, dich noch einmal umzuziehen: Den Anzug willst du tragen, denselben, den du bei
deiner Konvertierung zum Christentum vor einem Jahr trugst. Sowie du aber nackt
dastehst und auf deine dünnen, unmaskulinen Beine siehst, geht der Schuss nach
hinten los: Das ist nicht der Körper eines Helden. Das ist nicht die Physis eines glänzenden Triumphators. Der Körper an sich enttäuscht bereits, um wie viel mehr noch
deiner. Kein Wunder, dass dein Buch unterging. Du bist das schlimmste Beispiel des
Angeklagten. Du lässt also die Hose fallen und kleidest dich mit dem an, was du vorher trugst.
Erinnere dich, Zitat Anfang: Die intellegible, hyperempirische Existenz des Mannes ist erhaben über Raum und Zeit. Nach dem absoluten Wege geht der tiefste
Wille im Manne: er ist eins mit dem Unsterblichkeitsbedürfnis. In wenigsten Stunden
wirst du dich für die Unsterblichkeit entscheiden. Obwohl die Glorie dieses Augenblicks dich erfasst wie ein Lipizzanergespann, beginnst du zu zittern. Sogar die
Zähne klappern aufeinander. Seltsam: Diese Angst passt ja so gar nicht zu dir, du
weißt gar nicht, woher sie kommt. Ist das das Weibliche in dir, das du so sehr hasst?
Oder aber, Vermutung zwei: Es liegt an deiner Zugehörigkeit zur minderwertigsten
aller Rassen. Ja, das muss der Grund dafür sein, dass dein Herz nun aus der Fassung bricht, dafür, dass dein Hemd schon durchgeschwitzt ist. Denn das war eben
die zweite These von Geschlecht und Charakter: dass das Judentum die Frau unter
den Religionen sei. Zitat Anfang, S. 418: Denn der Antisemitismus des Juden liefert
demnach den Beweis, dass niemand, der den Juden kennt, ihn als ein Liebenswertes betrachtet, nicht einmal der Jude selbst. Du bist Antisemit durch und durch und
doch auch Jude durch und durch: Ein weibisch-weicher Halbmann, geboren aus dem
After einer Religion, die du trotz lebenslanger Bemühungen nicht abschaben hast
können.
Der Taufanzug auf dem Boden: Du hebst ihn auf und wirfst ihn in den Koffer, um
ihn aus dem Blick zu haben. Du bist ihm nie gerecht geworden. Mit einundzwanzig
Jahren schüttete dir der Lutheranische Geistliche das Weihwasser über den Kopf –
du, ein Säugling trotz deiner Doktorwürden, und das kalte Wasser war dir in den Kragen geronnen, wo du es mit deinen linkischen Bewegungen noch für eine Weile zwischen deinen Schulterblättern herabrieseln spürtest. Es war eine einsame Konvertierung – niemand aus deiner Familie war gekommen. Obwohl du den Erlöser am
Kreuze hängen sahst, und obwohl ein Stück des gleichfalls verehrten Händel dir die
Brust erfüllte, wusstest du schon beim Heraustreten aus der Kirche, dass es für dich
keine Absolution geben konnte. Das Größre war dir zu groß: Du warst geboren als
dreckiger Jude, du würdest sterben als einer. Dein Materialismus hatte dich gelehrt,
dass jeder der Zögling seiner eigenen Biologie war. Und das war das gewesen, und
so würde es also enden.
Endlich: Null Uhr fünfunddreißig. Während du noch auf deine Taschenuhr siehst,
beginnst du bereits, die Requisiten deines letzten Aktes zusammenzusuchen. Aber
da ist auf einmal ein Schraubenschlüssel im Triebwerk der Geschehnisse: Vielleicht
liegt es daran, dass es dir vor Nervosität fast die Organe aus dem Körper martert,
doch du kannst ums Verrecken den Revolver nicht finden, den du geladen in deiner
Aktentasche platziert hattest. Du wirst nun regelrecht hysterisch bei deinen Aufstöberungsversuchen. Was, wenn du just das Werkzeug deiner geschichtlichen Vollendung in der Wiener Stadtbahn ausgestreut hast? Was, wenn es irgendein schwindliger Sandler aufgefunden hat, der jetzt gerade in einem der Stehweinlokale auf der
Landstraßer Hauptstraße einen Wirten damit um ein weiteres Viertel Zweigelt erpresst? Scheußlich. Wie ein Primaner gehst du alle Stationen deines heutigen Aufenthalts durch: Du hast morgens dem Vater das abgewetzte Lederfutteral deiner Augengläser in die Hand gegeben. Nein, du hattest dort den Revolver nicht angefasst.
Du hast danach im Votivpark deine Handschuhe aus der Tasche genommen. Was,
wenn er dir dort mitentglitten ist und nun im Gras verschwunden?
Zitat: Der letzte, der absolute Beweis der völligen Nichtigkeit des weiblichen Lebens, seines völligen Mangels an höherem Sein, wird uns aus der Art, wie Frauen
Selbstmord vollziehen. Sic. Wie jämmerlich wäre es, wenn du mangels eines Instrumentes deinen Suizid nicht vollenden könntest? Schlimmer als eine Frau ...! Du wirfst
alles durcheinander, und da endlich findest du den Revolver unter einem Kissen auf
dem Canapé. Du drückst ihn erleichtert an die Brust, und doch hat dich diese Episode einen Teil deiner Entschlossenheit gekostet. Für einen Moment erwägst du, ob
das ein Zeichen gewesen sein könnte – ein Aufschub deiner Exekution. Ob du weiterleben solltest.
Ich muss dich enttäuschen, Otto, denn diese Gelegenheit bleibt dir verwehrt, solange ich da bin. Du wirst dich heute Nacht umbringen, auserzählt von – du kannst es
dir denken – mir. Rauch noch eine, oder zwei oder drei, dann begib dich in die
Waschnische und mach dich bereit. Eine Monade bist du, trotz allem Mann, eine Widerspiegelung des Universums in deinem totalen Ichsein, sagst du dir. Aber man erkennt es nicht so richtig, wie du jetzt unter deinen fettigen Haaren heraus die Uhr
vornüberlaufen befürchtest, in ranziger Gewandung und Schmutzrändern unter den
Fingernägeln, die ich dir nun gerade dorthin geschrieben habe. Immer als seiest du
nach 48 Stunden aus der Bahn gestiegen, hat dir einmal jemand gesagt. Du betrachtest dich im Beethovenspiegel. Und da siehst du wieder die Frau in deinen Zügen,
die, die an den Schalthebeln die Weichen für dich stellt. Du ahnst: mich.
Es schlägt eins, die Zeit ist gekommen. Du wirst es vor dem Fenster tun, dort soll
man dich finden. Das Exemplar von Geschlecht und Charakter musst du dabei fest in
deine Brust hineindrücken. Was für eine Ironie: Wie einen Säugling in den Armen zu
schaukeln, was dich das Leben kostete. Nochmals diese Autoimmunreaktion: Dein
Verstricktsein in den Text – und dann zogen sich seine Zeilen, deine ganze Masche
um deinen Leib herum zusammen. Die weißen Blutkörper, die du unterstützen wolltest, können dir nicht mehr helfen. Aber das haben wir ja jetzt schon zur Genüge wiederholt, oder? Wir wollen ja nicht redundant werden. Entsetzt schlägst du das Buch
noch einmal auf. Jetzt ist dir klar geworden, dass in dieser Sprache, die du beim Schreiben noch für hehr und männlich gehalten hast, das Weib schon im Kern
steckte: in der Erzählhaltung verbarg es sich. Die Frau im Text bricht in dir hervor,
steigt heraus. Sie ist das Suppressivum zu deinem kranken Gedankengewebe.
Ich bin die Frau, die gerade wütet in deinem autoallergischen Hirn, die anwesend
ist in diesem Moment im Jahre 1903, der doch so öffentlichkeitswirksam sein sollte
durch dein Alleinsein. Ich bin das Weib, das aus dir heraus die Geschicke deiner
Handlungen lenkt, und dass du mich ahntest, vor über hundert Jahren, ist der Grund
dafür, dass du deinen Suizid überhaupt vollziehen musst. Selbst die nationalistische
Öffentlichkeit ahnte mich: Man hat dein Buch nicht so gefeiert, wie du es gerne wolltest. Aber seien wir einmal ehrlich, Otto, kann es nicht an Sätzen liegen wie: Universelle Apperzeption, Allgemeinbewusstsein ist mein Ideal, oder Die einen unter den
Menschen ziehen die Hunde vor, und können die Katzen nicht ausstehen, die anderen sehen nur gerne dem Spiel der Kätzchen zu, der Hund ist ihnen ein widerliches
Tier. Ich muss schon sagen, das ist philosophisch nicht unbedingt der große Wurf,
oder?
Ich befehle dir, den Lauf des Revolvers auf deinen Kopf zu richten, oder nein, sagen wir doch besser, auf dein Herz. Du hattest das Wort an den Leser gerichtet, so
wie ich das Wort jetzt an dich richte, hattest ihn biologisch kategorisiert und wirst nun
deinerseits taxonomisch exekutiert. Dieser Leser durch die Geschichte, der durch
das Du zu dir wurde, weil dein angeblich brillanter Stil ihn in die Kongruenz mit dir
zwingen wollte. Du wurdest zu einem Wittgenstein und Stefan Zweig und Heimito von
Doderer, die fanatisiert deinem Sarg nachstolperten, pardon: ihm nachstolpern werden. Auch im Jahr 2019 wird dein Gedankengut noch in Geschlechter und Charaktere hineinschlüpfen, wird die Bonmots der regierungsbildenden Männerbünde befeuern und als verkanntes Geniewerk die burschenschaftlichen Regale zieren.
Du
Du bist der Antisemit und
Du bist der Frauenverächter und
Du bist der, der ja noch sagen dürfen wird und
Du bist der selbstkontrollierte Intellektuelle, der seine kruden Thesen mit der Rückständigkeit des vergangenen Jahrhunderts verschleiert.
Du bist der, der alles Negative auf das „Artfremde“ abwälzt, weil man die Argumente
jenen, die ohnehin niemand ernstnimmt, bei Bedarf auch wieder wegnehmen kann,
um sie selbst zu verwerten.
Du bist der, den Frauen wie ich seit 100 Jahren wieder und wieder töten müssen,
weil er schneller wiederaufersteht, als man ihn wegdiskutieren kann.
Nur eines hast du übersehen: Denn in all dem war – und sei es nur als Negativ – die
Frau doch anwesend, hat gewartet auf den geeigneten Zeitpunkt, um dich und deinesgleichen in einer Gegenwendung deines eigens entworfenen Körpersystems zu
überwältigen. Die gestörte Intoleranz deiner Zellen, deiner brünftelnden Männerlogen, des kranken Körpers, also: des gestörten Corps – Auswüchse, gegen alles unempfindlich außer gegen immer konservativere Ansätze, haben dich in dein persönliches Endstadium geführt. Und hier stehen wir also.
Ich bin du, du Arschloch, aber kein Wunder, denn, Geschlecht und Charakter
Seite 391: Weil in der Frau kein Ich ist, darum ist für sie auch kein Du, darum gehören, nach ihrer Auffassung, ich und Du zusammen als Paar, als ununterschiedenes
Eines. Es ist schon ganz richtig, wie du es sagst: Hierin gehören also dein Du und
mein Ich, oder dein und mein Du, das Du, das ich an dich richte, zusammen. Ich
kann mit dir verfahren, wie ich möchte, weil Du in diesem Text ununterscheidbar von
mir daliegst, vor meinem genielosen Selbst, dem nichts anderes einfällt, als mir deine
substanzlose Form noch einmal anzuziehen. Deinen jämmerlichen Haarbalg, deinen
abgenutzten Gehrock, den du für philosophentauglich hieltest, deine schiefe Brille.
Und doch feiern dich die Maskulinisten in meiner Zeit online für deine pseudonietzscheanischen Eskapaden sowie deinen Extremismus. Otto, ich sage dir – irgendwie
hat sich dein Typus ins nächste Jahrhundert gerettet. Weißt du, dass deine Anhänger
deinen Suizid verklären werden, wie den Heldentod des Herkules, und dass hunderte
dir nachtrauern werden aufgrund der Entschlossenheit und Konsequenz deines letzten Ganges?
Aber diesen heroischen Gestus können wir, zumindest hier, ändern: Sagen wir, du
pinkelst dich an wie kleiner Bub, schießt dann einmal vor Schreck daneben in die
schöne Beethovenbüste, stolperst und fällst in deinen eigenen Urin. Du stehst auf
und richtest dich gerade. Hast du gewusst, dass dich bis heute gewisse Männerclubs
lesen? Dass dich die Burschenschaften paraphrasieren, wenn sie den bevölkerungspolitischen und biologistischen Zweck der Frau – kurzum: ihre alleinige Materiehaftigkeit – betonen?
Weiter im Verfahren: Du hättest schwören können, dass du richtig gestanden bist,
aber deine Schuhbänder sind zusammengeknüpft worden von mir, und es haut dich
daher ein weiteres Mal auf die Goschen. Da ist etwas in dir, das ja sowas von genielos ist. Ist sie das, die zukünftige Frau, das Weib, das nach der Teilnahme an der Gesellschaft drängt? Musst du dich erschießen, damit ich dir nicht zu nahe rücke? Zu
spät. Jetzt drückt ein frischer Wind die Fensterflügel auf und verwirrt die ganze aufgebaute Szenerie – macht einen Zettelhaufen aus deinen Manuskripten und verheert
die hermetische Beethovenkammer so sehr, dass die Nachgeborenen denken werden, du habest nicht einmal Ordnung halten können.
Alles hat sich gegen dich gewandt, aber du weißt es ja längst: Das war ich. Ich bin
der Antikörper zu jenem, den du entworfen hast, Otto Weininger, der Gegen-Körper
zu dem, was du dachtest, dass eine Frau sei, die mutierte Version dessen, was du
beschnitten und unwissentlich damit veredelt hast – und es ist im Gegensatz zu dir
zuletzt mein Privileg, Ich zu sagen. De mortuo nihil nisi bene, aber es gibt so verdammt wenig Gutes über dich zu sagen, und ich bin fast erleichtert, als du deinen
Finger tatsächlich an den Abzug legst. Na, na, jetzt nicht im letzten Moment zittern
wie ein Espenlaub, lieber Otto, der du dir so viel auf deine Mannhaftigkeit einbildest
(wenngleich du nicht so mannhaft bist wie Schumann oder Siegfried oder Strindberg
oder was auch immer du für Kaliber anbetest). Jetzt lassen wir den Lauf schön dort
wo er hingehört, halten den Lauf der Dinge schön nahe an den Fakten und deinem
Brustkorb. Ich weiß, dass du noch einmal zweifelst an der Richtigkeit all dessen.
Aber die Würfel sind gefallen. Es schüttelt dich ein letztes Mal, und um nicht diesen
Augenblick mit weibischem Getue zu entweihen, nimmst du das als Signal, dass
meine Entscheidung die richtige ist.
Dann drückst du ab.