Monique Schwitter

Fall

Erst vor wenigen Tagen hatte Moss gelesen, London sei das neue Rom, und Oslo

das neue London; jeder, der etwas auf sich halte, der es sich leisten könne und ein

angenehmes Leben bei gemäßigten Temperaturen plane, kaufe nun in Oslo eine

Immobilie. Das sei sie nun, die globale Erwärmung, Leugnen zwecklos,

angemessenes Reagieren und vorausschauendes Handeln seien gefragt. Moss fand

das reichlich übertrieben, geradezu schrill; googelte aber immerhin, wenn auch recht

träge, wo in Norwegen Oslo nochmal genau liegt, um dann sogar in Betracht zu

ziehen, ohne die geringste Leidenschaft oder die leiseste Idee eines konkreten

Zeitpunktes zwar, irgendwann einmal vielleicht ein Wochenende in Oslo zu

verbringen. Dieser kleine Exkurs hatte ihn ermüdet, er sah auf seine Armbanduhr,

stellte zufrieden fest, dass es exakt 14 Uhr 14 war, gähnte und räkelte sich in seinem

Liegestuhl. Ob er ihn ein Stück in den Schatten rücken sollte? Aber da war er schon

eingenickt.

Als er eine knappe Stunde später durch das Tosen eines Passagierjets im

Landeanflug erwachte, hatte er, und das wurde ihm augenblicklich bewusst, einen

veritablen Sonnenbrand auf seinem Kopf, den das feine, schütter gewordene Haar

nur noch andeutungsweise bedeckte. Und das Anfang Mai. Er blinzelte in den

blendendblauen Himmel und murmelte: British Airways.

In der Tat war es dieses Jahr ungewöhnlich warm, fast hätte er ungeheuer gedacht.

Er tastete seinen Kopf ab. Ungeheuer ist viel ..., er lachte auf, lauter als beabsichtigt

(er war hier in seinem Reich und konnte tun und lassen, was ihm beliebte, dennoch

störte er sich selbst daran), und blickte direkt in die Sonne, bis er nur Schwarz sah,

so tief und anhaltend, dass er plötzlich überzeugt war, soeben erblindet zu sein. Er

konnte aber auch übertreiben. Wie oft hatte man ihm das gesagt, und wie zutreffend

es doch war. Man. Mathilda hatte es gesagt. Und jede weitere Frau, die er

kennengelernt hatte. Selbst die, die er nur kurz kannte.

Ein unerträglicher Druck hinter seiner Stirn stoppte seine Gedanken schlagartig, er

stand auf und schob seinen Liegestuhl ein Stück in den Schatten der alten Eibe,

deren Stamm im Inneren bereits zerfiel, die er aber, obwohl der Gärtner bei jeder

Besprechung dazu riet, nicht fällen ließ. Irgendwann erschlägt der alte Kerl Sie noch beim Sonnenbaden, passen Sie bloß auf, Boss Moss!, pflegte der Gärtner zu sagen.

Heute war es schon mittags unangenehm heiß, Moss konnte die Siesta im Garten

kaum erwarten und ließ das Essen unberührt. Seine litauische Haushälterin hatte er,

sobald der Ristretto im Salon aufgetragen war, in ihre Räume entlassen. Moss

schätzte an ihr vor allem, dass sie ihn in keiner Weise inspirierte. Selbst ihren Namen

musste er sich regelmäßig in Erinnerung rufen, wenn er ihn benötigte, Ieva. Sie war

Luft für ihn, sobald sie sich zurückzog – und oft genug auch, wenn sie ihn bediente.

Splendid isolation!, rief er aus, wie stets in den letzten Wochen, wenn er durch die

Terrassentür ins Freie trat. Er atmete tief ein. Wie gut er es hatte. Allein in seinem

Garten, allein, weil er es wollte, in seinem solide umfriedeten Garten mit gediegenem

Baumbestand, seidigem, makellosem Rasen und frisch geweißter mannshoher

Mauer. Seine einzige Gesellschaft waren die Flugzeuge, die aber, anders als zu

gewöhnlichen Zeiten, nur noch vereinzelt, nicht mehr alle paar Minuten landeten. Wie

hatte er sie verflucht, nachdem er in das Haus eingezogen war! Mit den Jahren aber

hatte Moss den Lärm zu ertragen und die Stille danach zu lieben gelernt. Jetzt freute

er sich geradezu, wenn das unvergleichliche Donnern einsetzte und sich eine

Maschine ankündigte. In diesen Zeiten erinnerten die Flieger ihn daran, dass es

tatsächlich noch Menschen gab. Irgendwo in sicherer Entfernung. Gut verpackt in

Tonnen von Aluminium, Kunststoff und Titan. Er hörte sie, sah sie (zumindest ihre

fliegende Hülle), und wenn er Lust dazu hatte, winkte er ihnen sogar (vermutlich

ohne dass sie es bemerkten). Es gab sie noch. Umso mehr schätzte er seine

Isolation unter freiem Himmel.

Heute war noch kein einziges gelandet. Moss packte seine Liege und suchte nach

einem geeigneten Schattenplätzchen, um nicht wieder einen Sonnenbrand zu

bekommen. Unter der Eibe ließ er sich nur kurz nieder, dort war es ihm zu schattig,

das Blattwerk zu undurchdringlich, zu opak. Er fand dieses Wort großartig,

besonders im Englischen, opaque (oh, Pake!). Allerdings schätzte er mehr den Klang

als seine Bedeutung, denn alles Undurchsichtige, Undurchdringliche machte ihn

nervös. Einen Ort, an den die Sonnenstrahlen nicht gelangten und von dem aus sich

kein freier Blick nach oben in den gänzlich ungetrübten Himmel bot, konnte er weder

ertragen noch gebrauchen.

Moss liebte es, während der Mittagsruhe so lange in das seit Tagen geradezu

unverschämte Himmelsblau zu blinzeln, bis ihm die Augen schwer wurden und

zufielen, und die Sonne auf den geschlossenen Lidern zu spüren, gleißend und warm; er platzierte den Liegestuhl direkt vor der blendend weißen Mauer, deren

Wärme ihn im Rücken wie ein warmer Mantel umfing. Dieses Blau. Wie weit. Wie

unfassbar. Wie stechend und beruhigend zugleich. In der Natur kommt Blau

bekanntlich kaum vor, es gibt nur sehr wenige blaue Pflanzen und Tiere. Egal,

murmelte Moss, der Himmel ist für alle da. Seine Bläue umspannt alles und jeden,

sie macht keinen Unterschied. Alle sind wir gleich unter diesem unerhörten Blau.

Er schloss die Augen, fand aber keinen Schlaf. Was für eine widerwärtige Hitze! Seit

wann war es im Frühjahr hierzulande so heiß? Oslo, dachte er. Olso. Das Wort

begann ihm Spaß zu machen. Er konnte überall leben, seine Geschäfte verlangten

schon lange keine physische Anwesenheit mehr, nirgends. Gibt es dich denn noch,

hatte ihn vor kurzem ein langjähriger Kunde gefragt, ich meine, sitzt du da wirklich

auf deinem echten Hinterteil in London, Patrick Moss? Warum also nicht Oslo. Moss

in Oslo? Mosslo!

Oslo sei, hatte er neulich bei seiner kleinen Handyrecherche erfahren, nicht nur die

teuerste, sondern auch die Stadt mit den zufriedensten Einwohnern, und zwar (das

wusste er jetzt nicht mehr mit Bestimmtheit, aber es schien ihm überzeugend) auf der

ganzen Welt. Vielleicht sollte man sich das wirklich einmal anschauen. Traumhaftes

Klima und glückliche Menschen. Al-so Ol-so! Er lachte. Sobald die Zeiten sich

beruhigten, wenn sie das denn je wieder täten, flöge er hin und überzeugte sich

selbst. Er nickte nachdrücklich, und für einen Augenblick war er zufrieden wie ein

Osloer. Er schlummerte ein.

Da war es! Warm und freudig durchströmte es ihn; ohne die Augen zu öffnen, genoss

er das ohrenbetäubende Tosen, seine Lippen zuckten leicht, bis sie sachte tanzten:

So gespannt fühlten sie sich sonderbar weich und voll an. Er lächelte mit

geschlossenen Lidern, dennoch nahm er den Schatten wahr, der ihn

zusammenfahren ließ und mit der Wucht einer Kanonenkugel krachend neben ihm

einschlug. Er riss die Augen auf und stieß einen unheimlichen, tiefen, halb

wiehernden Laut aus, der ihn fast genauso entsetzte wie das, was er sah: Direkt

neben ihm lag ein lebloser Körper. Er war vom Himmel gefallen. Stop. Stop, schoss

es Moss durch den Kopf, raus, ich möchte raus aus dieser Geschichte. Er rang nach

Luft. Raus aus dieser Situation, raus aus meinem Garten, stop, anhalten!

Er versuchte aufzustehen, die Hände auf die Lehnen gestützt, aber er kam nicht

hoch, so sehr er sich auch mühte. Schwer sackte er zurück in das Polster. Er atmete

aus und fühlte, wie er schrumpfte, kleiner und kleiner, schlaffer und schlaffer wurde

wie ein gebrauchter Luftballon, ein trauriger, verschrumpelter Fetzen. So hing er in seinem Liegestuhl. Blutleer, kraftlos, aber sehend. Ein Fetzen mit Augen. Der Lärm

des landenden Flugzeugs war längst verebbt. Die Fetzenaugen aber meldeten:

Sorry, alles wie gehabt. Wir sehen, was wir sahen. Da liegt einer. Da liegt ein

Mensch. Steif und starr. Wie geduckt, den Kopf eingezogen, das Gesicht abgewandt.

Seine Schulterblätter zeichnen sich unter dem Parka ab. Moss schloss die Augen.

Ich bin nicht da, schrieb er mit flammender Schrift auf die Innenseiten seiner Lider.

Licht aus, gute Nacht. Aber die Lider gehorchten ihm nicht mehr und schnellten

erneut nach oben, wie gezogen. Es gab keine andere Erklärung. Dieser Mensch

musste vom Himmel gefallen sein. Direkt in seinen Garten. Unmittelbar neben seinen

Liegestuhl. Er hatte Moss nur um eine Armlänge verfehlt. Beim Aufprall hatte er einen

knietiefen Krater in seinen perfekten Rasen geschlagen. Was für eine Schande.

Moss sah auf ihn nieder. Er wollte etwas rufen, aber er blieb stumm wie der leblose

Körper neben ihm. Nach dem tierischen Wiehern konnte er jetzt keinen Laut mehr

von sich geben. Er wurde von einem heftigen Schütteln erfasst. Ungläubig starrte er

auf seine Hände, die sich selbstständig gemacht hatten und zappelten, als wären sie

irre geworden, als stünden sie unter Starkstrom oder litten an Tanzwut. Irgendeine

fremde Macht, auf die er keinen Einfluss hatte, herrschte über sie, soviel war klar. Du

kannst aber auch übertreiben!

– Was war das? Mathildas metallene Stimme in seinem Ohr, im rechten, im

empfindlichen, Mistress Merciless, auch das noch! Wie immer war sie zur Stelle,

wenn er eine ungünstige Figur abgab, und augenblicklich schämte er sich für seine

wildgewordenen, unkontrolliert fuchtelnden Gliedmaßen, obwohl sie ja nur ihre

Stimme geschickt hatte, nicht ihren harten Blick, dem keine Peinlichkeit entging, nur

die Stimme, stählern, schneidend und lauter, als es ein Mensch vermag (jemand

hatte das Volumen aufgedreht): Du kannst aber auch übertreiben, Patrick! Hätte sie

vor ihm gestanden, seine Hände hätten gewusst, was zu tun war, bei Gott, er hätte

die Kraft gefunden, sich auf sie zu stürzen und sie zu würgen, bis sie blau anliefe, er

schwor es. Sie hatte schon gewusst, weshalb sie nur die Stimme geschickt hatte,

und mit dieser nahm er es jetzt, wenn auch nur in Gedanken, auf:

Findest du, ja? Du findest, dass ich übertreibe? Wie, liebe Mathilda, würde man

deiner geschätzten Meinung nach denn angemessen auf diesen – ja was, Vorfall?

Zwischenfall? Unfall? (Fall ist jedenfalls nicht schlecht!) – diesen Himmelssturz

reagieren? Sprich!

Sie war weg.

Ihre Stimme, alles war weg. Nur dieser starre fremde Körper, der lag da immer noch,

Montpellier gefahren, achtundzwanzig Jahre mussten es sein, und hatten spontan,

ohne rechtes Schuhwerk und gänzlich ohne Verpflegung, den Aufstieg zum Causse

Méjean in Angriff genommen, einer waldlosen, windigen Kalk-Hochfläche mit einer

Ansammlung bizarrer Felsbrocken. Mathilda warf sich auf den kargen Boden und rief:

Keinen Schritt weiter! Er hatte sich zu ihr gelegt und war in der ohrenbetäubenden

Stille dieser windreichen Mondlandschaft unter einem unendlich blauen Himmel

eingeschlafen. Und als er aufwachte, konnte er nichts mehr hören. Über ihnen der

blaue Himmel und ein heftiger, vollkommen lautloser Wind. Sie waren durstig, ihre

Lippen spannten so, dass jede Regung, jedes Zucken um den Mundwinkel,

schmerzte. Schweigend stiegen sie hinunter in die Tarnschlucht, tauchten ihre Köpfe

in den Fluss, der die Farbe des Himmels hatte, und tranken gierig. Als Moss

auftauchte, konnte er wieder hören, und Mathilda fragte ihn, ob sie nicht heiraten

wollten.

Moss konnte nichts mehr hören. Er konnte nicht schreien. Er konnte nicht aufstehen.

Gibt es dich denn noch? Sitzt du wirklich da auf deinem echten Hintern in diesem

London, Patrick Moss? Mosslo. Oslo, Olso Osol e mio Oslo und ich. Ich olso. Also

ich. Also I. Me, too. Und du? I-A! Ieva. Meine Haushälterin. Hausen und halten.

Haus- und Hinterhalt. Nicht zum Aushalten. Halt! Aufhalten. Haltet den Dieb. Und du,

in echt, dein Hintern. Was fällt dir ein. Einfallen. Ist mir gar nicht aufgefallen. Fallen,

eine Falle. Tief gefallen. Einen Gefallen. Eingefallen. Ein Gefallener. Was machst du

hier.

Er sah dem Eisblock zu, der langsam in der Sonne schmolz. Mit Kleidern und allem.

Ohne Hab und Gut. Vom Himmel gefallen. Was hatte ihn umgebracht? Der Sturz?

Oder war er vorher schon tot? Erfroren bei minus sechzig Grad? Erstickt in der viel

zu dünnen Luft da oben? Oder beides? Was zuerst? Und nannte man das dann

eines natürlichen Todes gestorben? Gab es eine Gewalteinwirkung? Eine

Naturgewalteinwirkung! Nannte man das fahrlässige Selbsttötung? Hatte er seinen

eigenen Tod gewollt? Billigend in Kauf genommen? War es ein Unfall? Wie kann

denn jemand aus einem Flugzeug fallen?

der himmel ist für alle da. seine bläue umspannt alles und jeden, sie macht keinen

unterschied. alle sind wir gleich unter diesem unerhörten blau. alles gleichgültig, alles

gleich klein oder groß. gleich groß, nicht mehr unterscheiden. du und ich. gleich.

egal.

Moss sehnte sich nach einem Gespräch. Moss sehnte sich niemals nach

Gesprächen. Er hatte genug mit Menschen zu tun, gottlob geschützt durch

Videokonferenzen und Telefone. Mehr brauchte er nicht zu hören. Wenn er sich nach

Anregung oder Austausch sehnte, was durchaus vorkam, las er. Moss las viel. Er

interessierte sich für fast alles. Immer schon. Er merkte sich, was er las. Er konnte

vieles wörtlich wiedergeben. Zuverlässig wie ein Uhrwerk hat das Pantone Color

Institute die Farbe des Jahres 2020 ausgerufen. Das tiefe Blau Classic Blue soll

dabei für des Menschen „Sehnsucht nach einer verlässlichen und sicheren Basis“

stehen. Das hatte er zu Beginn dieses Jahres gelesen. Kurz darauf breitete sich die

Seuche aus, und die Welt machte dicht.

Verlässliches Blau ... Homer, mit dem die europäische Kultur- und Geistesgeschichte

begann, der früheste Dichter des sogenannten Abendlandes, kannte kein Wort für

blau. Er beschrieb den Himmel, aber niemals seine Farbe. Blau ist die letzte Farbe,

die einen Namen bekam. Hey, du. Moss hätte den starren Körper gerne angestupst.

Er ist zu Stein gefroren. Und ich sehe ihm beim Auftauen zu.

Moss hatte keine Sirenen gehört. Aber der Widerschein des Blaulichts war sogar

über seine Supermauer bis in den Garten gedrungen. Wie haben Sie mich gefunden,

fragte er den Polizeisergeant, der das Dutzend Einsatzkräfte anführte, allesamt mit

Schutzmasken, die in seinen Garten gestürmt waren. Die Frage war falsch, fuhr er

fort, entschuldigen Sie. Ich müsste natürlich fragen, wie Sie ihn gefunden haben, ihn,

nicht mich; woher hatten Sie denn Kenntnis über ...? Während die Rettungskräfte

sich mit schnellen, unsanften Handgriffen an dem Toten zu schaffen machten, die

Moss beinahe empörten, so grob empfand er sie, tauchte hinter dem Sergeant eine

Frau auf, die als einzige keine Maske trug und merkwürdig lächelte, obwohl Moss sie

(jedenfalls wissentlich) nicht kannte. Ihr Lächeln verunsicherte ihn. Sie trug ein

luftiges ockerfarbenes Kleid, kein hochwertiger Stoff, gewöhnlicher Viskosejersey,

aber der Schnitt hatte erstaunlicherweise Klasse. Der Sergeant wandte sich an Moss,

er war nicht leicht zu verstehen unter seiner Mundbedeckung:

Ein Planespotter hat das Geschehen beobachtet und uns informiert.

Was ist ein Planespotter?

Das sind Menschen, die in ihrer Freizeit Flugzeuge fotografieren oder filmen,

Landeanflüge sind sehr beliebt. Wir in England haben das Planespotting sozusagen

erfunden. Im Zweiten Weltkrieg bat die Regierung Zivilisten, insbesondere an den

Küsten, die Registrierungen der deutschen Flugzeuge zu notieren, die in das Land

einflogen oder es wieder verließen. Daraus ist dieses immer noch populäre Hobby entstanden. Davon profitieren wir jetzt. Der Spotter hat den Landeanflug gefilmt und

bemerkt, dass ein Mensch aus dem Fahrwerk fiel, als es ausgefahren wurde. Es

handelt sich um eine Maschine der Kenya Airways, sie startete heute Morgen um 9

Uhr 20 Ortszeit in Nairobi, eine Boeing 787-8, ein Dreamliner. Der Planespotter hat

uns umgehend informiert. Anhand seiner Aufnahmen im Abgleich mit den Daten des

Fluglotsen konnten wir Ihr Grundstück ausfindig machen. Herr Moss, fuhr der

Sergeant fort, unsere Polizeipsychologin möchte Ihnen nun ein paar Fragen stellen.

Die Lächelnde im Jerseykleid nickte. Moss wünschte sie zum Teufel. Meine

Haushälterin bringt Ihnen gerne eine Hygienemaske, sagte er, worauf das Lächeln

wenigstens für einen Augenblick erstarb. Danke, ich habe meine eigene, entgegnete

die Psychologin und streifte etwas übers Gesicht, das wie eine Damenbinde aussah.

Damit war der Fall erledigt.

Dass Ieva die ganze Zeit dabeistand, hatte Moss gar nicht bemerkt. Soll ich

jemanden benachrichtigen, fragte sie, als alle weg waren. Alle, auch der Gefallene.

Seine Leiche hatten sie auf einer Aluminiumtrage mitgenommen. Nur sein Blut war

noch da, an der Wand hinter Moss. Das Reinigungsteam wurde vom Sergeant für

den nächsten Tag angekündigt, schneller gehe es nicht. Moss schüttelte den Kopf.

Nein, niemanden, danke, Ieva. Sie können sich zurückziehen. Was würde Mathilda

sagen, wenn seine Haushälterin bei ihr anriefe und ausrichten ließe, Moss benötige

ihre Unterstützung. Großartige Idee. Oh, er sah Mathildas Blick, der sich so

treffsicher immer dann auf ihn richtete, wenn es richtig weh tat. Dem er niemals

standhalten konnte, der auch dann keine Gnade kannte, wenn Moss, was selten

genug vorgekommen war, einfach nicht mehr konnte.

Die Polizei würde die Fingerabdrücke des Toten nach Kenia schicken. Der Sergeant

war extra noch einmal zurückgekommen, um ihn das wissen zu lassen. Moss hatte

nicht verstanden, was der Polizist ihm damit sagen wollte. Würde er verständigt

werden, wenn die Identität des Toten festgestellt war? Ging ihn das etwas an? Er

kannte diesen Menschen nicht und würde ihn nicht mehr kennenlernen können. Sie

hatten sich verpasst, ganz und gar. Bis zuletzt, zum Glück. Wäre der Körper nur um

ein Weniges näher bei ihm heruntergekracht, wäre Patrick Moss jetzt auch

Geschichte. War es eigentlich, so unwahrscheinlich das Ganze an sich war,

wahrscheinlicher, getroffen oder verfehlt zu werden? War es nun ein großes Glück,

dass er Moss verfehlt hatte, oder einfach nur großes Pech, dass er ausgerechnet in

seinen Garten gefallen war? Die berühmte Armlänge Abstand, murmelte Moss. Wozu

die doch alles nützlich ist. Erst waren es die sexuellen Übergriffe, dann die

Virusinfektionen und neuerdings auch noch Einschläge von oben, die dadurch

abgewehrt und vereitelt werden. Er hatte sich nie um Abstand bemühen müssen,

allein in seinem Reich. Splendid isolation: Zum ersten Mal löste der Begriff schlechte

Gefühle in ihm aus, richtig miese sogar. Er hatte die Liege kein Stück verrückt. Sie

stand, wo sie gestanden hatte, und er saß, beziehungsweise lag, wo er gesessen

und gelegen hatte. Da konnten die ganzen Menschen, die plötzlich seinen Garten

bevölkert hatten, reden, was sie wollten. Es war sein gutes Recht zu entscheiden, wo

in seinem verdammten Garten seine verdammte Liege stand, und er hatte sich nun

einmal für genau diese Position entschieden.

Der Gärtner kam, einen Eimer in der Hand, von der Haushälterin geschickt, von wem

sonst.

Boss Moss, ich mach das hier mal weg. Wollen Sie sich nicht ein bisschen weiter

nach da drüben setzen? Moss rührte sich nicht.

Sie sagten doch, die Eibe erschlage mich eines Tages.

Entschuldigen Sie?

Wissen Sie, es hat keinen Sinn, sich Katastrophen auszudenken. Die sind cleverer

als wir. Die haben so viele Gesichter. Du rechnest mit der Eibe und zack! fällt dir ein

toter Mensch auf den Kopf.

Er hat Ihnen aber doch nichts getan, Boss Moss? fragte der Gärtner besorgt.

Nein. Nein, keine Sorge. Er hat mir nichts getan. Wie spät ist es?

18 Uhr 30, Boss.

Lassen Sie das Blut. Es ist in Ordnung, es wird morgen sauber gemacht. Danke, Sie

können –

Feierabend? Der Gärtner nickte erfreut, packte seinen Eimer und ging davon.

Aus tausend Metern, hatte der Sergeant gesagt, sei der blinde Passagier aus dem

Fahrwerkschacht gefallen. Aufgrund des Lärms, den die Maschine gemacht hatte,

und aufgrund seiner langjährigen Erfahrung als Anwohner dieser Anflugschneise

hatte Moss diese Zahl erstaunt. Er hätte sie deutlich niedriger eingeschätzt. Aber das

war irrelevant, wieso dachte er überhaupt darüber nach. Er war schon tot gewesen,

als der Pilot das Fahrwerk ausfuhr, das war doch das Entscheidende. Er war vor dem

Abflug in Nairobi in den Fahrwerkschacht geklettert, absichtlich, muss angenommen

werden, da es, wie Moss von der Psychologin erfahren hatte, immer wieder solche

Fälle gab. Die Gefahr sei bekannt. Die Fluggesellschaften und Flughäfen dieser Welt,

insbesondere die afrikanischen, seien angehalten, die Maschinen vor dem Start

durch den Piloten oder seinen ersten Offizier inspizieren zu lassen. Erst recht, wenn

ihr Ziel Europa sei. Diese Art der illegalen Einwanderungsversuche mache zwar nur

einen winzigen Bruchteil aus, sei in den Herkunftsländern aber als Rettungsidee und

Fluchtmythos im Umlauf. In der Regel würden, sagte sie unter ihrer merkwürdigen

Binde, solche blinden Passagiere vor dem Start aber entdeckt und entfernt. Sie sagte

wirklich entfernt.

Auf einer typischen Reiseflughöhe von 10.000 bis 12.000 Metern sind die

Bedingungen extrem, das wusste Moss auch schon, bevor die Psychologin zu einem

entsprechenden Referat ansetzte, im Ton einer ausgemachten Expertin, obwohl es

sich bei der Aviatik ja nicht gerade um ihr Fachgebiet im engeren Sinne handeln

dürfte. Zeitlebens hatte Moss es nicht ertragen können, wenn Menschen, und da

halfen auch gut geschnittene Kleider nichts, und da störten auch Mundbinden nicht

besonders, in diesem Ton zu anderen Menschen sprachen, ganz gleich, um wen es

sich handelte, selbst wenn sie tatsächlich Koryphäen waren und ihre Zuhörer

lernwillige Schüler.

Ja, die Temperaturen da oben betrugen um die minus 60 Grad Celsius, und ja, der

Luftdruck und der Sauerstoffgehalt waren viel zu gering, als dass ein Mensch das

überleben konnte. Wer wusste das nicht. Ab 5.000 Metern Höhe treten bekanntlich

bereits Symptome wie Schwindel oder Sehprobleme auf. Ab 7.000 Metern fällt man

zwangsläufig in Ohnmacht. Der Körper schaltet dann einfach ab. Ab 10.000 Metern

brauchen die Lungen auf jeden Fall ein Sauerstoffgerät. Es soll einmal einen

Passagier gegeben haben, der eine Flugreise im Fahrgestell überlebte, weil das

Flugzeug wegen Schlechtwetters tiefer als gewöhnlich flog. Immerhin das war Moss

neu. Aber selbst da bleibt das Problem der extremen Temperaturen, die, mit einem

Parka bekleidet, über einen längeren Zeitraum nicht zu überleben sind, ja, danke,

Ende des Vortrags.

Moss war müde. Ich fasse zusammen, sprach er tonlos: Der Mann, der vom Himmel

in meinen Garten stürzte, ist auf dem Flug von Nairobi nach London bei einer

Flugdauer von neun Stunden zu Stein gefroren. Ob er davor schon erstickt war, wird

schwer festzustellen sein. Es bleibt zu hoffen, dass er zu jenem Zeitpunkt längst

ohnmächtig und außerstande war, irgendetwas von all den tödlichen Torturen

mitzubekommen. Moss wollte nur noch schlafen. Aber die Stimme, die jetzt sprach,

das war doch nicht seine? Zu seinem Erstaunen klang sie genau wie seine eigene.

Sie sagte:

Du hättest mich fast mit dir in den Tod gerissen, du Arschgesicht. Was haben wir

gemeinsam? Warum soll ich sterben, weil du es tust?

Erst jetzt, in der blauen Stunde, machte sich sein Sonnenbrand von vor ein paar

Tagen wieder bemerkbar, seine Kopfhaut spannte und brannte höllisch. Die

beängstigende Vorstellung, sein Kopf könnte jeden Augenblick wie eine reife Beere

platzen, wurde immer stärker.

Moss bekam Besuch. Erneut drang jemand in seinen Garten ein. Hallo Patrick, hier

bin ich. Kannst mich nicht gut erkennen in der Dämmerung, eh? Ich bin Mbingu.

Moss hatte ihn zwar nicht erwartet, empfand sein Erscheinen aber keineswegs als

störend. Selbst geduzt und Patrick genannt zu werden, fand er in Ordnung. Er nickte

dem Fremden kurz zu und forderte ihn auf, es sich auf seinem saftigen,

seidenweichen Rasen bequem zu machen, aber Vorsicht, da ist ein Graben, fall

nicht, Mbingu!

Der Besucher lachte auf. Aus deinem Mund klingt das wie Bingo, Mann. Versuch es

nochmal: Mbingu.

Er ließ sich mit gekreuzten Beinen direkt neben dem frischen Krater nieder. Er war

sehr schlank und langgliedrig. Seine Handgelenke und Knöchel waren schmal, fast

zierlich. Sein Parka hatte jetzt die Farbe des Himmels, ein volles, sattes Königsblau.

Es war kurz vor 21 Uhr, die Sonne war vor wenigen Minuten untergegangen. In einer

Dreiviertelstunde fiel die Nacht, und das blaue Spektakel wäre vorbei. Mbingu riss mit

seinen schlanken Fingern zügig Halme aus dem wunderschönen, vollendet

gepflegten Rasen, entsetzt beobachtete Moss ihn dabei, sagte aber nichts.

Wo kommst du her? fragte er stattdessen.

Jetzt gerade?

Moss nickte.

Hab mich rumgetrieben. Mbingu grinste. Das Gebiet erkundet. Er schnippte das Gras

weg. Im Ernst, Mann, das ist eine richtig nette Gegend hier. Weißt du, bei uns gibt es

auch nette Gegenden, in denen die Menschen abgeschottet wohnen wie du hier, mit

hohen Sicherheitszäunen oder Mauern. Ganz ehrlich, würde ich nicht freiwillig

machen, mich hinter so einer Mauer verstecken. Okay, ich hab mich auch versteckt,

aber aus anderen Gründen. Jedenfalls, da wo ich herkomme, sieht es anders aus.

Sah es anders aus, muss ich sagen. Holz, Wellblechdach, fertig. Eine Plastikplane

für schlechtes Wetter. Einfache Sache, aber schon okay. Also jetzt nicht gerade mit

Strom und fließend Wasser und sowas, aber echt in Ordnung. Bis die Bagger kamen.

Mbingu strich sich mit einigen Halmen über den Handrücken. Sind jetzt zwei Jahre.

Kurz nach Sonnenaufgang, wo jeder bei uns noch schläft, rückten die an und zogen

einmal quer durch und das war's mit unserem Haus. Er sah Moss unvermittelt an.

Seine Augen glänzten. Und was glaubst du, wozu das Ganze? Um eine neue

Verbindungsstraße zu bauen. Kein Scherz. Zu viele Autos. Die sich’s leisten können,

haben keine Lust, im Stau zu wohnen. Du verstehst das, eh? Es war ein scheißkalter

Tag, und während meine Geschwister versuchten, noch irgendwas aus den

Trümmern zu retten, hielt ich unsere Mutter, wir standen da an der Mauer zum

Golfplatz hin. Und auf der anderen Seite, kannst du hinspucken, spielten diese Leute

in ihren sauberen weißen Kleidern auf ihrem reinrassigen Rasen einfach weiter, als

bekämen sie nichts von unserer Hölle mit.

Mbingu schleuderte das Büschel Gras, das er während seines Berichtes ausgerissen

hatte, in hohem Bogen auf Moss’ Kopf.

Hier, hilft auch bei schütterem Haar und ist gut gegen Sonnenbrand.

Und weg war er. Verschluckt von der Dunkelheit.

Moss konnte nicht sicher unterscheiden, ob die Missempfindung wirklich von außen

kam, von der Kopfhaut, die so entsetzlich glühte, oder doch von innen, ob es nicht

unter seiner Schädeldecke siedete und kochte.

Er starrte in die Dunkelheit, die ihn umgab. Trotz seiner Erschöpfung war er hellwach.

Er fühlte sich erschlagen und aufgeputscht zugleich.

Es war eine Boeing 787-8, Dreamliner genannt, hatte der Sergeant gesagt. Mit Rolls

Royce Triebwerken und besonderem Komfort für die Passagiere, von den extra

großen Fenstern für ein optisches Flugerlebnis der Extraklasse über die

ausgeklügelte, augenfreundliche Beleuchtung mit gedämpftem Abendlicht samt

Sternenhimmel für geruhsamen Schlaf über den Wolken bis zur Antiturbulenztechnik;

gegen jede Art von Erschütterung wird gearbeitet im Dreamliner (der Begriff ist

wirklich nicht zu hoch gegriffen) und für jede Art von Ruhe und Entspannung gesorgt

– solange man in der Kabine sitzt und nicht im Fahrwerk. Ach ja, das Wichtigste: die

Luftfeuchtigkeit beträgt paradiesische 51 Prozent und der Kabinendruck entspricht

dem Luftdruck auf 1.830 Metern Höhe über dem Meeresspiegel. Das ist in etwa die

Höhe, auf der Nairobi liegt. Mbingu würde sich wohlgefühlt haben an Bord, geradezu

heimisch. Es ist zum Kotzen.

Klingt logisch, muss aber deswegen nicht wahr sein, hörte er Mathildas Stimme

sagen. Das war so ein Klassiker von ihr. Wie oft hatte er das aus ihrem Mund gehört.

Was willst du denn jetzt, presste er hervor. Mit Verlaub, Mathilda, es gibt Dinge, von denen du schlicht keine Ahnung hast, null, zero. Würdest du daher die Güte besitzen

und dich nicht einmischen? Was für ein Tag. Seit fünfzehn Jahren hatte er sie nicht

mehr gesehen oder gesprochen, und heute platzte sie in sein Leben und ließ sich

kaum mehr abwimmeln. Zugegeben, er dachte manchmal an sie. Dann war sie

präsent trotz Abwesenheit (und meistens in ausgesprochen unangenehmer Art und

Weise). Aber so wie heute, das kannte er nicht. Als hätte er nicht schon genug

Aufregung und mehr zu bewältigen, als er schaffte. Hau ab, Mathilda! Sie schaute ihn

nur triumphierend an. Ich gehe, wann ich will, zischte sie. Moss dachte nach, wie er

sie loswurde. Es gab eine bewährte Waffe: ein peinlicher Auftritt. Ganz entsetzlich

hatte Mathilda nach eigener Aussage unter den theatralischen Einlagen und

geschmacklosen komödiantischen Darbietungen ihres Mannes gelitten, die er in den

unpassendsten Momenten zum Besten gegeben hatte. Du bist der schlechteste

Schauspieler der Welt, hatte sie gesagt, und der Ekel hing ihr dabei dick und deutlich

in den Mundwinkeln. Nimm dies, Mathilda:

Good morning, ladies and gentlemen, this is your Captain speaking, Boss Moss.

Ein herzliches Dankeschön, dass Sie mit Kenya Airways fliegen. Gerade in diesen

Zeiten freuen wir uns über jeden Fluggast, der dazu beiträgt, dass unsere Airline

weiterhin Luft unter den Flügeln hat und Richtung Zukunft startet. Wie Sie bestimmt

wissen, macht die gegenwärtige pandemische Lage niemandem derart zu schaffen

wie der Luftfahrtbranche. Wir brauchen Ihre Unterstützung. Auf Sie kommt es an.

Gemeinsam sind wir stark. Leave no one behind. Hier zählt jeder. Jeder einzelne von

Ihnen trägt zu unser aller Höhenflug jetzt und künftig bei. Es zählt der Mensch.

Lassen Sie es sich gesagt sein: Wir fliegen gerne für Sie. Auch alle unsere

Ehefrauen und Kinder danken Ihnen. Bleiben Sie uns gewogen, bleiben Sie uns treu.

Ihre Kenia Airways sagt und meint: Auf Wiedersehen!

Moss ließ sich in seinem Liegestuhl zurückfallen. Mathilda war weg. Um ihn herum

war es finster, das Blut an der Wand in seinem Rücken war eins geworden mit der

Nacht. Er atmete laut ein und aus. Mbingu, rief er leise, Mbingu! Ich weiß, was dein

Name bedeutet: Himmel. Kann ich dich kurz sprechen?

Mbingu saß entspannt auf der Kante des Liegestuhls und kaute auf einem

Eibenzweig. Alle unsere Ehefrauen, Mann, das klingt ja nach einem bewegten

Leben, sagte er mit seiner rauen und zugleich weichen Stimme. Moss schnappte

nach dem Zweig. Das ist giftig, raus damit! Geschickt wich Mbingu aus. Er summte

eine Weile, als wäre er ganz bei sich und ungestört. Dann wandte er sich plötzlich an

Moss.

Also, was ist? Was willst du von mir? Meine Geschichte hören? Um sie

weiterzuerzählen? Um so zu tun, als bliebe irgendetwas von mir, von meinem

beschissenen Leben und meinem sinnlosen Tod? Hoffst du, endlich eine gute Story

zu haben? Denkst du, du kannst deine Mathilda damit beeindrucken? Vergiss es,

Mann. Sie ist weg. Es ist vorbei. Ihr seid geschiedene Leute. Egal, was du ihr sagst,

du bist alleine und du wirst alleine bleiben. Du hässliche alte Hyäne. Du dumme,

arme Seele.

Mbingu schwieg eine Weile. Er spuckte aus. Na gut. Hier kommt sie, wenig

erstaunlich für einen, der viel liest, schätze ich, für einen, der sich für alles

interessiert. Er lachte kurz, summte ein paar Töne, sprach dann weiter:

Wir mussten draußen schlafen, und es war ohne Ende verschissen. Mein Vater, der

ist vor zehn Jahren, was weiß ich, der war damals auf einmal weg. Keine Ahnung,

war der tot oder im Gefängnis, oder hat der sich noch eine Frau genommen und

weitere Kinder gezeugt? Um uns fünf durchzubringen, verkaufte meine Mutter

illegalen Schnaps und sowas, aber als wir dann draußen schlafen mussten, ging’s

nicht mehr. Ich hab gesagt, ich geh und such mir Arbeit und bin abgehauen. Was du

nicht weißt, Patrick Moss: Wir Kenianer sind oben geboren, näher am Himmel, wo

die Luft dünn ist. Wir brauchen weniger Sauerstoff und kommen in der Höhe gut

zurecht, von Geburt an, verstehst du? Es gibt eine ganze Reihe von uns, die auf

diese Weise schon nach Europa abgehauen sind. Ihr könntet das nicht, aber wir,

Mann, wir schaffen das. Höhe und Kälte, alles cool, kein Problem! Der einzige

Scheiß ist diese Enge in diesem Schacht, guter Gott, das glaubst du nicht. Und dann:

der Lärm. Es ist unfassbar laut, sobald die Triebwerke laufen. Der Lärm macht dich

echt fertig. Mbingu stockte. Und dann –

Dann?, fragte Moss und beugte sich vor. Was dann? Nichts. Stille. Mbingu hatte sich

in kühle, schwarze Nachtluft aufgelöst. Mbingu! Moss’ heißer Schädel pochte, und er

spürte ein Schluchzen von der Brust aufsteigen, und bevor er es unterdrücken

konnte, meldete sich seine eigene Stimme wieder zu Wort, gegen seinen Willen,

albern und aufgekratzt.

Noch einmal aus dem Cockpit ihr erster Offizier Boss Moss. Wir befinden uns jetzt

über Montpellier und werden in einer guten Stunde pünktlich in London landen. Viel

gibt es nicht mehr zu sagen, nur dies noch: Nach meiner vorigen Plauderei mag sich

einigen von Ihnen die Frage gestellt haben, wie viele Ehefrauen und Kinder Ihr

Captain Moss denn wohl hat. Nun, wenn auch die Vielweiberei dem Kenianer von

Amts wegen gestattet ist (der Kenianerin nicht, aber das soll uns nicht weiter kümmern), dem guten alten Europäer ist dies bekanntlich nicht vergönnt. Aber das ist

bei genauerer Betrachtung, lassen Sie sich das aus der laufenden Praxis berichten,

eigentlich gar kein Nachteil. Wir betreiben dasselbe, nur nacheinander, nicht

gleichzeitig. Mir persönlich ist das eigentlich auch angenehmer. Sie ahnen es schon,

Captain Moss hat nur eine Ehefrau, und auch von der ist er geschieden – all die

anderen Frauen musste er angenehmerweise nicht einmal heiraten! Kinder hat er

keine, soweit er weiß. Boss Moss lebt alleine, und wissen Sie was? Das ist das

Privileg des alten weißen Mannes, Betonung auf das. In Ruhe gelassen zu werden.

Und zu bekommen, was man will, wann man es will. Sagt Ihnen das Just-in-timePrinzip etwas? Es bedeutet: Keine Lagergebühren, keine Altbestände. Zulieferung

nur bei Bedarf. So ist übrigens auch dieses Flugzeug, in dem Sie gerade sitzen,

gebaut. Dieser Dreamliner ist ein weltweites Gemeinschaftsprojekt, seine Einzelteile

werden von Japan über Italien bis Deutschland hergestellt und in den USA montiert.

Geradezu ein Paradebeispiel für einen erfolgreichen ökonomischen

Produktionsprozess auf der Höhe der Zeit, der nur durch ausgezeichnete Verbindung

und Verständigung international und interkontinental möglich ist. Vergessen wir nie:

Es ist eine Welt. Und wir sitzen alle im selben Flugzeug.

Als Moss erwachte, bemerkte er die Decke, die jemand über ihn gelegt hatte. Ieva.

Was fiel ihr eigentlich ein. Für selbstständiges Handeln bezahlte er sie nicht! Moss

zog den leichten Stoff bis zum Kinn hoch und blickte in den dunkelblauen Himmel.

War es noch oder schon wieder die blaue Stunde? Er sah auf die Uhr. 4:20. Er

musste einige Stunden geschlafen haben. In ungefähr einer halben Stunde würde die

Sonne aufgehen. Moss schielte zum Loch im Rasen, das Mbingus toter Körper

geschlagen hatte. Es war nichts als ein leerer schwarzer Schatten. Moss’ Augen

brannten, aber er fühlte sich ganz leicht, als hätte er seinen Körper verlassen. Er

lauschte in den frühen Morgen und erkundigte sich stumm, ob jemand da sei, und

nach einer Weile antwortete ihm eine fremde Stimme: Nein, niemand.