Natalie Golob

An dem Tag als man mir sagte

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An dem Tag, als man mir sagte, meine Kindergärtnerin habe sich umgebracht, malte ich eine große Blume mit Plakafarben auf einen Karton. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie das gemacht haben könnte und dachte daran, wie sie versucht, sich selbst zu erwürgen oder mit etwas zu erschlagen. Jahre später bat mich meine Mutter auf einen Spaziergang in den Wald. Sie sagte mir, mein Friseur habe sich das Leben genommen. Ich hatte beim Friseur schon viele Tränen gelassen. Es hing viel davon ab, wie ich aussah. Und oft genug hasste ich, was ich im Spiegel sah, nachdem dieses qualvolle Föhnen vorbei war. Nur bei diesem einen Friseur, der auch ein Freund war, war es anders. Er hatte sich vor einen Zug geworfen.
Vom Tod meines Bruders erfuhr ich am Telefon. Es riss mich in tausend Stücke. Am Abend, es war Silvester, spielte ich Theater. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Alles war vorbereitet und angekündigt und ich sagte mir: „Diesen Abend widme ich meinem toten Bruder.“
Sie hatten ihn in der Nähe des Bahnhofs gefunden, in ein Eck gekauert, gestorben an Alkohol, Tabletten und Heroin. Sein Hund wartete auf ihn in seiner Wohnung.
Ich könnte noch weitermachen. Aber es ist zu traurig.
Von hier aus gesehen, war ich mit dem Tod auf Du und Du. Ich hasse ihn. Ich hasse Beerdigungen. Ich hasse es, hinter Särgen oder Urnen her zu gehen. Ich dachte, es muss aufhören, ein nächstes Mal überlebe ich nicht. Nein, so schlimm ist es nicht mehr. Aber meine Mutter ist jetzt ganz dünn geworden. Eine süße, alte Frau auf sehr dünnen Beinen.
Ich versuche tapfer zu sein.
Jetzt habe ich ein schönes Leben. Das Sterben hat Pause gemacht. Allerdings komme ich jetzt selbst und meine Freunde, mein Mann in dieses Alter, wo das Eis schon etwas dünner wird.
Werde ich vor allen sterben, werde ich die zweite sein oder die siebte? Das hieße, sechs Beerdigungen. Ob ich das schaffe?
Hauptsache, den Kindern geht es gut. Ich letzter Zeit denke ich oft, dass ich für meine Kinder sterben würde. Krass. Aber wie soll man das drehen? Das ist nicht so leicht. Das muss Gott schon so wollen und Dir eine Gelegenheit geben.

Ich habe mir auch schon gedacht, ich rede mal mit dem Tod. Ich habe ihn mir ganz fest vorgestellt. Es wurde dann so ein Gevatter mit schwarzem Umhang. Er hat mir gesagt: „Ich mach nur meine Arbeit.“ So kann man das natürlich sehen. Als Tod selbst ist das leicht.
Ich hatte schon Zeiten, da dachte ich jeden Abend vorm Einschlafen: „Wahnsinn, wir werden alle sterben“, und versuchte das zu begreifen. Wie ungeheuerlich. Wie unvorstellbar. Was für ein Skandal. Das finde ich wirklich. Auch wenn ich nicht weiß, wie man das anders lösen könnte auf diesem Planeten.
Vielleicht wäre es leichter, wenn man einfach nicht lieben würde. Dann wäre man fein raus und könnte einfach loslassen, wie man so schön sagt. Um dieses Loslassen zu erreichen habe ich kleine Dinge meiner Toten vergraben. Aber jetzt will ich die Dinge zurück. Gestern habe ich daran gedacht, an dieser einen Stelle im Wald, die ich noch weiß, zu graben und zu schauen, was noch da ist. Vielleicht mache ich das.
Als ich meinen Vater in seinem Sarg liegen sah, konnte ich erkennen, dass das Leben raus war. Eine Abwesenheit. Das mit der Hülle. Das hat schon geholfen. Nur bleibt die Frage, wo ist das Leben hingekommen? Geistert das im All rum? Hat es sich in seine Bestandteile zerlegt?
Weil ich Freundschaft schließen wollte mit dem Tod, belegte ich einen Kurs, der so hieß. Da erklärte die Frau, dass es ist, wie wenn man einen Geist in der Flasche hat. Tot, Flasche auf, Geist weg. Nein, nicht weg im Sinne von verschwunden, sondern im Universum vermischt. Sie sagte auch, der Tod ist wie Fallen, nur dass man nicht aufschlägt. Ist das eine gute Nachricht? Fliegen wir dann? Oder fallen wir ewig in der Schwärze herum? Ich werde es herausfinden. Haha, nur kann ich dann mit niemanden mehr darüber sprechen, wie es aussieht.
Leichter wäre es auch, wenn die Welt nicht so schön wäre. Der Wald und der Himmel und die Tiere. Vögel zum Beispiel. Vielleicht erschaffen die Menschen so viel Hässliches und Schlimmes, damit ihnen das Sterben nicht so schwerfällt.
Dabei sagt man ja immer, dass unglückliche Menschen schwerer sterben. Das passt also auch nicht zusammen.
„Der Tod ist zitronengelb und riecht nach Vanille“, sagt jemand in einem französischen Film, an dessen Ende sich die weibliche Hauptfigur in einen wild tosenden Fluss stürzt. Das finde ich eine sehr tröstliche Vorstellung. Vielleicht hat das sogar die weibliche Hauptfigur bewogen, ihrem Leben ein Ende zu machen und sich in diesem paradiesischen Zitronenzustand wieder zu finden.

Es gibt ja viele Wege, sich dem Tod zu nähern. Ich kann schnell Motoradfahren oder auch Sterbende begleiten. Hände halten, die bald ganz still auf der Bettdecke liegen werden. Die keine Gabel mehr zum Mund führen, kein Kind mehr streicheln und sich auch nicht mehr die Haare zurecht machen werden. All diese Verrichtungen des Lebens.
Ich lese gerne Bücher, in denen ewig solche Verrichtungen beschrieben werden. Wie Kühlschränke aufgemacht werden, Teller auf Tische gestellt oder Tassen in die Spülmaschine geräumt werden. Das beruhigt mich.
Ich versuche die Augen weit offen zu halten, wenn ich Leid sehe. Ich möchte das üben. Ich will nicht vor Mitgefühl zusammenbrechen, ich will nicht vor lauter Angst, dass mir das auch passieren könnte, die Luft anhalten. Ich will endlich Buddhistin sein: Leben ist Leid. Entspann dich!
Einfach im Hier und Jetzt sein.
Alle Sätze mit "einfach" sind eine Lüge.
Ich finde alle Lebensweisheiten widersprechen sich. Folge ich der einen, missachte ich die andere. Am Ende bin ich verwirrt und habe gar kein Konzept mehr.
Beängstigend.

Mein Bruder hieß Anatoli Casa Grande. Als er klein war. Meine Mutter nannte ihn so. Er hatte es nicht leicht. Von Anfang an war irgendwie der Wurm drin. Erst kam er mit Husten auf die Welt, dann wollte ihn in dieser Welt sein Vater gar nicht haben. Sein Vater ist auch mein Vater. Mein Vater war alt, viel älter als meine Mutter. Er war im Krieg und hatte schon eine Familie vor uns. Er hätte keine zweite gebraucht. Ich war das Zugeständnis an meine Mutter, aber der Anatol war eigentlich einer zu viel.
Ich glaube, das hat er gemerkt und ist dann einfach früher gestorben. Dabei war er für mich – eben mein einziger Bruder. Mein Bruderherz.
Er war immer in Schwierigkeiten, nichts lief glatt. Er hatte eine saublöde Lehrerin schon in der ersten Klasse. Und irgendwann Freunde, die ihn mit Drogen bekannt machten. Eines Abends hat er das Telefon gestreichelt und wie mit unserem Hund mit ihm gesprochen. Das war „Reisegold“. Eigentlich Tabletten gegen Reisekrankheit, aber ganz viele davon machen aus dem Telefon einen Hund.
Immer sage ich mir: Dein Bruder war doch gar nicht nur der Drogensüchtige! Er hatte doch ganz viele andere Seiten, aber in meiner Erinnerung kommt das zuerst. Ein graues Grauen, eine dauernde Angst und am Ende, die Erleichterung, als er tot war. Jetzt muss ich nicht mehr um ihn fürchten.
Diese Geschichte hat so einen Bart. Immer schlag ich mich damit herum. Mal macht sie mich zu etwas Besonderem, mal ist es einfach schlimm und wird auch nicht wieder gut.
Aber genug.
Jedenfalls habe ich mit meinem Bruder Kitzelkampf gespielt, bis einer geweint oder in die Hose gepieselt hat. Wir haben zusammen den Streits unserer Eltern im Wohnzimmer gelauscht. Er hat meine Sachen aus meinem Zimmer geklaut und ich habe ihn gehauen. Irgendwie ist es immer schöner, wenn die Kinder klein sind. Mit ihrem Wesen ringen sie allem einen gewissen Zauber ab. Es war noch lustig, als wir Kinder waren. Dann nicht mehr. Todernst. Weil seine Freunde gestorben sind und er mehrmals fast und dann ganz. Da war ich nicht mehr zu Hause, da, wo wir aufgewachsen sind. Diese Stadt wird für immer einen Schatten behalten.
Obwohl sie wunderbar liegt, im Voralpenland. Hinten Berge, vorne Seen.
Da, wo ich herkomm. Schade wegen dem Schatten.


Unser Hund war das Beste daheim. Er hat zwar immer unsere Schokoladenvorräte geplündert, aber er war ein lustiger Dackel. Einer, der allein Gassi gegangen und uns bis in die Schule verfolgt hat. Einer, der einmal Stunden neben einem Niveawasserball auf uns gewartet hat, als wir ihn und den Ball am Badesee vergessen hatten. Er hieß Peppone, genannt Beppi. Wenn wir in den Wald zum Schwammerlsuchen gefahren sind, in dem silbernen Golf-Cabrio meiner Mutter, durfte er die letzten Meter hinter dem Auto herrennen. Seine Ohren wehten im Wind.
Er ist auch ein bisschen tragisch gestorben und mein Bruder musste dabei sein.
Der Tierarzt hat ihn nicht totgekriegt. Sein Herz hat einfach nicht zu schlagen aufgehört, obwohl er eigentlich sterbenskrank war. Erst nach vielen Spritzen hat er aufgegeben. Eine echte Qual – für ihn und meinen Bruder auch. Ach.

 
Ich halte meinen nackten Bauch der Luft hin, weil es mich jedes Mal im Frühjahr elendig juckt. Ich bin ein Tier, dass sich an Bäumen reiben will und seinen Winterspeck durch Sprünge ins kalte Wasser abschütteln.

Kaltes Wasser ist überhaupt eine gute Sache. Damals in der Stadt vor den Bergen, hinter den Seen sind wir spät im Herbst und früh im Frühling schwimmen gegangen. Kaltes Wasser ist mein Freund. Es macht mich kompakt und froh.
Es gibt wohl immer etwas, was einen rettet. Wasser, Bäume, Kieselberge.
Mit dem Radl bin ich oft zu den Kieselbergen gefahren, habe mich draufgesetzt und Kiesel studiert. Stundenlang. Hauptsache weg. 

Mein Vater war ein zorniger, alter Mann mit beindruckend schuppigen Waden.
Als er meine Mutter kennen lernte, fuhr er einen Mercedes Cabrio und war auch sonst sehr stattlich. Das täuschte wohl darüber hinweg, dass er eigentlich gar keine Familie wollte. Er hatte ja schon eine. Drei Töchter im Alter meiner Mutter. Meine Mutter hat sich durchgesetzt und uns bekommen, den Anatol und mich.
Wir waren Kinder mit einem sehr alten Vater. Er war im Krieg als Soldat in Russland, wir spielten Tennis. Wir taten überhaupt einiges, was reiche Leute in den 80ern taten, nur dass uns irgendwann das Geld ausging. Kein Cabrio mehr, nur eine Schublade voller Rechnungen in der Küche. Mein Vater hatte sein Architekturbüro in unserem Keller, oder besser Souterrain. Ich liebte es, dort abwechselnd Büro zu spielen, also Blätter lochen, abheften, stempeln und mich durch und durch ordentlich fühlen oder Malerin. Dann malte ich mit dicken Pinseln bunte Streifen auf Papier und war berauscht.

Weder das eine, die Ordnung, noch das andere, der Rausch, hat sich bei mir durchgesetzt. Ich musste nüchtern bleiben, um meine Eltern unter Alkoholeinfluss und meinen Bruder unter Drogeneinfluss zu überwachen. Damit hier nichts kaputt geht.
Es ist dann doch alles kaputt gegangen.
Die Ordnung erscheint mir noch immer als eine Art paradiesischer Zustand- alles an seinem Platz. Nichts bewegt sich. Alles ruhig. Ich muss nichts suchen, nichts auffangen, nichts retten. Aber das gelingt mir leider nicht. Immer suche ich gerade das, was ich gerade in Ordnung gebracht habe. Das, wofür ich doch gerade einen hervorragenden Platz gefunden habe. Aber wo war der noch?
Alles, was ich aufräume, stirbt. Ist weg. Aus den Augen, aus dem Sinn. Ordner, Schubladen und Schränke sind Gräber für Dinge.
Ich bräuchte riesige Oberflächen, auf denen ich alles anordnen könnte, jederzeit sichtbar.
Mein Vater war immer zu Hause. Mittags mussten wir leise sein, weil er sein Schläfchen hielt. Wenn wir ihn aus Versehen aufweckten, versank der Tag in seinem Ärger.
Also verhielten wir uns ruhig – und waren so wenig wie möglich da.
Zu Hause war eingetaucht in mattes Grau, durchwabert von den Sorgenschlieren meiner Mutter, unsicheres Terrain. Mein Vater. Dieser alte Mann, der meine Mutter eine Null nannte. Das werde ich ihm nie verzeihen.
Denn meine Mutter konnte alle, wirklich alle Gläser aufschrauben.
Sie hat Versicherungen verkauft, Kneipen geputzt und in der Tennishalle am Tresen gearbeitet, um diese Familie zu finanzieren. Dabei wollte sie Geigerin werden und im Orchester spielen. Ihre Eltern machten ihr einen Strich durch die Rechnung und sie wurde MTA. Eine Frau mit einer unbenutzten Geige im Kleiderschrank.
Sie hat sie irgendwann verschenkt. An den Geiger, der bei der Beerdigung meines Bruders herzzerreißende Lieder gespielt hat. Die Geige wurde später überfahren. Kein Witz.

Auf der Beerdigung meines Bruders trug ich selbstbewusst und mit Absicht einen roten Mantel. Daraufhin vermuteten die Leute, dass ich einer Sekte angehöre. Das war dann aber erst später. Wenn man so will.

Meine Mutter war ein kränkelndes zartes Kind. Wer hätte gedacht, dass sie so robust ist.
Sie ist jetzt noch übrig. Ihre Eltern sind schon tot, auch ihre jüngeren Geschwister, aber auch ihr Mann und ihr Sohn und natürlich auch ihr Friseur, der auch meiner war.
Sie hat es überstanden mit ihren dünnen Beinen. Dafür hat sie kräftige Füße, die ein bisschen überdimensioniert und nach Tier aussehen. Aber sehr verlässlich.
Sie lässt sich jetzt immer „schöne Füße“ machen. Früher hatte sie auch rote Fingernägel.
Ich habe zwei Dinge an ihr immer sehr interessiert beobachtet: einmal, wie ihr beim Zähneputzen der Schaum über die Hand gelaufen ist, sie aber unbeirrt weitergeschrubbt hat und diese länglichen Falten am Dekolltee nach dem Aufstehen, die ich inzwischen selbst habe. Es geht doch alles mit einer gewissen Logik vor sich. Man beobachtet seine Eltern und wird dann selber so, wenn man im richtigen Alter ist. Was wohl meine Kinder an mir wahrnehmen? Mein großer Sohn nennt meine grauen Haare „Silbergeweih“, mein kleiner Sohn liebt die glatte Haut an der Innenseite meiner Unterarme und findet mich dick.
Ich habe einmal in einem Interview gelesen, dass der Interviewte seine Mutter dafür geschätzt hat, dass sie so lustig war. Daraufhin habe ich mir vorgenommen, lustiger zu sein. Ich finde, es klappt. Ich möchte unbedingt, dass meine Kinder über mich sagen, dass ich lustig war, wenn ich logischerweise dann mal tot bin.

Zwischendurch fühlt es sich an wie Erwachsen-Spielen. So wie sich Wein trinken am Abend anfühlt, nach „So tun als ob“. Denkt man das weiter, fragt man sich doch, was eigentlich echt ist.

Dinge sind schön echt. Ein paar Dinge sind auch wirklich wichtig.
Was ich zum Beispiel vermisse, ist meine grüne Latzhose, mit der ich auf die Eiche 2 geklettert bin, der Treffpunkt der Nachbarskinder. Lieber wäre ich ein Junge gewesen. Ohne Angst, aber ich war ein Schisser, der es nur in die erstbeste Astgabel geschafft hat. Jedenfalls diese Hose war von größter Bedeutung. Ein Art Zauberhose. Für Prinzen und Ritter. Leider bin ich dann rausgewachsen. Ich habe sie noch ein bisschen aufgehoben, aber irgendwann habe ich sie aus den Augen verloren. Vielleicht existiert sie noch. Es ist doch erstaunlich, wie lange solche Sachen halten.
Ich habe auch mein Taufkleid noch. Es hat Mottenlöcher ist aber genau das, in dem ich mit 8 Monaten gesteckt  habe. Auf dem Arm meiner Mutter umringt von meiner Familie schaue ich munter in die Kamera.

Ich streife durch meine Erinnerungen, niemand folgt mir, ich bin ganz allein.
Ich kann alles sehen, bleibe aber unbemerkt. Alle sind noch da.
Wie schön diese immergleichen Dinge sind: der Weg in die Auffahrt, die Gemüsesuppe meiner Oma, das weiße Regal, die Tapete.
Wie schmerzlich die Abschiede.
Wieso immer dieser Niedergang? Kann es nicht schön anfangen und schön aufhören?

Ich bestehe auf ein schönes Ende so wie ich darauf bestehe, dass ich eine lustige Mutter bin.
Deshalb habe ich auch noch die blauen Socken, die meine Oma mir gestrickt hat.
Wie jedes Jahr kamen sie mit einer Packung Toffifee per Post.
Sie sind aus Baumwollgarn mit Lochmuster am Knöchel und völlig ausgeleiert. Aber ich habe sie noch. Ich will sie nicht hergeben, so wie ich meine Oma nicht hergeben will. Dabei ist sie schon lange tot.

Diese Nähe, in der alles verschwimmt. Irgendwann fangen wir dann an, nach dem zu suchen, was immer schon da war. Was wir nicht gesehen haben. Was jetzt weg ist. Tot ist. Mein Zauber reicht nicht weit genug. Die Lücken sind so schmerzhaft groß. Nichts lässt sich konservieren, nichts aufheben. Ein Puzzle aus alten Gegenständen, das mir die Welt ist. Ein Rest, der mich beruhigt.

Ich habe noch ein Kleid von meiner Mutter. Ein langes grobgewebtes Sommerkleid mit tiefem Rückenausschnitt in allen Rot- und Rosatönen. So ein Kleid ist doch immer ein Versprechen für ein Lebensgefühl.
Ich kaufe mir ein solches Kleidungsstück als Vehikel zu einem anderen Leben. Stelle mir vor, wie ich mich damit bewege, was man von mir denken könnte. Diese neue schwarze Anzughose - mein 20er-Jahre-Garçon-Versprechen, lässig und unabhängig.
Der lange rosa Rock mit den Pfauen drauf, zu groben Stiefeln und großen Ohrringen macht mich zur mädchenhaften Magierin, naturverbunden und wild. Das Jeanskleid aus England mit dem Stehkragen, eine Künstlerin, cool und inspiriert.

Allermeistens allerdings trage ich Jeans und Pullover. Kein Versprechen.
Ich wünschte nur, ich käme mal los von Grün. Immer grün, alles grün. Grüne Strickjacken säumen mein Leben. Hellgrün mit Zopfmuster und Holzknöpfen, dunkelgrün mit Kragen, waldgrün und lang mit rosa Sicherheitsnadel. Scheinbar kann ich nicht leben ohne mindestens eine grüne Strickjacke. Was ist ihr Versprechen? Heimeliges Dasein, gemütlich und sicher. Tröstlich. Wenn alle Stricke reißen, habe ich immer noch eine grüne Strickjacke. Manchen trauere ich sogar noch ein bisschen hinterher. Dabei wäre mein Schrank mit den grünen Strickkacken meines Lebens voll bis oben hin.

Ich bin ja ein Fan von Grabbeigaben. Ich sammle Dinge, von denen ich mir wünsche, sie würden meine Grabbeigabe. Zum Beispiel eine kleine Holzkiste vom Flohmarkt in zartem Gelb, bemalt mit Blumen. Da drin befinden sich aktuell: Zwei kleine Holztiere und eine Schnitzerei von meinem kleinen Sohn, die aussieht wie ein Feuer. Alles gut geeignet, weil biologisch abbaubar.
Ich würde gerne bei meiner Beerdigung dabei sein. Ich würde in einem roten Mantel das Geschehen verfolgen und sicherlich kommt irgendetwas zu kurz. Möglicherweise bin ich enttäuscht von dem Ausmaß der Trauer. Vielleicht wird bei Kaffee und Kuchen schon über etwas anderes geredet als mich. Die Musik könnte doch nicht so gut passen. Und am Ende hätte ich lieber einen Grabstein und keinen Baum im Friedwald.
Wenn alles gut geht, bin ich da allerdings schon im Himmel. In Glücksseligkeit zerstäubt. Alles ist mir egal und buddhistischer Gleichmut ist kein Ziel mehr. Ich bin angekommen. Im Nichts. Ich hoffe allerdings so sehr, dass es nicht zu leer ist, das Nichts.
Ich drehe mich im Kreis, dabei wollte ich nur sagen, dass ich gegen den Tod bin.