Muri Darida
Der Landkartenarm
Zwanzig Jahre später hört das Kind, dass es in die Schale gesetzt und mit dem Sicherheitsgurt an die Rückbank geschnallt wurde, damit es sich bei einer Bremsung nicht den Kopf an der Windschutzscheibe zerbräche. Aber der Fahrer, der Vater, er musste nicht bremsen, nicht so scharf. Die Reifen des Kleinbusses drehten sich so schnell und gleichmäßig über den Asphalt, dass die einzelnen Umdrehungen selbst bei Tageslicht nicht erkennbar gewesen wären, aber es war Nacht. Das Kind erfährt erst zwanzig Jahre später, dass seine Mutter sich in dieser Nacht oder der darauf einen Gegenstand – es weiß nicht, welchen – in ihre Unterarme trieb, senkrecht, mehrmals hintereinander, wahrscheinlich, so sieht der Arm heute aus. Dass sie die Haustür offengelassen hatte, vermutlich damit die Hunde nicht das ganze Haus vollpissten, in dem sie tot und in Ruhe liegen wollte, bis der Vater zurückkam. Sie standen auf den Hinterbeinen am Hoftor und bellten, der größere tiefer, der kleinere lauter, sie streckten ihre Rücken und Bäuche durch und stemmten die vorderen Pfoten gegen den Zaun. Der Arzt hatte Angst, hieß es später und fast wäre die Mutter gestorben, weil der Arzt Angst vor Daphne und Petula hatte, so sagten sie.
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Zwanzig Kilometer lagen zwischen den vierzig Männern und einer Stadt voller Lichter und Ohren. „Das ist Budapest“, flüsterte der Großvater. Der Nebel lag über seinem Gesicht wie eine Sturmhaube.
Wir schreiben: Ungarnaufstand. Die Männer würden hinterher in die Geschichtsbücher schreiben: 56-os forradalom. Die 56er-Revolution. 1956. Wir schreiben: Neunzehnhundertsechsundfünfzig. Die Männer in dieser Nacht schrieben es ezerkilencszázötvenhat. Wir sprechen das „eser-kilenz-saas-ötwen-hot“. Hot war es nicht, zumindest haben sie das nie erwähnt, diese Männer, die sich gegenseitig die Zigaretten angezündet haben, sich gemeinsam duckten, wenn ein Fahrzeug vorbeifuhr, sich einander die ungewaschenen Handflächen auf die Münder pressten, wenn einer husten musste.
„Hülye vagy, az Bécs.“ Nein, du Trottel. Das ist Wien. Sie diskutierten im Wald, gingen dafür in die Hocke, Kniegelenke knackten wie Unterholz. Wie lange sie unterwegs waren, hatten die meisten von ihnen bereits vergessen. Der Großvater, der sich damals noch nicht fortgepflanzt hatte und keinen Meter siebzig hoch war und somit weder groß noch Vater, hatte nichts bei sich als sein Fahrrad, eine Landkarte und irgendeinen Scheiß, den er besaß. Heiß muss er ausgesehen haben mit seinem kantigen Kiefer, den eingefallenen Wangen, den schwarzen Bartstoppeln, den fingerdicken Augenbrauen und dem dichten, glänzenden Haar, das ihm wenige Jahre später komplett ausfallen sollte. Irgendeinem aus dieser Gruppe muss das doch aufgefallen sein, sie hatten doch Augen im Kopf. Aber der Hälfte fiel schon nicht auf, dass sie vor Budapest standen und nicht vor Wien.
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Der Arm der Mutter gleicht heute einer mordlustigen Landkarte mit seinem Relief aus Naht und Narben. Einmal vor dem Studium und einmal zwei Jahre nach der Geburt des zweiten Kindes hat sie sich die Route nach einem Zuhause, das es niemals gab, ins Fleisch gemeißelt und war dabei recht ehrgeizig.
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Wie Adern zogen sich Flüsse, Autobahnen und Bahnlinien über die Landkarte. Der Großvater war bockstur und marschierte im Dunklen weiter durch die Wälder bis nach Wien. Dort holte sein Cousin ihn ab, der schon vorher in den Westen geflohen war. Die Deppen, so sagte er, die Deppen stapften nach Budapest und alle zwanzig wurden am nächsten Tag von den Russen aufgehängt, einer neben dem anderen, wie Unterhosen an einer Wäscheleine. Wenn er die Geschichte erzählte, lachte der Großvater jedes Mal mechanisch. Sein Lachen glich einer Kuckucksuhr, die zu festgelegten Zeitpunkten kehlig losschreit.
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In Familien ist das so: Manche Geschichten bilden das Fundament. Und andere sind die Abrissbirne.
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In Deutschland hängte er sich an eine Frau, die aus Jugoslawien geflüchtet war. Sie trafen sich – wirklich wahr – in einer Unterhosenfabrik. Keine Reizwäsche, sondern riesige Schlüpfer, wie es sie heute nur noch bei NKD gibt und damals überall. Von sechs Uhr morgens bis zum Nachmittag nähte die Frau Gummibänder in die Schlüpfer, im Akkord, gemeinsam mit ihrer Mutter, die sie mit vierzehn von der Schule genommen hatte. „Schaffen“, hat sie gesagt. Mit sechzehn hatte sie es geschafft, schwanger zu werden von einem ungarischen Drecksflüchtling, wie ihre Mutter, also die Großmutter der Landkartenarmmutter, es nannte. Wer rumhuren kann, kann auch heiraten. Die Alternative war, zum Onkel geschickt zu werden und der prügelt so lange drauf, bis du auf dem Teppich liegst und dein Blut zwischen den Lippen und Beinen in sein Gewebe sickert. Dann lieber heiraten, dachte sie sich. Blut hatte sie sich oft genug vom Mund und den Schenkeln gewischt in dem KZ in Jugoslawien, in dem sie aufgewachsen war, vom zweiten bis zum zehnten Lebensjahr, um genau zu sein. Zwölf Wochen, nachdem sie sehnsüchtig auf das Blut in der Unterhose gewartet hatte, stand sie im weißen Kleid vorm Altar und heiratete das sogenannte Arschloch, das wir in dieser Geschichte liebevoll Großvater nennen.
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„Spinnst du, das stimmt doch überhaupt nicht“, sagte seine Tochter. Also in anderen Worten: die Landkartenarmmutter. „Ich dachte, die Oma hat in einer Unterhosenfabrik gearbeitet.“ – „Ja, die Oma, aber doch nicht meine Mutter.“ – „Wer jetzt?“ – „Meine Mutter und Baba haben sich in einer Nadelfabrik kennengelernt. Der Baba war Nadler.“ Das stünde sogar im Familienbuch. Das Kind zuckte mit den Schultern. Die assoziative Spanne von Nadeln zum Blut war gleich bemessen wie die von Unterhosen zum Blut. Außerdem interessierte sich das Blag nicht für die Wahrheit, sondern einzig und allein für Bilder, stechende, sehnige, blutige, überlaufende, phantastische, geniale, zentimeterfette Bilder. Es kümmerte sich nicht um die Äste des Stammbaums, sondern um die Gesichter und Hände und Zungen und Arme der Blutsverwandten, wozu heißen die auch sonst so, wie sie literweise und zähflüssig aus den Holzrahmen ihrer Portraits tropften und in die Struktur des Teppichs aus Erinnerungen und Vorstellungen sickerten, die das rotzige Kind gerade erst webte und, seien wir ehrlich, spann.
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Mit den neu erzählten Nadeln nähte es die Hautlappen der Geschichte übereinander, hier die olivbraune Haut des Großvaters, die hellrosa Falten der Großmutter, die im Auto zusammengequetscht und auseinandergerissen wurden, bevor sie vierzig Jahre alt wurde. Am Steuer saß der Großvater, wer sonst. Seine Tochter hat sich den Haut- und Knochensalat im Sarg genau angesehen und anschließend zum ersten Mal mit Rasierklingen, nicht Nadeln, das eigene Blut aus den Pulsadern gejagt. Es wäre hübscher, wenn dieser Teil der Geschichte erfunden wäre, aber was soll man machen, wir reden hier von Menschen, die sich nicht einmal im Sarg zu Hause fühlen konnten, aber vielleicht im Auto.
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Whatever. Das Kind saß mit all seinen Nadeln auf dem Teppich und stach eine nach der nächsten in die zerfetzte Geschichte. Die Geschichte in seinen Händen glich keiner Voodoo-Puppe, sondern der zermatschten Großmutter allein.
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Die Urgroßmutter, also die Mutter der zermatschten Großmutter und somit die Großmutter von der Landkartenarmmutter, saß tatsächlich Zeit ihres Lebens in der Unterhosenfabrik und nähte Gummis hinein. Abends kam sie nach Hause, schrubbte sich die Waden und Füße mit Wasser und Seife, fegte die Straße und redete von den Russen, die sie fast im Ofen gefunden hätten. Dort hätte sie sich versteckt. Nachts legte sie ihren Kopf auf ein frisch bezogenes Nadelkissen und blutete ihre eigene Biografie aus.
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Das Kind in dir muss Heimat finden. Im Körper zu Hause sein – mit Zapchen Somatics zu Leichtigkeit und Wohlbefinden. Wie uns Trauma hindert, uns im Körper zu Hause zu fühlen. Im falschen Körper geboren.
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„Kann ich mir ein Zuhause auf die Haut schmieren?“, fragte der Junge, den wir bisher ein Kind nannten. „Gábor, das glaube ich nicht“, sagte die engste Vertraute des jungen Manns, in dessen Ausweisdokumenten zwar Maria stand, der aber mittlerweile nur noch auf Gábor hören wollte. Zwischen den beiden lagen dreißig Jahre im Kalender und eine Testosteronflasche in der Mitte des Tisches. Weiß und dunkelblau. Die Vertraute richtete sie auf und beäugte den Plastik-Flakon mit liebevollem Argwohn. Seit drei Jahren schluckte sie täglich Testosteron-Blocker, ihre Hormonflaschen glichen sich in der Form, aber das Estradiol verkauft sich in Türkis. Im Jargon nennt man Frauen wie sie „Mother“. Frauen, die solche wie sie aufnehmen, weil die Familien sie verstoßen. Gábors Familie ließ zumindest die Idee von ihm, die sie hatte, noch ins Haus und schwieg so lange, bis die frischgeborene tiefe Stimme unsichtbar wurde. Deshalb nannte er seine Vertraute „Tante“ und nicht „Mutter“. Das Gel trocknete auf der Haut und hinterließ krustige Spuren. „Das sieht aus wie weißes Blut“, sagte Gábor. „Lass dir halt Injektionen verschreiben“, sagte die Tante.
Also setzte sich Gábor alle drei Monate eine Nadel und schob sich eine Dosis Heimat in die Hüfte. Vater- und Mutterland schwollen unter der Haut auf den Oberarmen und zwischen den Beinen zu einem ganzen Kontinent aus Liedern, Sprachen, Tänzen, Gerichten und Bräuchen an, Gábor trug den neuen Körper über den Knochen wie eine Tracht. „Ich liebe dich“, sagte die Vertraute und schob das benutzte Besteck auf Gábors Seite des Tisches. „Ich liebe dich auch, Tante Suzanne.“ Sie teilten keine Vergangenheit, aber sie waren sich Zukunft und Gegenwart. Blut ist dicker als Wasser, aber dünner als Beton, das die Blutkreisläufe innerhalb von Stammbäumen an den immer gleichen Stellen verstopft. Mit einer Harke riss Gábor die vertrockneten Wurzeln aus dem Fußboden und setzte sie sich wie eine Krone auf den Kopf. „Du siehst aus wie ein Hirsch“, sagte Suzanne. „Meine Familie kommt aus Szarvas“, sagte Gábor. „Was heißt das?“, fragte Suzanne. „Googel doch“, sagte Gábor und Suzanne warf ihm das Küchentuch über den Kopf, mit dem sie gerade die Teetassen trocknete. Es verfing sich im Geweih.
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Immer noch Blut in der Unterhose. Gábor wartete flehend auf den Tag, an dem der Körper verschweigen würde, einen Uterus zu besitzen. Erhöhte die Testo-Dosis, immer noch Blut.
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Seine Großmutter hatte gewusst, dass sie den jämmerlichen Fötus vermutlich niemals treffen würde mit ihren Nadeln, also strickte sie ihm am Ende eben ein Leibchen in hellgelb, weil sich das Geschlechtsteil damals im Ultraschall noch nicht eindeutig erkennen ließ. Als es ein Mädchen war, verließ der Großvater wortlos das Krankenzimmer. Nur weil er keine Alimente zahlen wollte, kam er in den Verschlag zurück, den sie übergangsweise „zu Hause“ nannten.
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Im Kleinbus des Vaters, der Gábor und den kleinen Bruder weg von der Mutter brachte, waren Bonbons und Landkarten in die Sitze geklemmt. „Bayrischer Blockmalz“ stand auf den Bonbons, goldbraun waren sie und klotzig. Die Kinder schossen ihn zwischen ihren Zähnen hin und her wie winzige Grenzsteine. Neben der gelb-blauen Verpackung lagen mehrere Landkarten. Deutschland, Ungarn, Europa. Die Kinder lernten nie, sie zu lesen, sie wuchsen in eine Zeit der Suchmaschinen hinein und hatten dank der Flucht ihrer Großeltern deutsche Pässe. Ein Anrecht auf den ungarischen hatte nur der jüngere Bruder, denn den älteren durfte es in Ungarn seit dem Jahr 2021 nicht mehr geben und wir schreiben das Jahr 2031. Er war der Sohn einer Frau, die ein Junge hätte werden sollen und die bis heute nicht weiß, dass sie keine Tochter hat. Manche Familien stehen auf Skandale, andere auf betonfestem Fundament. Die meisten schaukeln auf der Abrissbirne.
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Fast sechzig Jahre, nachdem sich die Großeltern in der Nadelfabrik ineinander verstrickt hatten, liest das Kind auf der Internetseite der Firma, worauf es beim Nadelkauf ankommt:
Bei der Verarbeitung von gewebten, gewirkten, gestrickten oder gefilzten Materialien kommen – anders als bei Leder – Verdrängungsspitzen zum Einsatz. Diese verdrängen beim Einstich das Material, was dazu führt, dass das Gewebe beziehungsweise die Maschen nicht zerstört werden.
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„Frag mir doch bitte keine Löcher in den Bauch.“ Die Mutter hatte genug von Sätzen, die betont beiläufig mit „Hat damals eigentlich“ begannen. Gábor spitzte die Nadel wie einen Bleistift und bohrte tiefer, tiefer, immer tiefer in die Haut der Geschichte. Aber es wurde nicht gesprochen. Die Geschichte geht so: Die Mutter ist in einen Stacheldraht gefallen. Der Großvater war ein Revolutionär im Ungarnaufstand und ein Millionär in Deutschland. Gábor war eine Frau, deren Stimme im Alter von 27 Jahren plötzlich ohne Vorankündigung eine Quinte tiefer geworden ist.
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Wer Nachfahr:in von Nadlern und Näherinnen im Exil ist und vor der eigenen Geburtsurkunde auf der Flucht, kann keine Geschichten erzählen. Diese Person wird Fotos und Landkarten übereinanderlegen und mit dem gespitzten Bleistift die Linien nachfahren, die Donau, die Tisza, die Hauptschlagader. Mit den Verdrängungsspitzen der eigenen Fragen wird sie metertief ins Schweigen bohren wie mit einem Presslufthammer. Ausgegraben wird immer nur Blut, trockenes Blut aus verkrusteten Adern, und manchmal trifft man eine Pipeline und es gluckert und gurgelt aus den Landkartenlinien und das Zimmer vor den eigenen Augen dreht sich dann so schnell und gleichmäßig wie die Reifen des VW-Busses, mit dem Kinder von der eigenen Mutter evakuiert wurden, damit die wiederum ihre eigenen Adern treffen und sich in das riesengroße Schweigen hineinnähen kann. Hinter jedem zu Ende gedachten Absatz sieht man Sterne und irgendwann kippt man frontal auf die Stirn. Steht man gerade im Wald zwanzig Kilometer vor Budapest, gibt der Boden nach und schlimmstenfalls fällt man auf eine Baumwurzel, die ans Tageslicht kommen wollte. Meistens erzählt man aber in Küchen oder Kellern und knallt auf Fliesen und Beton. Dann zerspringt die Haut, die sich wie ein ganzer Himmel über den Schädel spannt, und das Ergebnis sind hässliche klaffende Platzwunden. „Was haben wir denn gemacht“, fragt die Ärztin, die in Deutschland häufig einen ungarischen, in Ungarn oft einen ukrainischen Namen hat. Dann erzählt man eine Geschichte, die mindestens genauso blöd ist wie die, die die eigenen Eltern oder das Staatsfernsehen erzählt haben, und sie schiebt ihre Hände in Latexhandschuhe und greift nach dem chirurgischen Nadelset. Im Übrigen, hier unterscheiden wir zwischen Federöhrnadeln und atraumatischen Nadeln.
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Atraumatische Nadeln sind fest mit dem Faden verbunden („armiert“), was eine Minimierung des Gewebetraumas bewirkt.
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„Was hast du da an der Stirn?“, fragte die Landkartenarmmutter den Landkartenstirnsohn. „Ich bin beim Joggen in Szarvas gegen einen Ast gerannt.“ – „Und was hast du da auf dem Kopf?“ – „Baumwurzeln.“ – „Aha. Hast du dran gedacht, die Reifen vom Bus zu wechseln? Es wird bald glatt.“ Sie wischte mit den Schuhsohlen über das Fundament der Geschichte und tatsächlich, sie stand auf millimeterdünnem Eis. „Vorsicht“, sagte sie, aber Gábor hatte bereits den Presslufthammer ausgepackt. „Für Eis reicht übrigens ein Pickel“, sagte die Mutter und schwieg für den Rest der Woche.