Nora Bossong
Die Schönheit verlorener Schildkröten
Gestern hörte ich im Hausflur einen Mann auf meine Nachbarin einreden. Da
sie immer noch glaubt, ich hieße Marnet, ist er bald wieder abgezogen.
Saboteurin, das Wort hörte ich noch, ehe die Schritte im Flur leiser wurden, und
ich kann mir nur vorstellen, dass es der Praktikant war, den sie geschickt hatten, diesen milchweißen Schnösel aus einer der wohlhabenden Vorstädte, und
dass er mich tatsächlich dafür hält, für eine Saboteurin, nicht für Marnet.
Der Name auf dem Klingelschild gehört der alten Dame, die von ihren Enkeln
ins Heim gesteckt wurde oder gleich ins Hospiz, an irgendeinen Ort, an den
Menschen eben abgeschoben werden, wenn man keinen Gebrauch mehr für
sie findet, und nun vermieten sie dieses kleine Loch in der dritten Etage für
Unsummen an mich. Paris hat den Charme einer schlecht gealterten femme
fatale mit dummem Herzen und feudalem Gebaren. Man hat hier kein Mitleid,
man hat, wenn man Glück hat, Wohneigentum, und das ist mehr wert als jedes
Gefühl.
Seit zwei Wochen, seit dem Tag, als ich ausgeraubt wurde, gehe ich nicht mehr
ins Büro. Es liegt im sechzehnten Bezirk, in dem die Quadratmeterpreise so
hoch sind, dass man sie für eine Telefonnummer halten kann, man sieht von
dort direkt auf den Eiffelturm, aber ich habe den Eiffelturm lange genug angesehen, und meine Mailbox habe ich ausgeschaltet, ebenso den Klingelton, so
sehe ich nur stumm die Ziffern aufleuchten auf dem Display. Dabei stimmt es
gar nicht, ich bin keine Saboteurin, ich glaube nur, dass man Besseres anfangen kann mit unserem Programm, als ein paar Drachen über einen Bergkamm fliegen zu lassen.
Fragt man mich, trainieren wir den Generator mit den falschen Geschichten,
berieseln diese digitale Halle, in der Millionen fiktiver Affen an Schreibmaschinen vor sich hin tippen, mit nichts als Kaufhausmusik, und einer von ihnen wird
dabei trotzdem zufällig ein Gedicht schreiben oder etwas, was wir für ein Gedicht halten, aber der Filter, der aus den Daten jene heraussucht, die ihm wie
eine Simulation von Kunst erscheinen, dieser Filter ist kaum besser als der
Generator, lässt Céline Dion passieren und übersieht Apollinaire und Victor
Hugo. Aber was soll ich dem Modul vorwerfen, meine Kollegen entschieden ja nicht besser, und was macht einen Satz wie diesen schon besonders: En 1815,
M. Charles-François-Bienvenu Myriel était évêque de Digne. Ein schmuckloses
Stück Information über einen Provinzgeistlichen, nicht mehr, wäre es nicht zugleich der erste Satz von Les Misérables.
Ich möchte Träume erfinden lassen, das ist alles, ich möchte eine Rede träumen lassen wie von Hugo beim Friedenskongress, Un jour viendra, ein Tag
wird kommen, oder Apollinaires Schildkröte, du Thrace magique, ô délire! Von
thrakischer Magie, oh Wahn! Und was machen wir in unserer Abteilung? Wir
haben versucht, eine Folge Game of Thrones nachzubauen, der Spannungsbogen glich einer schlecht gespannten Wäscheleine, auf der Figuren saßen, die
drei Folgen zuvor schon gestorben waren, dafür fanden andere den Tod, die wir
für die nächste Staffel noch gebraucht hätten. Es war einer der heitersten Tage
im Büro, selbst mein depressiver Kollege hat gelacht, spätestens da hätten wir
skeptisch werden müssen.
Victor Hugo haben wir auch eingespeist in den Datenspeicher, oder vielmehr
war ich es, an den Nachmittagen, an denen ich nicht gebraucht wurde. Eine
Kollegin empfahl mir Homeoffice, ich schüttelte den Kopf, sie verstand, auch sie
kennt die Quadratmeterpreise und weiß, wie man lebt, wenn man nicht vor Ort
geerbt hat. Sie nennen es Studio, dabei ist es eher eine Zelle, drei mal vier Meter, der Kühlschrank rumort nachts direkt neben meinem Kopf, und sollte ich auf
einer der beiden angelaufenen Herdplatten je etwas braten, wäre der Geruch
über Stunden nicht aus dem Wohnkabuff herauszubekommen, aber weder brate noch koche ich etwas, ich trainiere den Algorithmus heimlich auf Victor Hugo.
Es kam natürlich bislang nichts Sinnvolles heraus, niemand in meiner Abteilung
hat ausreichend subversive Intuition, auch ich nicht, wir verstehen nicht gut genug, wie man die Vorschläge, die den Filter passieren, arrangiert, richtig kombiniert, so dass sie zu sprechen beginnen und nicht bloß zu sabbeln, wie sie ins
Neue hinein erzählen und nicht nur das Alte wiederholen, wie man die Lupe
richtig einstellt, durch die man auf die ausgespuckten Textmassen sieht, und
ein Text im Stile Hugos, der von einer Maschine, von etwas ohne Angst und Eskapaden geschrieben ist, ohne Hoffnung, Wünsche und mit keinen einzigen
verarmten Bekannten, der kann nur glücken, wenn jemand genau das, was
dem Programm fehlt, auf die Kulisse setzt, die es baut.
Das Programm ist, darin sind mein Vorgesetzter und ich uns einig, ja vor allem
dazu da, damit wir uns um das Dekor nicht mehr kümmern müssen, damit wir
leichter sind und höher in unseren Gedanken fliegen, nur wollen meine Kollegen und ich in je andere Richtungen. Unser Denken, frei vom Druck stupider
Effizienz, gehörte wieder uns, wir könnten so klar sehen, was es ist, ein Wunderbares, in das wir immer tiefer uns versenken können. Tauchen. Meine
Kollegen aber flattern nur ein paar Drachen hinterher.
Ich habe nicht viel übrig für diese Reptilien, dann schon lieber Schildkröten.
Klein, kompakt und uralt, gehen sie allem voraus, tragen die Welt auf ihrem
Rücken, auch die Drachen, die unser Programm wiederkäut. In den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts zuckelten ihre virtuellen Schatten über
C64-Heimcomputer, zogen Schleifen hinter sich her und schlüsselten jedem
Laien eine Ahnung davon auf, wie tief unsere Vorstellung reicht, wenn wir sie
mit Parametern stützen, und hundert Jahre zuvor machten sich ein paar
Bourgeois einen Spaß daraus, mit diesen schlafwandlerisch langsamen Tieren
an der Leine durch die Passagen, entlang der Boulevards von Paris zu flanieren, um der Beschleunigung ihrer Zeit etwas Extravagantes entgegenzusetzen, seht her, das hier ist das Leben, und wenn ihr auch in drei Stunden in
Amiens seid, was wollt ihr da überhaupt?
Es ist rührend, und es ist albern, niemand will mehr mit der Postkutsche von
Paris nach Amiens, und dekadent ist es obendrein, wenn jene, die damals noch
die mechanische Klingel im Parkett ihres Salons in Benutzung hatten, mit der
sie mit einem leichten Fußdruck das Dienstmädchen aus dem Chambre de
bonne herunterriefen, um sich einen Tee bringen zu lassen, wenn diese
Menschen sich darüber beschwerten, dass Maschinen Muskelkraft ersetzten,
Arbeitsprozesse erleichtert und Wege verkürzt wurden. Ich möchte nicht von
ihnen herbeigeklingelt werden, und mit einer Schildkröte an der Leine möchte
ich auch nicht durch Paris spazieren, auch wenn ich hörte, dass einmal eines
dieser Tiere abhandengekommen sei bei einem Ausflug durch das Vergnügungsviertel Pigalle, es muss eine bizarre Schönheit haben, wenn ein derart
langsames Tier die Flucht antritt und ihm diese auch noch gelingt. Sie ist
achtzig Jahre durch Paris flaniert und dann ins Programm Logo gewandert, die
erste Schildkröte, die Drachenkurven zog.
Ich gehe tags allein durch die Straßen, in denen die Obdachlosen auf den
Gittern der U-Bahnschächte liegen, und ein kleines Iglu-Zelt ist in der Rue Vicq
d'Azir, einer der Seitenstraßen nahe meiner Wohnung, aufgebaut als Unterkunft
für einen, der etwas mehr hat als nichts und etwas weniger als ein Leben.
Wohnungslose, wie man heute so vornehm sagt, dabei ist die Wohnung nur
das vorerst Letzte, was ihnen auch noch abhandenkam oder wovor sie flohen,
das alte Wort der Obdachlosigkeit trifft es besser, und als vor zwei Jahren Notre
Dame brannte und auch die Kirchenbänke obdachlos waren in gewisser Weise,
haben die Leute wie verrückt gespendet, manche haben sich darüber mokiert,
aber eine Kirche kann man wieder aufbauen, ein Leben nicht, das ist alles, wir
neigen nun mal zu realisierbaren Projekten.
Ich gehe über den Kanal bis hinunter zum Grand Boulevard und durch die
Passage, hier ist schon Walter Benjamin flaniert. Hübsch. Auch damals schon
hatte man Angst vor der Technik, die sich in die Kunst einmischt, die Angst
aber emanzipiert nicht, setzt sich nicht ins Gleichgewicht mit der Maschine, und
wie zur Beruhigung sprach Benjamin von der Aura, die nur dem Einmaligen
innewohnt, um das künstliche, das industriell hergestellte Kunstwerk in seine
Schranken zu weisen. Es ist amüsant, wie die Menschen in Panik geraten,
wenn sie glauben, eine Maschine wolle ihnen das nehmen, was sie ausmacht,
nämlich besonders nah bei Gott zu sein.
Die Maschine will gar nichts, bislang. Und das, worum uns die künstliche Intelligenz beneiden wird, sollte sie doch einmal ein Bewusstsein haben, wird die
Endlichkeit sein, unser Tod, unsere Begabung zum Sterben. Ein Algorithmus
stirbt nicht, und Gott hätte eine Maschine sein können, ein Programm, bis zu
dem Moment, in dem auch er gestorben ist. Und ich denke jetzt nicht an
Nietzsche, sondern an Christus, habe ich dem Praktikanten gesagt, er hat mich
leer und blasiert angesehen, ohne zu verstehen, was ich meinte, oder hat gar
nicht erst zugehört, dabei rennt er jeden Sonntag in die Kirche.
Unser Programm ist allenfalls verletzlich, das ist as close as it gets, aber es
leidet nicht. Man kann ein Rootkit installieren und alle Sicherheitsschleusen
angreifbar machen, das System selbst wird nicht weinen, jene, die jammern,
werden die Leute aus der IT-Sicherheitsabteilung sein. Ich nenne sie die Atheisten, weil sie die Schönheit im Verlust nicht verstehen, und die Firma wird mich
mit Klagen überziehen, wenn herauskommt, dass ich ein Rootkit auf meinem
Laptop habe, dabei hat die Firma selbst einmal eine traurige Berühmtheit mit
ihrem Rootkit erlangt, das unzählige Systeme kompromittierte, nur um Konkurrenz abzuwehren. Die Sicherheitsleute sitzen eine Etage unter uns, ich bin
ihnen nicht oft über den Weg gelaufen, habe es absichtlich vermieden, sie gingen mir noch mehr auf die Nerven als das katholische Bonzensöhnchen mit
seinem blonden Flaum auf der Oberlippe und seinem leicht blödsinnigen, dabei
überheblichen Blick.
Ihn hätten sie ausrauben sollen, dann wäre im Grunde nichts passiert. Aber gut,
sie haben sich mich ausgesucht, direkt am Kanal, oder fanden mich vielmehr
dort vor, nicht den Praktikanten, und so ist eben der Lauf der Dinge, ein wenig
Zufall, ein Hauch menschlicher Wille, Berechnung und Folgerichtigkeit. Wer
auch immer das ist, „sie“. Menschen ohne Gesicht, mit mir unbekannten Namen. Ich habe nur auf die Wellen gesehen, die von dem an der Schleuse
abfließenden Wasser geschlagen wurden, dann war alles schon passiert.
Vielleicht war es einer, vielleicht eine Gruppe, vielleicht eine junge, wohlhabende Frau, die gelangweilt von allem ein wenig Kitzel wünschte, ich weiß
nichts über sie, aber sie erinnern sich jetzt besser an mich als ich mich an mich
selbst; meine Erinnerungen der vergangenen Monate sind für mich gelöscht,
zumindest lückenhaft, und ich habe keine Ahnung, wie meine Geschichte
weitergeht und wo, unter einer Brücke von Belleville, in einem Zimmer oberhalb
der Peripherie, in der die Sans-papiers leben, die vom Staat nichts zu erwarten
haben, nur ständig vor ihm auf der Flucht sind, oder eben doch im Apartment
der jungen Wohlhabenden, der das Leben zu langweilig ist, um nicht zu stehlen.
Über Stunden saß ich im Kommissariat, Beamte kreuzten den Empfangsraum,
verschwanden im Hof zum Rauchen oder hinter einer Tür, über der das Wort
Cafeteria geschrieben stand, ich hörte sie lachen, sie ließen uns warten schon
seit Stunden, den pummeligen Jungen, dem sein Handy abhandengekommen
war, eine Frau, die von ihrem Ex-Mann geschlagen wurde, und mich. Jetzt
zeige sie ihn an, sagte die Frau mit schwarzen Locken und hohen Stiefeln, über
deren Schaft sie unermüdlich strich, anzeigen werde sie ihn, ich nickte, ich
zeige ihn jetzt an, wiederholte sie noch einmal, sie wohne seit gestern in einem
Hotel, zweihundert Euro die Nacht, morgen noch, dann sitze sie auf der Straße,
die Schuhe habe sie von einer Bekannten, sie müsse sich neue kaufen, heute
kaufe sie sich neue, oder morgen, bis morgen wohne sie in dem Hotel, und dann. Sobald ein neuer Beamter den Raum durchquerte, wiederholte sie die
immer gleichen Sätze, aber wissen Sie, sagte die Frau zu der Beamtin hinter
dem Empfangstresen, ich habe eine Sache zurückgelassen, die müssen Sie
den Kindern geben, damit sie nicht immer traurig sind, damit sie über die
schlechten Träume wegkommen, über all das Schlimme, was ihnen passiert ist,
nicht wahr? Sie wandte sich zu mir, ich nickte wieder, und dann bin ich einfach
aufgestanden, der Mann, der die Sicherheitstür kontrollierte, warf mir einen
trostlosen Blick zu, für ihn schien es nun endgültig zu Ende zu sein: mit dem
Kommissariat, mit den Gesetzen, mit dem Staat, er kontrollierte hier die Schleuse, und die Menschen kamen und gingen trotzdem, wie es ihnen eben gefiel,
ohne Sinn und Verstand, alles war verloren, und ich suchte ein Internetcafé am
Gare de l'Est auf, loggte mich über das Rootkit ein und änderte das Sicherheitspasswort meines Laptops in die Zahlenreihe 1234.
Die Nachbarin hat wieder geklingelt, um zu erfahren, wo Madame Marnet ist.
Ich weiß es nicht, ich bin es nicht, und ich muss mich beeilen, denn sie wollen
mir jetzt wirklich an den Kragen. Ich habe unten in der Rue de la Grange aux
Belles den Praktikanten in Begleitung von zwei Polizisten gesehen, er hat kurz
hochgesehen an meinem Wohnhaus, auf ein Fenster gezeigt, das nicht meines
ist, kurz haben sie diskutiert, ehe er mit seinen Begleitern Richtung Place du
Colonel Fabien verschwunden ist.
Ich haste die Treppe hinunter, flüchte die Straße in die andere Richtung hinab,
drei Jungs jagen auf Skateboards aus der Krankenhauseinfahrt, fahren mich
beinahe um. Wir tauschen ein paar zusammenhanglose Worte aus, die Jungen
lachen zu verschreckt, als dass ich Ihnen noch drohen will, und ich habe ohnehin keine Zeit. Ich biege in die Rue Bichat, auch hier ist eines der Iglu-Zelte aufgebaut, ein Wasserglas steht auf einem Holzkistchen davor, und zwei Paar
Flipflops in unterschiedlichen Größen lehnen an der Mauer. In den Torbogen ist
Liberté, Égalité, Fraternité eingemeißelt, und beim kleinen Platz informiert ein
Schild am Zaun, dass man hier sein Blut lassen kann. Im Pflaster meine ich
noch die Einschusslöcher zu sehen von jenem Abend im November, als der
Lieferwagen auf seiner Fluchtfahrt weg vom Bataclan hier hielt, zwei Männer
mit Maschinengewehren ausstiegen und ihre letzten Patronen auf die Menschen vor dem Café Le Carillon und dem Petit Cambodge feuerten.
Vielleicht lebt Madame Marnet jetzt hinter diesem Zaun. Ihre Enkel haben sie
längst vergessen oder kommen kurz vorm Sterben noch einmal vorbei, sie
erkennen die alte Frau nicht mehr, die wirres Zeug redet mit einer kläglichen
Stimme, ihre Schneidezähne sind abgebrochen wie die Zähne von Victor
Hugos Fantine, aber sonst erinnert wenig ans 19. Jahrhundert, nur die beiden
Türen, links garçons, rechts filles, die einmal die Schulordnung aufrechterhielten, als es noch ein Internat war, und nun liegt dort vielleicht Madame
Marnet, lebt oder vegetiert oder ist schon tot.
Ich möchte es mir mit Whisky schön trinken, nur habe ich kein Geld dafür, diese
Stadt saugt es aus mir heraus, und im Supermarkt reicht es dann nur noch für
Baguette und alle drei Tage für Käse und heute für den billigsten Rotwein im
Carillon. Natürlich wäre Käse, sogar Whisky jeden Tag möglich, auch ein Besuch in der Brasserie am Quai de Jemmapes, würde ich mich nicht vor meinem
Arbeitgeber verleugnen, würde ich weiterhin meiner Aufgabe nachkommen,
konsumierbare Träume zu produzieren, anstatt den Zugang auf meinem
Arbeitsrechner freizuschalten von einem Internetcafé aus und darauf zu warten,
dass etwas geschieht. Über den Plastikrahmen des Bildschirms lief ein gewaltiger Riss, mir schien, jeden Moment könne alles auseinanderfallen, und der
Betreiber des Ladens diskutierte mit einem Kunden über die Polizeirazzien im
achtzehnten Bezirk, etwas weiter nördlich, die Gegend ist bei den Beamten für
Drogenhandel und organisierte Kriminalität bekannt, sie suchen dort häufiger
als anderswo und nehmen es als Zeichen gegen die Menschen, dass sie bei
ihnen auch häufiger Verstöße finden als in den Vierteln, die sie nie besuchen, in
ihren Statistiken leuchten die Straßen hinter den Bahnhöfen gefährlich rot, aber
was wäre das für eine Stadt, in der es keine Störungen mehr gäbe? Wenn mich
etwas daran glauben lässt, dass man hier noch atmen kann, dass es noch
Lücken gibt im System, dann sind es die Taschendiebe und die Wunderlichen
in der Metro, die vor sich hin die verschrobensten Geschichten erzählen, ohne
klare Logik, ohne offensichtlichen Zusammenhang, und einer von ihnen, das
hoffe ich zumindest, hat meinen Laptop in seinem Gepäck.
Denn wie soll das gehen, träumen, von den Gängen unserer Abteilung aus, in
denen von meinem Vorgesetzten bis zum Praktikanten keiner ehrlich genug ist,
ehrlich bis zum Innersten, und niemand hat wirklich gelebt, der depressive
Kollege wurde von seiner zwanzig Jahre jüngeren Freundin verlassen, der
Praktikant fühlt sich in seinem Milieu nicht mehr zu Hause, wie er mir in einer
Kaffeepause sagte, fühlt sich beengt und wohnt doch weiterhin auf den neunzig
Quadratmetern Eigentum im achten Bezirk, das ist alles, und nicht nur wegen
dieses bleichen Söhnchens halte ich es für hochtrabend zu glauben, wir
könnten das allein, wir träumten wagemutig genug, verstünden etwas von
Subversion.
Es ist der Zufall und die Berechnung, zwischen denen wir zu balancieren
haben, und wenn ich nach meinem Arbeitstag, auf dem Weg von der Metro,
abends in die Rue Vicq d'Azir eingebogen bin, vor dem Baustellenzaun in die
Knie gegangen bin und mich zu dem Mann unter dem Dach des Iglu-Zeltes
gebeugt habe, wollte er nichts von mir wissen. Ich fragte ihn dennoch jeden
Tag: Wie er geschlafen habe. Was er sich wünsche. Ob er an die Zukunft
glaube oder nur daran, dass morgen auch ein Tag ist, so wie heute, mit kaum
merklichen Varianten. Er knurrte mich an, einmal schlug er nach mir, und
irgendwann, das weiß ich, es wird nicht mehr lange dauern, werde ich sein Zelt
leer finden. Letzte Woche haben zwei Betrunkene auf sein Dach gepinkelt, ich
bin auf der anderen Straßenseite geblieben, neben einem der Elektroroller mit
grünem Lenker, die es jetzt überall in der Stadt gibt, die kleinen Utopien, aus
denen am Ende, wenn sie nach zwei, drei Jahren verrostet in der Seine liegen,
das Batteriegift fließt, aber wer hat schon geglaubt, die Seine sei noch zu retten.
Und so ist es eben: Die Maschinen sind nicht böse, nicht das Programm, es
sind wir, die sich entscheiden müssen, wofür wir es verwenden, uralte Regel,
manche nennen das Freiheit, und wir können nicht nachträglich Metallen,
Wolken oder Datensätzen die Schuld geben, dass sie sich wieder ins Schlechte
gewendet haben und alle drei Tage ins Böse. Man muss lernen, mit den Algorithmen zu tanzen, nur dann geht es. Wenn wir versuchen, gegen sie zu kämpfen, stärker zu sein als sie, geraten wir aus dem Takt, nicht sie. Die Frage
nach der Zukunft, überhaupt die Frage nach Zeit ist für ein Programm, das die
Fähigkeit des Sterbens nicht kennt, uninteressant, und es geht gleichgültig
darüber hinweg, wenn wir uns mit seiner Hilfe eine neue Apokalypse bauen.
Dabei wäre ja auch das Gegenteil möglich: dass wir die Hierarchien aufheben,
dass es nicht mehr das Monopol einiger weniger ist, ihre Träume sichtbar zu
machen, ausgewählt von Menschen in Glasfluren, die sofort, wenn sich ein
Fremder ins System einloggt, die Sicherheitssysteme anwerfen, hektisch hin
und her telefonieren, sie wollen die Grenzen der Vorstellung so durchlässig
dann eben doch nicht haben. Noch in der Nacht haben sie mich angerufen, um
01:43h, um mich über das Eindringen ins System zu informieren, sie haben vor
Bedrohung nicht schlafen können, dabei war es der erste freie Atemhauch, der
sie in diesem Flur anwehte.
Ich stehe mit einem Blumenstrauß am Empfang, die Dame vor mir darf keine
Auskunft geben. Es mag sein, dass Madame Marnet hier aufbewahrt wird, in
einem der Zimmer für jene Patienten, deren Entlassung aus dem Hôpital Saint
Louis nicht mehr vorgesehen ist, ich werde es nicht erfahren, da ich keine
Verwandtschaft nachweisen kann. Durch das Fenster sehe ich auf SacréCœur. Die weiße Kuppel wie ein gebleichter Schädel am Himmel, ich sehe über
den Gare du Nord hinweg und über den Gare de L'Est, die Hotels mit nur einem
Stern und zerrissenen Gardinen und die billigen Schönheitssalons am Château
d'Eau, über die verstörende Geduld zweier Frauen, die auf voluminösen Frisierstühlen im LA Beauty sitzen und sich die Haare machen lassen, kämmen, glätten, flechten. Um sie herum eine Stadt, kalt, schnell, übertrieben, mit einem
Wahrzeichen aus Metall und ohne Seele.
Ob ich den Blumenstrauß hierlassen dürfe, frage ich die Dame.
Nein, auch das sei nicht erlaubt.
Ich lächle, es hilft nichts, man wird immer vorsichtiger, schiebt vermutlich sogar
diese Blumenstraußverordnung noch auf die Anschläge, die den Ausnahmezustand unumgänglich gemacht haben sollen und nach dem Ausnahmezustand
die neuen Gesetze, die ihn nicht aufhoben, sondern naturalisierten. Ich sehe
der Dame ins Gesicht, meine den Argwohn und die Angst zu erkennen, die
strengen Regeln, nach denen sie sich verhält, weil sie dem menschlichen
Ermessen nicht über den Weg traut, nicht mal ihrem eigenen. Gut, vielleicht
mag sie mich auch einfach nicht, aber natürlich wäre dies das Versprechen:
dass uns die künstliche Intelligenz hilft, Gefahren vorauszusehen, dass man
einen harmlosen Blumenstrauß für eine alte Dame hinterlassen darf, weil es
nichts ist als ein harmloser Blumenstrauß.
Ich wende mich ab und gehe den aseptisch trostlosen Krankenhausgang
hinunter Richtung Ausgang, und es wäre eben auch dies das Versprechen:
dass wir genügend Zeit hätten, einer alten Dame die Hand zu halten, auch
wenn sie uns nicht mehr erkennt, nie gekannt hat, selbst nicht mehr weiß, wo
sie gerade ist; wir hätten Zeit dafür, weil uns die KI all die stupide geistige Arbeit
abnimmt, die unsere Tage frisst, und es mag ein paar Bourgeois mit Schildkröten geben, denen das nicht gefällt, aber die Frage ist ja nicht, wie wir mit der
Zukunft umgehen, die immer gerade anbricht, sondern wie sie mit uns umgeht.
Die schöne neue Welt liegt genauso nah an der schrecklichen wie die alte.
Sieht man sie aus dem einen Winkel, ist sie Freiheit, sieht man sie aus einem
anderen, ist sie Überwachung. Wer sich nur für Drachen interessiert, wird nicht
bestimmen, in welchen Winkel unsere Zukunft kippt, und übersieht, wohin die
Schildkröten laufen.
Die Maschine generiert mit Modul eins und filtert mit Modul zwei, aus der
riesigen Halle mit einer Millionen fiktiver Menschenaffen wählen wir zwei aus,
der Rest träumt und tippt und bleibt stumm, und im Zelt ist es stickig, riecht
nach zu viel Mensch auf zu wenig Raum, nach der Fäulnis eines unbehandelten Wundbrands. Er sieht mich gleichgültig an, der Mann in der Rue Vicq
d'Azyr, als ich mich neben ihn auf die durchgewetzte Isomatte setze, ihn bitte,
mir eine Geschichte zu erzählen. Von einer Schildkröte, von der Zukunft, erzählen Sie mir von morgen, sage ich. Un jour viendra. Erzählen Sie mir von
dem Tag, an dem die Enkel von Madame Marnet durch das Tor mit der Inschrift
Liberté, Égalité, Fraternité hindurch gehen, um sie zu besuchen im Hôpital
Saint Louis. Vielleicht gelingt das, vielleicht kommt so ein Tag. Es ist doch
möglich, oder nicht? Der Mann verzieht sein Gesicht, womit er mir sicher zu
verstehen geben will, dass es möglich ist, und vieles andere auch, auf einem
Rechner irgendwo in dieser Stadt setzt ein Unbekannter unsere Puzzleteile neu
zusammen, zur schönsten Geschichte, die aus unserer Abteilung je hervorgegangen ist, und auch, wenn nur ein Roboter unsere Zweifel schreibt und
wieder löscht, auch wenn … Ich lege den Kopf zurück und sehe in der Dämmerung eine gewaltige Schildkröte hoch über den Dachfirsten eine Drachenkurve fliegen.