Nils Langhans

Alabama

Am Ende einer dieser Nächte, die sich unerbittlich zogen, die sich länger und län-

ger dehnten und doch nicht rissen, saß Kästner mit glasigen Augen auf seinem

Hocker, zählte sein Geld ab, verzählte sich, fing wieder von vorne an und schob

die Geldbörse schließlich über den Tresen. Eine junge Kellnerin suchte Münzen

und Scheine zusammen. Sie trug eine Nickelbrille und ansonsten schwarze Klei-

dung.

„Sind 65, Kästner. Ich nehm’ mir die raus, okay? Oder willst du anschreiben?“

Kästner taumelte auf seinem Hocker, eine Hand am Tresen, nickte, griff nach dem

Stiel irgendeines Glases, griff ins Leere.

„Taxi?“

„Nein, nein.“

Kästner starrte in seine Geldbörse, auf den Rand der Payback-Karte, der aus dem

obersten Fach herausstand, legte seinen Daumen auf das seelenblaue Plastik und

dachte an gar nichts. Zwei Minuten verharrte er so, vielleicht auch länger.

„Nicht doch ein Taxi?“

„Nein, nein.“

Kästner klappte die Geldbörse zu, steckte sie in die Hintertasche seiner Jeans,

warf seinen Mantel über und ging. Kleine Schritte, links, rechts, links, rechts; im-

mer geradeaus schauen. Kästner wusste, was in solchen Nächten zu tun war.

In Wahrheit hieß Kästner nicht Kästner, doch sie nannten ihn Kästner, so lange er

sich erinnern konnte, weil er einmal, das musste sicher dreißig Jahre her sein, ge-

sagt hatte, dass er ein Buch schreiben will, wenn er alt ist. Kästner hat nie auch

nur eine Seite geschrieben, nicht einmal einen Absatz. Eine Schnapsidee, von der

nur sein Name geblieben ist – Kästner. Er wusste nicht mehr, wer ihn damals zu-

erst so genannt hatte. War das Klingbeil? Oder Böllmann? Oder der alte Fritz?

Oder wer ganz anderes? Kästner konnte sich nicht erinnern. Sein Name war ein-

fach da, ihm passiert, wie ja alles einfach passiert. Irgendwann war er halt Käst-

ner. Stellte sich als Kästner vor, wenn er jemanden kennenlernte, unterschrieb

Geburtstagskarten im Freundeskreis mit Kästner und manchmal, wenn er mor-

gens früh im Badezimmer kopfschüttelnd vor dem Spiegel stand, dann nannte er

sich in Gedanken selbst Kästner, ohne sich dabei noch zu erschrecken.

Draußen war es eisig, der Februarwind blies ihm in den Nacken und wäre jetzt

Sommer, dann wäre es wohl schon wieder hell. Kästner steckte seine Hände in

die Manteltaschen.

In einem Hauseingang stand ein junger Mann in dunklem Anzug und beigem

Trenchcoat, schaute gähnend herab auf ein Handydisplay und hielt eine Aktenta-

sche in der linken Hand. Kästner hustete und sah seinem Atem nach, der stoß-

weise wie aus einem alten Auspuff stotterte und in der Kälte kondensierte. Der

junge Mann sah nicht auf, Kästner ging weiter. An der Kreuzung sprang die Fuß-

gängerampel auf Grün.

An guten Tagen dauerte es keine zehn Minuten bis zu seiner Haustür. Nach sol-

chen Nächten aber dauerte es länger, viel länger. Nachdem er im letzten Winter

auf vereister Straße gestürzt war und sich das Schlüsselbein gebrochen hatte,

hatte Kästner beschlossen, künftig besser aufzupassen und lieber etwas langsa-

mer zu gehen in solchen Nächten, vor allem nach solchen Nächten. Linker Fuß,

rechter Fuß, immer geradeaus schauen – Kästner versuchte, sich zu konzentrie-

ren.

Irgendwann stand er vor seiner Haustür, es war noch immer finster und windig und

beißend kalt. Kästner zitterte jetzt, er zitterte so stark, dass er kaum den Schlüssel

ins Schlüsselloch stecken konnte, und als es ihm nach einigen Versuchen schließ-

lich gelang, die Tür zu öffnen, da war er so erschöpft, dass er sich im Innenhof zu-

nächst auf eine Bank setzte. Ein schwerer Geruch von gebratenem Fleisch

strömte aus einem der Fenster. Kästner schaute in den Himmel, der umzingelt war

von glatt verputzten fünfstöckigen Mauern auf allen Seiten, und es schien ihm, als

sei er auf den Grund eines tiefen Brunnens gefallen, aus dem kein Weg wieder zu-

rückführte. Das einzige, was Kästner noch bevorstand, war sein eigener Tod. Eine

Krähe flog über den Himmelsausschnitt, Kästner neigte seinen Kopf ihrer Flug-

bahn nach. Dann war es wieder ruhig. Es roch noch immer nach Gebratenem.

Kästner wurde hungrig. Er stand auf, ging einige Schritte vor zum Treppenhaus,

schaltete das Licht im Flur an und ging die Treppen hinauf. In der zweiten Etage

pausierte er für einen Moment. Auf der Fußmatte der Familie Dörresheim stand

„VIP only“. Kästner ging weiter, hielt sich mit der rechten Hand am Treppenlauf

fest, er schob sich die letzten Stufen nach oben und schloss auf. Licht brannte, er

musste wohl vergessen haben, es auszumachen. Kästner nahm sich eine Frika-

delle aus dem Kühlschrank und aß sie im Stehen. Sie war so kalt, dass ihm bei

den ersten Bissen die Schneidezähne schmerzten. Er müsste den Kühlschrank

bald mal richtig einstellen, raunte er sich selbst zu.

Auf dem Sideboard im Wohnzimmer standen drei Bilder: Ein Bild von Ulrike. Eins

von Maja. Und eins von Mama. Alle tot. Scheiß Krebs, scheiß Autounfälle, scheiß

Herz, scheiß Leben, dachte Kästner, und schaltete den Fernseher ein. Es lief Fuß-

ball, irgendeine Wiederholung. Kästner hatte die Bilder so aufgestellt, dass er sie

jedes Mal auf dem Weg ins Wohnzimmer anschaute, er allerdings nur die grauen

Bildrücken sah, sobald er auf der Couch saß. Das erschien ihm ein guter Kompro-

miss, um nicht zu viel und nicht zu wenig an das alles erinnert zu werden. Kein

Mensch kann ständig die Toten sehen, dachte Kästner. Selbst, wenn sie auf den

Bildern noch nicht tot sind, sondern ganz lebendig aussehen.

Kästner legte sich auf die Couch, er war fast 1,90 Meter groß, viel zu groß eigent-

lich für diese kleine Couch, legte die Füße auf die Lehne, die Schuhe noch ge-

schnürt, und schlief ein.

Gegen Mittag stand Johannsen vor der Tür. Die Bild-Zeitung klemmte unter sei-

nem rechten Arm, in der linken Hand hielt er zwei Flaschen Pilsener. Kästner trug

einen grauen Bademantel und ließ ihn grußlos herein. Johannsen zog seine

Schuhe aus, ging durch den Flur in die Küche, und Kästner hörte, wie er zunächst

eine Schublade durchwühlte und anschließend mit leisem Zischen die Bierfla-

schen öffnete.

„Hier.“

„Danke.“

Kästner setzte sich in den Sessel, den Ulrike damals wegen seiner Massagefunk-

tion ausgesucht hatte – 900 Mark hatte er gekostet, das wusste Kästner noch ge-

nau, – und trank einen Schluck Bier. Er hatte diese Massagefunktion noch nie

ausprobiert und war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt noch funktionierte.

Johannsen saß auf der Couch und blätterte durch die Bild-Zeitung. Er kam nicht

häufig, unregelmäßig noch dazu, aber wenn er kam, dann kam er unangekündigt.

Sie taten dann weiter nichts als dort zu sitzen, Johannsen auf der Couch und

Kästner in dem Sessel mit Massagefunktion, von dem aus er gelegentlich auf die

grauen Bildrücken auf dem Sideboard schaute. Zwei oder drei Stunden saßen sie

da, sprachen kaum ein Wort miteinander und wenn doch, dann redeten sie einan-

der mit dem Nachnamen an oder dem, was sie dafür hielten.

„Johannsen, morgen soll‘s schneien und übermorgen minus fünf Grad.“

„Gleich, Kästner“, brummte Johannsen, ohne von der Zeitung aufzuschauen und

ohne schließlich weiter darauf einzugehen.

Sie waren alte Männer, die die Verwundbarkeit eines echten Namens, eines Vor-

namens, nicht ertragen hätten. Männer, die einst gelernt hatten, dass Männer

nicht mit ihren Befindlichkeiten zu hausieren haben. Männer, deren Väter in den

Schützengräben zur Schule gegangen waren. Männer, die nur Mama bei ihrem

Vornamen nennen durfte, doch Mama war meist schon lange tot.

Johannsen blieb an diesen Nachmittag länger als gewöhnlich, blieb, auch als

Kästner den Fernseher einschaltete. Es liefen fünf Fußballspiele in der Konferenz.

Hin und wieder fiel ein Tor. In der Halbzeitpause drehte Johannsen den Ton leiser.

„Kästner, ich werd’ sterben. Hat der Arzt gesagt.“

Kästner schwieg und starrte in den Fernseher. Werbung für eine cholesterinarme

Margarine, dann für einen Kleinwagen, anschließend für eine Reise in den Oman.

Kästner überlegte, wo genau der Oman war.

„Kästner, kapierst du’s nicht? Ich kratz ab“, brüllte Johannsen jetzt. Kästner starrte

noch immer in den Fernseher. Johannsen nahm die Bierflasche vom Tisch, trank

einen großen Schluck, stieß auf und schmiss die Flasche gegen die Wand. Es

klirrte kurz. Johannsen erschrak ob des Klirrens, stand auf, ganz hastig stand er

auf, fingerte an seinem Hemdkragen herum – er trug immer karierte Flanellhem-

den –, seine Zunge fuhr wie ein Scheibenwischer nervös über seine Oberlippe, er

ging in den Flur, ohne Kästner anzusehen, und zog sich im Stehen seine Schuhe

an. Dann schloss er die Tür hinter sich, leise, und Kästner hörte von seinem Ses-

sel aus, wie Johannsen die Treppen hinabstieg. Die zweite Halbzeit fing an. Käst-

ner drehte den Ton wieder lauter.

Es war dunkel geworden und Kästner schaltete das Badezimmerlicht an. Die

Lampe surrte an der Decke wie ein Mückenschwarm. Kästner zog sein T-Shirt aus

und sah in den Spiegel, sah auf sein weißes Brusthaar, die Körbchen hingen küm-

merlich wie eine welke Pflanze nach unten, sah auf seinen Oberarm, sah auf das

Tattoo – „Alabama“. Damals hatte er einen starken Trizeps. Sein Bizeps war auch

gut trainiert, aber besonders stolz war er immer auf seinen Trizeps gewesen. Für

einen Sommer gefiel ihm das „Alabama“-Tattoo richtig gut. Er hatte es sich ste-

chen lassen in so einer Nacht wie gestern, so einer bis zur Grenze gedehnten

Nacht, irgendwo auf dem Kiez. Damals hatte er solche Nächte noch besser ver-

packt. Maja war gerade aufs Gymnasium gekommen, irgendwas gab es zu feiern,

und am nächsten Morgen stand „Alabama“ auf seinem Oberarm.

„Alabama, warum ausgerechnet Alabama?“, hatte Ulrike ihn gefragt, doch er

wusste es ja selbst nicht. „Alabama“, das war einfach so passiert.

Kästner ging einen Schritt näher an den Spiegel, strich über das Tattoo, sein

Fleisch war weich, das „b“ und das „l“ in Alabama waren verzogen. Wenn er ein-

mal sterben würde, dachte Kästner, und der Bestatter ihn dann waschen würde –

der würde sich auch fragen:

„Alabama, was in aller Welt soll das heißen?“

Kästner fasste sich ans Kinn. Alabama – wo war das eigentlich? Er kannte nur die-

sen Song, den sie manchmal nachts um drei in der Kneipe spielten. Sweet Home

Alabama. Der Wasserhahn tropfte. Kästner würde Montag einen Handwerker an-

rufen, alles könnten die nicht mit ihm machen.

Nach dem Duschen stellte er einen Topf mit Wasser und zwei Wiener Würstchen

auf den Gasherd, steckte zwei Scheiben Toastbrot in den Toaster und spülte ei-

nen Teller ab. Weil der Senf ausgegangen war, aß er Ketchup zu den Würstchen.

Montag würde er einkaufen gehen.

Er kannte Johannsen bald zwanzig Jahre – viele würden nun nicht mehr dazukom-

men, vielleicht kein einziges mehr. Hätte er da vorhin besser etwas sagen müs-

sen? Hatte irgendeiner was gesagt, als Ulrike gestorben ist? Oder bei Maja? Oder

bei Mama? Kästner aß im Stehen, den Teller ließ er ungespült auf der Anrichte zu-

rück.

Ob alles wohl anders gekommen wäre, wenn er damals nicht irgendwem erzählt

hätte, dass er mal ein Buch schreiben will, wenn sie ihn nicht seit dreißig Jahren

Kästner nennen würden, sondern bei seinem richtigen Namen? Kästner ver-

suchte, sich zu erinnern, wie er überhaupt auf diese Schnapsidee mit dem Buch

gekommen war, doch da war nichts, keine Erinnerung. Für einen Moment fühlte

Kästner Scham. Scham über seine Unfähigkeit, aus dem kräftigen blonden Jun-

gen, der er war, einen erfolgreichen Mann zu formen. Er sah Bilder von Maja auf

einer Schaukel, von Ulrikes poriger Nase, Bilder von einem Sonnenhut, den er in

irgendeinem Sommerurlaub getragen hatte, da musste Maja noch ganz klein ge-

wesen sein. Kästner trank einen Schluck Korn aus einer Kaffeetasse. Es dauerte

einen Moment, bis die Scham wich, bis das tiefe Gefühl erfahrener Ungerechtig-

keit jeden Gedanken an die eigene Verantwortung wieder überlagerte, bis er wie-

der imstande war, die Schuld dort zu suchen, wo sie zu suchen war: bei den ande-

ren und bei den Umständen. Bei den Politikern, den Ausländern, bei Gott und vor

allem bei der Kirche, bei Hubert, bei der Schwiegermutter, seinem Betrieb, dem

Gesundheitssystem, bei all denen, die ihn dahinrafften und zermürbten. Das

würde er alles nicht mehr lange mit sich machen lassen, dachte Kästner. Die wür-

den schon noch sehen, was sie davon hätten.

Kästner warf sich seinen Mantel über, schnürte seine Schuhe und steckte einen

Fünfzigeuroschein in seine Geldbörse. Die Payback-Karte klemmte noch immer im

obersten Fach – vielleicht könnte er den Einkauf am Montag von den Punkten be-

zahlen, er hatte ewig keine mehr eingelöst.