Mücahit Türk

Holunder –

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An die Familie. Bitte nicht lesen.


I

Dinge passieren. Man sitzt bei sich daheim und es passieren Dinge. Man sitzt da, macht sich über das eigene Leben lustig und rundherum geschehen Dinge. Man kriegt eine Heidenangst, man macht sich über das Leben lustig und einfach so Dinge. Man hat da keinen Einfluss mehr. Man ist dem ausgeliefert. Und ehe man sich versieht, werden sie Teil. Sie erscheinen und verschwinden und erscheinen. Was macht man damit? Wie geht man damit um?

Die Erinnerung absolviert mich. Immer wieder gerate ich an den immergleichen Ursprung. Immer wieder streut sich die Vergangenheit in Gegenwärtiges. Nichts kann vergessen werden. Entrissen aus früherer Zeit, vermischen sich bunte Zusammenhänge und einigen sich auf Schwarz. Da üben sich Prozesse in Verschleierung. Da fällt der Vorhang. Da ist die Erinnerung verfälscht. Und man erschrickt. Sind das die Erinnerungen? Gehört das mir?

II

Beispielsweise ist da Mutter. Es ist unerträglich heiß und zwischen dem Schulranzen und meinem Rücken ist es nass. Weil Mutter mich nicht abgeholt hat, schickt mich die Lehrerin zu Fuß nach Hause. Aber zu Hause öffnet niemand. Ich gehe also in das Restaurant am Eck, weil ich weiß, dass Mutter dort gelegentlich putzt. Als sie mich kommen sieht, zieht sie die neongrünen Handschuhe aus, fährt mir über die Wange und durchs Haar und entschuldigt sich. Mir macht das nichts. Mir gefallen ja die Umwege durch den Wald. Mir gefällt das Sprechen der Insekten. Der Blick über den Laubach. Oder wenn ein Vogel am Himmel hinter Wolken verschwindet und wieder erscheint. Am Abend erzählt mir Mutter, dass sich die Besitzerin beschwert hat. Dass nicht genug sauber sei. Das muss noch mehr sauber. Hier sei man nicht in der Heimat.'

Das ist so eine Sache mit der Heimat. Beispielsweise liege ich einmal im Kinderbett und kann durch die Rückseiten meiner Augenlider Vaters Heimat klar erkennen. Ich stehe auf einer grünen Wiese und blicke weit. Von hier aus sieht man den Hafen besonders gut. Ich sehe die Segel der Schiffe. Ich sehe die Buntglaskuppeln. Und strecke ich den Arm aus und strecke ich die Hand aus und führe den Daumen über die Landwege, ist es so, als wenn ich gerade selbst auf eben diese Wege trete – die Platanen und Tauben, blaue Fensterläden und eine Sonne wie schwarzer Tee. Und blicke ich in die Sonne, steigt mir Heimat in die Nase. Vaters Heimat erkenne ich immer am Geruch. Ich liege im Kinderbett mit geschlossenen Augen und voller Nase. Und kann nicht mehr einschlafen.

Das ist so eine Sache mit dem Riechen. Leicht ist man in eine Straße, in einen Garten, in ein Haus versetzt. Es genügt eine scheinbar unbedeutende Verbindung zwischen Gerüchen und Erlebtem. Beispielsweise das Riechen von Wiese, von Blumen, von Bäumen. Beispielsweise ist dann da so eine Erinnerung. Da ist der Holunder-weg. Da ist der von Hecken abgeschirmte Garten. Die Schaukel und der Fußball. Da ist das gelbe Haus. Es gibt zwei Etagen. Eine für den Onkel und für die Tante. Eine für meine Mutter, meinen Vater und mich. Es gibt einen Keller. Der Keller wurde ausgeräumt. In einen der Kellerräume werden Tische und Stühle gestellt. Eine Tafel mit Kreide. Ein Bücherregal. Im Keller steht auch der Onkel. Der Onkel bringt mir Arabisch bei, so kann ich den Koran lesen. Ich lerne nie zu verstehen, bloß zu lesen. Der Onkel kocht für mich, wenn Mutter und Vater noch arbeiten. Der Onkel macht Arme Ritter. Der Onkel erinnert mich an mich selbst, noch eher, als es Vater tut. Einmal sage ich in großer Runde: Ich will werden wie der Onkel. Alle lachen – nur Vater habe ich nie trauriger gesehen.

Das ist so eine Sache mit dem Schmerz. Beispielsweise ist da Vater. Mein Vater ist Fliesenleger. Mein Vater bricht sich den Arm. Mein Vater weigert sich, in ein Kranken-haus zu gehen. Wie soll man das erklären? Das ist nicht zu verstehen. In all meinen Erinnerungen ist Vater schon leidend. In all meinen Erinnerungen ist sein Schmerz schon vorprogrammiert. Es existiert keine Vorstellung ohne diesen Schmerz. Mein Vater geht auf den Bau und arbeitet sich den Rücken krumm. Mein Vater geht auf den Bau und arbeitet sich die Familie fremd. Mein Vater geht auf den Bau und stirbt irgendwann.

Oft schreibe ich über meinen Vater. Ich esse mit ihm zu Abend, wir unterhalten uns und machen Witze, wir machen einen Spaziergang – dann lasse ich ihn sterben. Es stirbt der noch lebendige Vater. Es hat sich eben so für mich ergeben, dass ich darüber schreiben muss. Möglich, dass der Vatermord mir eine Art von Sicherheit gibt. Möglicherweise liegt darin ein Umgang mit der Angst. Möglicherweise ist es ein Abschied noch vor dem Verlust. Ich kenne Vaters Schmerz und alles ist ganz klar.

Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist ganz klar.
Alles ist Angst.

Ängste machen keinen Halt – sie erinnern an die eigene Erreichbarkeit. Da ist dann keine Mauer mehr. Kein Gendarm mit Gewehr im Anschlag und strengem Blick. Da geht alles hindurch. Da weht höchstens eine weiße Fahne. Ein Hauch Ergebung und dann ist es schon rum, dann ist es schon wieder leichter, dann ist schon wieder gut.
Das ist so eine Sache mit der Erinnerung. Da vermischt sich etwas. Da üben sich Prozesse in Verschleierung. Da fällt der Vorhang. Ist das meine Erinnerung? Gehört das mir?

III

Weil Mutter mich nicht abgeholt hat, schickt mich die Lehrerin zu Fuß nach Hause. Ich gehe die Umwege durch den Wald. Zuhause ist ein Garten. Zuhause sind zwei Etagen. Eine für meinen Vater, meine Mutter und mich. Eine für den Onkel und die Tante. Da ist der Onkel. Vater und Mutter arbeiten wohl noch. Der Onkel lädt mich nicht zum Essen ein. Heute gibt es keine Armen Ritter. Dann vergesse ich. Dann steht der Onkel im Kinderzimmer. Dann zieht er mich aus. Dann ziehe ich ihn aus. Man will weinen und man weint nicht. Dann vergesse ich mehr. Dann den Blick auf die eigene Hand richten. Und der Versuch, sie zu schließen. Und bei dem Versuch, etwas zu greifen, scheitern. Und gegen die Wand starren. Lange kann man den Blick gegen diese Wand richten. Es fällt ungewöhnlich viel auf. Beispielsweise die Unebenheit der Farbe. Beispielsweise die Übergänge der Tapete. Beispielsweise die Reflexionen der Sonne durch die Fensterscheibe. Beispielsweise eine Fliege, die sich schon lange nicht mehr bewegt. Ich schließe die Augen und alles ist ganz klar. Blau ist der Himmel über der Marsch. Blau ist das Meer. Blau sind die Fensterläden. Man sieht die Segel der Schiffe. Man sieht die Kinder am Ufer spielen. Man sieht die Buntglaskuppeln. Da liegen die Berge vor mir. Da steigt Tabakgeruch auf. Das ist also die Pforte. Das ist also das Haus. Das ist der Garten. Hier eine einzelne Taube. Hier erhebt sie sich. Hier fliegt sie durch den Himmel. Hier gleitet sie vorbei und verschwindet und erscheint wieder zwischen den Wolken.


IV

Dinge passieren, dasitzen und eine Heidenangst. Man hat da keinen Einfluss mehr. Man ist dem ausgeliefert. Und nie lernt man zu verstehen. Das zerbricht eine Familie. Da geht etwas abhanden. Da findet Entfremdung statt. Jetzt muss ständig daran gedacht werden. Jetzt ist der Gedanke andauernd. Jetzt gibt es ein Davor und ein Danach. Jetzt ist jede Erinnerung eine einzelne. Das ist also die letzte Erinnerung an den Holunderweg. Das ist also die letzte Erinnerung an den Garten. Das ist also die letzte Erinnerung an das Zimmer. Das ist also die letzte Erinnerung an die Familie.
Mit einem Mal steht man zu sich selbst wie zum eigenen Schatten. Die Verluste absolvieren mich und ihre Gewalt erfahre ich in der Erinnerung. Ein Abschied von ihnen ist nicht möglich. Wie lässt sich das bestimmen? Was soll das sein – ein Abschied? Ist da nicht zu viel Zukunft? Woraus ist die Umkehrung gemacht?
Sind es die Übernachtungen bei der Cousine? Der Bau einer Deckenburg? Und dann lange aufbleiben und Videospiele spielen? Sich streiten und wieder versöhnen? Ist es der Sommer? Wochenends ins Freibad gehen, vom höchsten Turm springen? Ein Fußball? Den Fußball in ein Fenster schießen? Lügen? Die Wahrheit sagen? Ist es der Schnee? Sind es die Busausfälle? Das gelbe Gras? Die starken Bäume? Der zweibeinige Hund im Park? Sind es die Mutproben? Sich küssen und angeekelt tun? Oder kann es auch Haselnusseis sein? Oder ein Apfelstreuselkuchen? Oder die Freude auf Arme Ritter? Ist es bei Mutter über die Schulter schauen? Und das Warten auf Vater? Und dann Abendbrot mit der Familie? Ist es ein Spaziergang? Die Umwege durch den Wald? Das Sprechen der Insekten? Der Blick über den Laubach? Die Vögel am Himmel? Sind es die Geheimnisse? Zeichen und Muster? Erscheinen? Verschwinden?