Nilufar Karkhiran Khozani
In Schatten gebannt
TW: schwere körperliche und sexuelle Gewalt, Suizid.
In Schatten gebannt
„They take our eyes, but we see the truth clearly.“
(Anonym, via @iraniandiasporacollective)
Seit Beginn der Proteste nach dem Tod von Jîna Mahsa Amini im September 2022 übersetze ich Meldungen, die mich über Instagram erreichen. Beziehungsweise ich versuche es, denn ich kann eigentlich kaum Persisch.
kalemāt – Wörter. Mein Persisch ist viel besser geworden. Während ich versuche, Nachrichten zu übersetzen, lerne ich neue Wörter. Ich versuche in Slow-Mo zu entziffern, was die Menschen schreien, wenn jemand geschlagen oder verhaftet wird. Die Schreie sind mir immer mehr im Gedächtnis als die Bilder dazu. Oder die Namen. Die Namen vergesse ich schnell, auch wenn ich versuche, sie mir zu merken. Sie werden irgendwann immer ähnlicher. Manchmal erscheint mir das, was ich aus den Posts ziehe, wie eine eigene literarische Gattung. Als ich ein weiteres Reel zurückspule, um ein paar Wörter aufzuschnappen, fällt mir auf, dass ich gerade die Rede des bekannten Ringers Navid Afkari höre, die er 2019 kurz vor seiner Hinrichtung aus der Todeszelle schickt. „Ich grüße die ehrenwerten Menschen Irans“, beginnt Navid seine Botschaft[1]. Auf diese Art lerne ich die Sprache meiner Vorfahren.
khoun – Blut. In Iran werden ca. 20 Sprachen gesprochen. In Provinzen wie Sistan und Belutschistan, Kurdistan oder Khuzestan geht das Regime besonders repressiv vor, teils mit schwerer Artillerie.[2] Einige Provinzen gelten als „besonders protestbereit“. Die Todesopfer während der Proteste sind hier laut mehrerer Quellen „überproportional hoch“. Am 30. September 2022 protestieren Menschen nach dem Freitagsgebet in Zahedan in der Provinz Sistan und Belutschistan anlässlich des Todes von Jîna Mahsa Amini und auch gegen ihren Polizeichef, der zuvor ein fünfzehnjähriges Mädchen auf der Polizeidienststelle in Tschabahar vergewaltigt hatte.[3] Scharfschützen der Revolutionsgarden beziehen Stellung vor der sunnitischen Makki-Moschee. Hunderte werden auf dem Gebetsplatz erschossen. Wie viele sterben, ist unklar, da viele Menschen in der Region keine Ausweispapiere haben. Man könnte auch sagen: Massaker.
In der Stadt Dezful in Khuzestan im Südwesten Irans wird am 23.9.1994 die Journalistin Sepideh Gholian geboren.[4] Auch in dieser Region leben viele Minderheiten. Gholian setzt sich für Arbeiter:innenrechte ein und war laut BBC bereits in vier Gefängnissen inhaftiert.[5] 2019 veröffentlicht sie einen Bericht über die Folter und sexuellen Misshandlungen, die sie und andere Aktivistinnen in Haft erfahren hatten. In den nächsten Jahren wird sie mehrmals verhaftet, verurteilt, verlegt, freigelassen und wieder verhaftet werden. Sie wird hunderte Kilometer von ihrer Familie ins Evin-Gefängnis gebracht, mehrere Wochen im Trakt der Revolutionsgarden verhört und von aufgestachelten Mitinsassinnen attackiert. Sie wird schwer an Covid erkranken und kaum medizinische Behandlung erfahren. In einem Video vom Tag ihrer letzten Freilassung sieht man sie mit einem Blumenstrauß, in traditioneller Kleidung und Blumen im Haar statt Kopftuch schreien: „Khamenei, du Mörder, wir werden dich unter die Erde bringen!“ Noch am gleichen Tag wird sie wieder verhaftet.
televizion – Fernsehen. Das ZDF berichtet Ende Oktober live aus Teheran. Statt der jahrelangen Korrespondentin Natalie Amiri steht nun Jörg Brase vor der Kamera.[6] Ein bisschen zu souverän erklärt er: kein hartes Durchgreifen mehr, wenn Frauen auf der Straße die Kleiderordnung missachten. Er scheint zu glauben, was er sagt, während sich ein paar Beamte in Zivil hinter ihm auf einem Motorrad zu positionieren scheinen. Ich schaue an diesem Tag ein Video, in dem zwei Frauen in Handschellen auf einem Bordstein liegen, über ihnen Männer mit Maschinengewehren. Eine beginnt zu schreien. Dann werden sie nacheinander vergewaltigt. Ich poste das Video und benutze zum ersten Mal das Wort Triggerwarnung.
dānešgāh – Universität. Sie lernen monatelang für die schweren Aufnahmeprüfungen. Wer es an die Sharif-Universität in Teheran schafft, geht später nach Harvard oder andere Eliteuniversitäten auf der ganzen Welt. Über die Hälfte der Studierenden in Iran sind Frauen. Am 2. Oktober 2022 versammeln sich Studierende im Unigebäude. Dann kommen die Schlägertrupps des Regimes. Als ihre Kinder nicht nach Hause kommen und Handyvideos aus dem Parkhaus der Uni auftauchen, das zeigt, wie einige versuchen, sich vor Schüssen in Sicherheit zu bringen, machen sich die Menschen in Teheran panisch auf den Weg zur Uni. Es bilden sich lange Autoschlangen. Sie rufen, lasst unsere Kinder frei. Die Türen der Uni bleiben verriegelt. Im Inneren die Elite einer ganzen Nation. In ihren Hörsälen sterben manche Studierende und Dozent:innen durch Kugeln, andere werden geschlagen, gefoltert und schließlich mit verbundenen Augen abtransportiert ins Evin-Gefängnis. Es heißt jetzt Evin-Universität.
āb – Wasser. Ein Foto aus Belutschistan zeigt einen barfüßigen jungen Mann gekettet an einen Pfahl. Er trägt die typische Kleidung der iranischen Provinz an der Grenze zu Pakistan. Sein Kopf ist nach vorne gesunken. Er sei sehr durstig gewesen, heißt es. Vor ihm steht ein Glas Wasser, um ihn zu quälen, er kann es nicht erreichen.[7] Selten habe ich so viel Leid in einem Foto gesehen. „Āb“ ist eins der ersten Wörter, die ich auf Persisch gelernt habe. Bābā āb dād – Papa gibt Wasser – ist der erste Satz, den Kinder schreiben lernen. Er vereint die ersten Laute und Buchstaben, die auch ich als Erwachsene lerne. Einige Wochen später geht die Nachricht durch die sozialen Medien: Nachdem er wieder freigelassen wurde, sei Khodanoor Lajaei bei Protesten ums Leben gekommen. Es gibt ihn nicht mehr, aber nun taucht ein Video von ihm auf. Khodanoor tanzend zu traditioneller Musik. Ich kann mittlerweile genug Persisch, um seinen Namen übersetzen zu können. Licht Gottes. Er lächelt in dem kurzen Clip, während er tanzt, und er sieht aus, als sei er dabei Gott ein Stück näher gekommen.
rangin kamān – Regenbogen. „Im Namen des Regenbogengottes“ führt Kian Pirfalak ein kleines selbstgebautes Boot aus Eisstielen vor. Im Video lässt er die Konstruktion voller Stolz in einer Wasserschüssel schwimmen. Er tauft es auf den Namen Jaber Ibn Hayyan. Ich muss schon wieder bei Wikipedia nachschlagen: Dschābir (Jaber) ibn Hayyān war ein Wissenschaftler aus dem 8. Jahrhundert.[8] Woher weiß ein Neunjähriger sowas? Kian liebte Erfindungen. Er wollte Roboteringenieur werden. „Lass uns der Polizei heute vertrauen“, soll er gesagt haben, bevor er mit seinem Vater am 16. November in Izeh in der Provinz Khuzestan ins Auto stieg. Die Kugel eines Polizisten tötet ihn auf dem Rücksitz. Ich kaufe ein paar Tage, nachdem ich das Reel über ihn gesehen habe, in der Drogerie ein paar Holzstäbchen und Gummibänder. Es gibt sie sogar in Regenbogenfarben. Ich will Kians Boot nachbauen, aber zu Hause bin ich ratlos. Ich rufe eine Freundin an: „Du hast doch Kinder, weißt du, wie sowas geht?“
enqelāb – Revolution. Ein anderer Clip zeigt ein paar alte Männer, die sich mit Transparenten am Straßenrand versammelt haben. Sie skandieren: „Es tut uns leid!“ Vor 43 Jahren haben sie als junge Männer den Schah gestürzt, in der Hoffnung auf Freiheit und ein besseres Leben. Sie sind so alt wie mein Vater. Meistens schweigsam, war er meine gesamte Kindheit und Jugend darauf bedacht, sich erstens nichts anmerken zu lassen und mich zweitens von allem Schrecklichen fernzuhalten, so als wäre es nie passiert.
Seit ich klein bin, höre ich, hab Geduld, es wird besser. Es wurde immer nur schlimmer. Seit den ersten Bildern, die mich über Instagram erreichen, ist ein Geräusch in meinem Kopf, während ich esse, während ich arbeite, während ich ununterbrochen auf mein Handy schaue, während ich im Bett liege und versuche zu schlafen. Als ich im September 2022 zum ersten Mal Fotos von Frauen ohne Kopftuch in den Straßen Teherans sehe, fühlt es sich an, als sei das gegen die Schwerkraft. Sofort ist klar: Die Islamische Republik Iran ist am Ende. Es gibt kein Zurück.
mihan – Heimat. Ich stehe mit ein paar Leuten in einer Bar in Kreuzberg. Eigentlich ein ganz normaler Abend. Es wäre sicher bisher alles für mich sehr weit weg, wirft eine der Bekannten ein, als ich erwähne, dass gerade in Iran „viel los“ ist. Als sei ich nicht betroffen. Hatten sie bis jetzt angenommen, dass es mich nicht berührt? Bis jetzt habe ich selten darüber nachgedacht, wo meine Heimat gewesen wäre. Ich habe versucht zu ignorieren, was die Worte Flucht, Revolution und Asyl in meinem Leben zu suchen haben. Bisher konnte ich mir nicht vorstellen, mich mit meiner Familie nicht in einer Fremdsprache zu unterhalten. Bis jetzt habe ich nie nachgedacht über eine Folge dieser Diktatur: Entfremdung.
Wir waren immer da, denke ich. Wir haben es nur sehr gut versteckt. Die Idee, in einem Teil der Welt zu leben, wo Gewalt, Tod, und Schmerz „weit weg“ sind, war immer schon nur eine Illusion, die wir Iraner:innen insoweit bedienten, als wir diesen Teil von uns in der Öffentlichkeit totschwiegen, damit sich niemand wegen uns unwohl fühlt. Das Verstummen während eines Partygeplänkels, das Themawechseln, das wohlwollende Erklären, das Beschwichtigen der anderen, „ist schon okay, wir können total normal weiter reden, kein Grund zur Sorge“, die automatischen Antworten sind eine Überlebensstrategie, die aus perfider Zuvorkommenheit besteht, während ich versuche, nicht den sozialen Tod zu sterben. Ich fühle mich schmutzig.
marg – Tod. „Tod dem Diktator“ klingt für manche befremdlich auf einer Demo. Doch die Sprache lässt sich nicht einfach in eine andere übertragen. „Marg bar“ kann auch „nieder mit“ bedeuten. Manchmal kann man die Bedeutung nicht wissen, man muss sie erfühlen. Die arabische Schrift stellt Fallen: Vokale werden oft nicht mitgeschrieben. Die Wörter entfalten erst beim Lesen ihre Gestalt. Manchmal ist das trügerisch. Wer eine eindeutige Antwort sucht, ist in dieser Sprache verdammt, denke ich. Das Alphabet versucht nicht einmal, seine endlosen Facetten zu verschleiern. Ich kämpfe nicht mehr darum, alles verstehen zu wollen. Ich ergebe mich der Ungenauigkeit wie den Widersprüchen, die dieses Land den Menschen eingepflanzt hat. Auch wenn ich die meisten Wörter, die ich lerne, schnell wieder vergesse, bahnt sich die Sprache als kollektives Trauma ihren Weg in mein Gehirn. Darf man jemandem den Tod wünschen? Wo soll das enden? Einige Jugendliche begingen unmittelbar nach ihrer Freilassung aus dem Gefängnis Suizid. Was hat sie dazu gebracht? Auch das lässt sich nur erahnen.
shenāsnāme – Ausweis. Ich habe einen dieser Ausweise, auf denen ich ein Kopftuch tragen muss. Die iranische Staatsbürgerschaft gehört zu den wenigen auf der Welt, die man nicht ablegen kann. Sobald ich iranischen Boden betrete, bin ich Iranerin mit allen Konsequenzen. „Heißt das, du kannst wirklich nie wieder zurück?“, fragen mich Leute, nachdem ich das erste Mal etwas zu den Protesten in Iran auf Instagram poste. „Ich könnte genauso gut meinen Pass zerschneiden“, antworte ich. Einige haben es schon getan.
yakh – Eis. Die Eltern von Kian Pirfalak[9] sollen seinen Leichnam mit Eis gekühlt und bis zur Beerdigung zu Hause aufbewahrt haben – aus Angst, der Körper ihres Jungen könnte von Truppen des Regimes gestohlen werden. Die toten Körper der Protestierenden mit Folter- und Vergewaltigungsspuren verschwinden aus den Krankenhäusern oder Leichenhallen, damit die Verbrechen vertuscht werden. Es heißt dann, jemand sei vom Dach gefallen oder habe einen Herzinfarkt gehabt. Ein Video zeigt eine aufgelöste Frau, die mit erhobenem Arm einen Sektkühler durch die Straßen trägt. Sie schreit: „Braucht noch jemand Eis?“
raqs – Tanz. Nach ein paar Tagen tauchen Videos von Menschen auf, die wie Khodanoor unter dem Azadi-Turm in Teheran tanzen. Auch Handyvideos aus U-Bahn-Abteilen. Frauen jeden Alters lassen in den Clips ihre Arme und Hüften kreisen, werden dabei von Klatschen und Musik begleitet. Tanzen und Singen in der Öffentlichkeit ist Frauen streng verboten. Sie riskieren ihr Leben. Dies ist die getanzte Revolution. Ein Video zeigt einen Mann, wie er am Grab seiner Tochter steht, die Arme ausbreitet und rhythmisch beginnt zu schnipsen. Er habe seiner Tochter versprochen, auf ihrer Hochzeit für sie zu tanzen. Er weint bitterlich, aber er hat Wort gehalten.
sāye – Schatten. „Medien müssen immer auswählen“, schreibt die Ombudsstelle des Schweizer Rundfunk (SRF) Anfang Dezember auf eine private Anfrage. Die Ukraine stehe der Schweiz sowohl geographisch als auch kulturell näher. Man könne das nicht miteinander vergleichen. „Mit besten Grüssen“. In Iran findet die erste feministische Revolution statt, und die Welt schaut nicht hin. Je mehr Menschen Gewalt und Unterdrückung anprangern, je expliziter die Posts auf Instagram, desto eher werden sie von Social-Media-Algorithmen erfasst und gesperrt. Shadow banned. Account gelöscht. Unser größtes Talent in der Diaspora war lange Zeit, unsichtbar zu sein. Wir sind in Schatten gebannt. Als Schatten leben wir hinter unserem sichtbaren Leben ein weiteres, in dem wir weit weg sind, in einem Land, das vielen verschlossen ist. Mittlerweile formieren sich in den sozialen Medien Grüppchen von Iraner:innen. Noch nie waren Hoffnung und Verzweiflung so nah beieinander. Wir haben keine Angst mehr. Wir schweigen nicht mehr. In Iran, einem Land, in dem es Wüste gibt, ist Schatten ein Mädchenname.
zan – Frau. Diesmal ist etwas anders, sagt mein Vater. Diesmal gehen die Leute zusammen auf die Straße, in allen Teilen des Landes, über alle Schichten hinweg. Diesmal marschieren Schulmädchen durch die Straßen und verbrennen ihre Kopftücher. Die Männer folgen ihnen endlich. „Wir müssen bei uns selbst anfangen“, sagt er. Ich schaue an mir herunter. Jedes Stückchen Körper, jede Haarsträhne, ist zu verhüllen, meine bloße Existenz wäre anstößig in der Islamischen Republik Iran. Ein Sprechchor geht so: „Pervers bist DU, ICH bin eine freie Frau!“
zendegi – Leben. Ein anderer Sprechchor geht so: „Kanonen, Panzer, Maschinengewehr haben keine Wirkung mehr! Ihr sagt meiner Mutter, sie hat keine Tochter mehr!“ Eine Anspielung auf die Gefahr, bei Protesten verhaftet zu werden. Sollten die Frauen nicht nach Hause zurückkehren, wird irgendwann jemand ihren Müttern sagen müssen, dass sie nicht wiederkommen. Auf Persisch klingt selbst dieser Sprechchor im rhythmischen Sechs-Achtel-Takt wie ein Gesang.
pul – Geld. Ein Kind drückt sich die Nase am Schaufenster eines Spielzeuggeschäfts platt. Ein anderes macht Straßenmusik und wird beklatscht. Der Junge im Video spielt so virtuos Akkordeon, dass es mich fassungslos macht. Die Videos mit Kindern ziehen mir jedes Mal die Schuhe aus. Ein weiteres Video: Eine Frau mit Tschador klebt eine Banknote an eine Mülltonne, sie sagt, davon habe sie vor kurzer Zeit noch zwanzig Kilo Hähnchen kaufen können. Manchmal sagt mein Vater: „Nilufar, du könntest hier eigentlich super als Psychologin arbeiten, hier haben alle Depressionen“, und lacht. Es gibt Videos, in denen junge Menschen auf der Straße befragt werden: Würden sie lieber viel Geld haben oder nicht geboren worden sein, und alle antworten in völliger Klarheit: „Ich wäre gerne niemals geboren worden.“ Und dann: „Was würdest du mit viel Geld machen?“ – „Auswandern“. Oft sind die Videos mit dem Lied Baraye von Shervin Hajipour[10] unterlegt, manchmal aber auch mit dem harten Farsi-Rap von Shapur[11]. Es finden sich in der Folge immer mehr Reaktionen von Leuten aus der Diaspora, in denen Iraner:innen mittleren Alters aus Toronto oder Sydney singen und tanzen. Sie rappen mit dem Arm zum Victoryzeichen ausgestreckt „nieder mit dem ganzen System“ und „Seyyed Ali [Khamenei], tiketikatun mikonim!“. Die Sprache ist voll von Lautmalerei. Ich übersetze mit „wir taktaktak-en dich!“.
čašm – Auge. Die Regierungstruppen sollen angewiesen sein, mit ihren Gummigeschossen auf die Augen der Protestierenden zu zielen. Die Jurastudentin Ghazal Ranjkesh sieht in dem Video, das sie auf Instagram postet, mit einem lachenden und einem toten Auge in die Kamera. Sie zeigt dabei das Victoryzeichen und schwört mit durchdringendem Lächeln, sie bereue nichts.
sānsur – Zensur. Ich überlege in den Unterhaltungen oft, was ich alles nicht sage. Mir wird klar, was mein Vater alles nicht aussprechen konnte, während ich klein war und er versuchte, ein ganz normales Leben in Deutschland zu führen. Manchmal sagt er mir heute noch, ich soll „aufpassen“, was ich schreibe und natürlich wem ich was erzähle, man könne nie wissen. Ich solle mich lieber nicht politisch äußern. Erinnerungen wie sie mein Vater hat, finden sich plötzlich überall. Nur dass er mit mir nie darüber gesprochen hat. Mit jedem neuen Wort, das ich nun aus den Videos über die Proteste ziehe, habe ich das Gefühl, Schuld auf mich zu laden.
gerougān – Geisel. Der deutsche Staatsbürger Jamshid Sharmahd wird in der Einzelhaft bereits jegliche Orientierung verloren haben, nachdem er auf einer Dienstreise in Dubai im Sommer 2020 in seinem Hotel überfallen und nach Iran verschleppt wurde.[12] Seine Tochter Gazelle versucht alles, um auf ihren Vater aufmerksam zu machen. Immer lächelnd, sachlich, konstruktiv. Kein einziges Mal verliert sie in ihren Interviews und Reels, die sie auf Instagram postet, die Fassung, obwohl sie weiß, dass das Todesurteil gegen ihren Vater jederzeit vollstreckt werden kann. In einer WhatsApp-Gruppe schreibt jemand, sie trage offenbar neuerdings blaue Kontaktlinsen, ob das etwas zu bedeuten habe? Gazelle Sharmahd weiß, wie die Chancen stehen. Das Missing-white-woman-Syndrom besagt, dass über vermisste Personen überproportional häufig berichtet wird, wenn es sich um weiße, weiblich gelesene Personen aus der Mittelschicht handelt.[13] Jamshid Sharmahds Leben hängt von der Aufmerksamkeit der Welt ab. Für ihn gilt der Umkehr-schluss: Als „missing brown man“ heißt das, er wartet in einer Einzelzelle auf seine Hinrichtung, und die Bundesregierung unternimmt nichts. Gazelle gratuliert ihrem Vater zum Geburtstag, während er in der Isolation nicht mehr weiß, dass er gerade Geburtstag hat. Sie nennt ihren Vater liebevoll Jimmy. Maybrit Illner nennt ihn „diesen Deutsch-Iraner“, Bundeskanzler Olaf Scholz nennt den ehemaligen Siemens-Mitarbeiter bis zum Februar 2023, lange nach Ausbruch der Proteste, kein einziges Mal.
behešt – Paradies. „Das Paradies liegt unter den Füßen der Mütter“, lautet ein persisches Sprichwort. Meine Cousine ist wie viele ausgewandert und hat erst im Ausland eine Familie gegründet. Sie hat eine kleine Tochter, der ganze Stolz ihrer Eltern und sehr quirlig. Manchmal kommt sie vor Mitternacht nicht ins Bett und muss am nächsten Tag wieder arbeiten. Nein, das heiße nicht, dass die Mütter mit ihren Füßen auf das Paradies treten, wie ich es tatsächlich erst verstanden hatte. Aber sie lacht, sie finde diese Interpretation gar nicht so schlecht. Sie wolle ohnehin nicht ins Paradies der Mullahs, in dem es nur Märtyrer und Jungfrauen gebe. Die Mullahs stellen sicher, dass es in ihrem Paradies regelkonform zugeht. Unverheiratete Frauen werden vor der Exekution mit einem Gefängniswärter „verheiratet“ und vergewaltigt, damit sie nicht ins Paradies kommen.
fawn (engl.) – Rehkitz. Außenpolitisch entstanden in den letzten Jahrzehnten immer tiefere Verstrickungen mit dem Mullah-System, wie in einer Beziehung, in der Fight, Flight oder Freeze aussichtslos geworden ist. Die Antwort der EU nennt sich folgerichtig Appeasement-Politik. Die Bezeichnung für die Außenpolitik westlicher Staaten gegenüber dem iranischen Regime ist gleichzeitig der am meisten unterschätzte Opfermove. Das Rehkitz gesellt sich zu den drei bekannten Fs, die unwillkürliche automatische Antwort des Körpers bei unmittelbarer Bedrohung. Eine Art Bambi-Effekt führt dazu, dass man seinen Angreifer beschwichtigt, vor allem, wenn man ihm über Jahre hinweg nicht entkommen kann. Die EU-Außenpolitik betrachtet autoritäre Staaten weiterhin als Garanten für Stabilität. Menschen werden zu Objekten, zu Ornamenten einer Diktatur, zu einem einzigen Kollateralschaden. „Die EU hat sich aktiv für das Ziel eingesetzt, die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu Iran aufrechtzuerhalten und auszubauen. Die Europäische Kommission hat eine Reihe von Maßnahmen zur Förderung der Handelsbeziehungen und zur Unterstützung der Regelungskonvergenz getroffen“, lautet es im offiziellen Informationspapier der EU.[14] Und: „Die Aufhebung von Nuklearsanktionen wird gemäß dem Zeitplan und den Modalitäten des Gemeinsamen umfassenden Aktionsplans (Joint Comprehensive Plan of Action – JCPOA) erfolgen.“ Ein System, das sich immer weiter fortsetzt und die Macht der Mullahs nicht mehr in Frage stellt. In Täter-Oper-Beziehungen schützen Menschen sich vermeintlich, wenn sie die Unterdrückung verinnerlichen. Gleiches gilt für das politische Handeln von Staaten. Empathie mit den Opfern des Regimes zu entwickeln, würde das instabile Gleichgewicht der Islamischen Republik ins Wanken bringen. Und so ist es irgendwann alltäglich, dass Menschen in Iran öffentlich an Baukränen aufgeknüpft werden und Kinder dabei zusehen.
Als eine am Stehtisch kurz von ihrem Drink aufsieht und einwirft, es sei doch besser, wenigstens ein bisschen Stabilität in der Region zu haben, und natürlich finde sie nicht gut, was da passiere, platzt es aus mir heraus: „Es dürfte in Iran nicht eine Familie mehr geben, in der nicht jemand in den letzten Jahren verhaftet, ermordet, vergewaltigt, hingerichtet oder bedroht wurde. Ebenso gibt es sicher keine Familie mehr in Iran, in der nicht jemand in der Hoffnung auf eine Zukunft in Freiheit ins Exil gegangen ist, an psychischen Störungen leidet oder sich suizidiert hat. Es gibt niemanden im Land, der nicht unter der über sechzig Prozent liegenden Inflation leidet und noch daran glaubt, dass dieser Zustand in irgendeiner Weise akzeptabel oder reformierbar ist. Und es gibt ganz sicher keine außenpolitische Stabilität.“
sedā – Stimme. So vieles wäre noch erwähnenswert gewesen, und ich kriege doch nur Bruchstücke zusammen. Navid Afkaris Stimme ist mir noch im Kopf, ich muss erst eine englischsprachige Übersetzung googeln und übersetze dann sinngemäß: „Ich bitte jede freiheitsliebende Person, unabhängig ihres Glaubens, darum, meine Stimme und die meiner Familie zu sein. Denn Ehre und Menschlichkeit haben keine Bedeutung, wenn man sich nicht für Wahrheit und Gerechtigkeit einsetzt.“[15]
Eigentlich fühlt sich der Moment in der Bar mit ein paar Bekannten wie ein ganz normaler Abend in meinem Leben an. Ich komme gar nicht erst auf die Idee zu erzählen, dass ich gerade versuche, Meldungen über Hinrichtungen zu übersetzen. Ich müsste ihnen erklären, dass darüber in den deutsch- oder englischsprachigen Medien nichts zu finden ist. Ich müsste erklären, wer diese Leute sind, die da hingerichtet werden. Dass mein Vater aus diesem Land kommt, wo das passiert. Dass sie fast alle so alt oder jünger sind als wir. Dass ich die Nachrichten nicht verstehe, weil ich die Sprache meines Vaters nie gelernt habe. Dass es eine Sprache ist, die so viele Facetten in jedem Wort trägt, und jede Diktatur, die versucht, Sprache für sich zu vereinnahmen, sich selbst entlarvt. Ich merke, wie ich die Flasche in meiner Hand immer fester drücke, halb, um mich irgendwie festzuhalten, halb, um sie zerspringen zu lassen. Beides funktioniert nicht.
āzādi – Freiheit. Eine Frau von hinten gefilmt, unbedecktes, schütteres weißes Haar. Wer mag sie gewesen sein vor der Machtergreifung der Mullahs? Was für Träume wird sie gehabt haben? Was wird sie alles erlebt haben in über 44 Jahren Diktatur? Sie läuft auf eine Gehhilfe gestützt die Straße entlang und singt mit all ihrer Kraft: „Azadi, azadi, azadi.“ Freiheit, Freiheit, Freiheit. Sie stemmt weiter ihre Gehhilfe durch die Nacht und lässt den Wind in ihren Haaren wehen. Ein paar Autos fahren hupend an ihr vorbei.
omid – Hoffnung. In Zahedan gehen die Menschen unermüdlich seit nunmehr einem Jahr jeden Freitag auf die Straße und protestieren gegen das Regime. Sepideh Gholian wird wieder zur Verhandlung vorgeführt und von der berüchtigten regimetreuen Journalistin Ameneh Sadat Zabihpour befragt. Gholian antwortet nicht, sondern spuckt ihr im Gerichtssaal mitten ins Gesicht.[16] Gholian ist weiterhin in Haft. Cartoons von der brüskierten Zabihpour gehen viral. „Ich glaube an den Regenbogengott“, sage ich zu meinen Freundinnen in die Runde an der Bar, und sie lachen alle außer mir.
Quellen
Literatur:
Cory L. Armstrong: Media Disparity: A Gender Battleground. Lexington Books, 2013, ISBN 978-0-7391-8188-1, S. 21
Resende, E., & Budryte, D. (Eds.). (2013). Memory and Trauma in International Relations: Theories, Cases and Debates (1st ed.). Routledge, S. 57-73
Informatorischer Vermerk über die Aufhebung von EU-Sanktionen nach dem Gemeinsamen umfassenden Aktionsplan (JCPOA), letzte Aktualisierung. Brüssel (02.06.2020), via https://www.eeas.europa.eu/sites/default/files/jcpoa_note_de.pdf, abgerufen am 30.09.2023
Dschābir ibn Hayyān.
Wikipedia, via , abgerufen am 04.12.2023
Meldungen:
„Navid Afkari’s plea to the international community: Be my voice“.Iran News Wire. (02.09.2020), via https://irannewswire.org/navid-afkaris-plea-to-the-international-community-be-my-voice/, abgerufen am 30.09.2023
Dehkordi, Maryam: Navid Afkari: “A Voice that Shook the World”. Iranwire. (14.09.2021), via https://iranwire.com/en/features/70350/, abgerufen am 30.09.2023
Brase, Jörg: Beitrag für ZDF heute. ZDF. (22.10.2022), via https://www.instagram.com/p/CkB1GPbN3rE/?igshid=MTc4MmM1YmI2Ng%3D%3D, abgerufen am 30.09.2023
Iran: ‘Bloody Friday’ Crackdown This Year’s Deadliest. Iranwire. (22.12.2022), via https://www.hrw.org/news/2022/12/22/iran-bloody-friday-crackdown-years-deadliest, abgerufen am 30.09.2023
Iran protests: Jailed activist Sepideh Qolian describes brutality in letter. BBC. (11.01.2023), via https://www.bbc.com/news/world-middle-east-64225902, abgerufen am 05.12.2023
Iran protests: BBC identifies many more people killed in demonstrations after Mahsa Amini's death.
BBC. (06.12.2022), via www.bbc.com/news/world-middle-east-63836921, abgerufen am 04.12.2023
Sepideh Gholian. Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, via https://www.igfm.de/sepideh-gholian/, abgerufen am 30.09.2023
Khodanur Lajai, l’histoire d’un « Homo Sacer » baloutche au pays des mollahs sanguinaires. Kurdistan au feminin. (08.11.2022), via https://kurdistan-au-feminin.fr/2022/11/08/khodanur-lajai-lhistoire-dun-homo-sacer-baloutche-au-pays-des-mollahs-sanguinaires/, abgerufen am 30.09.2023
Olaf Scholz wirft iranischer Führung Kampf gegen das eigene Volk vor. Zeit Online. (22.02.2023), via https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-02/iran-todesurteil-jamshid-sharmahd-olaf-scholz-tochter?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F, abgerufen am 30.09.2023
Ghadarkhan, Samaneh: The 10th Birthday of Kian Pirfalak, Victim of the Islamic Republic’s Savagery. Iranwire. (12.06.2023), via https://iranwire.com/en/features/117434-the-10th-birthday-of-kian-pirfalak-victim-of-the-islamic-republics-savagery/, abgerufen am 30.09.2023
Seibert, Thomas: Todesurteil gegen Deutsch-Iraner Jamshid Sharmahd. Tagesspiegel. (21.07.2023), via https://www.tagesspiegel.de/internationales/todesurteil-gegen-deutsch-iraner-jamshid-sharmahd-mein-vater-wird-im-stich-gelassen-10187623.html, abgerufen am 30.09.2023
Recent News, Free Sepideh Gholian Resource Page. (10.09.2023), via https://www.freeiranspoliticalprisonersnow.org/prisoner-news/free-sepideh-gholian-resource-page, abgerufen am 30.09.2023
Musiknachweis:
Hajipour, Shervin: Baraye. (2022), via https://soundcloud.com/shervinine/baraye, abgerufen am 30.09.2023
Shapur: Marg bar kolle nezam. (2022), via https://soundcloud.com/mahdyar/mbkn, abgerufen am 30.09.2023
[1] Iran News Wire, 02.09.2020
[2] Iranwire (22.12.2022), BBC (06.12.2022)
[3] Der blutige Freitag von Zahedan, @danielasepehri
[4] Internationale Gesellschaft für Menschenrechte
[5] BBC, 11.01.2023
[6] ZDF heute, 22.10.2022
[7] Kurdistan au feminin, 08.11.2022
[8] wikipedia.org/wiki/DschābiribnHayyān
[9] Iranwire, 12.06.2023
[10] Hajipour, Shervin, 2022
[11] Shapur, 2022
[12] Tagesspiegel, 21.07.2023
[13] Armstrong, 2013
[14] Europäische Union, 02.06.2020
[15] Iran News Wire, 02.09.2020
[16] Free Sepideh Gholian Resource Page, 10.09.2023