Maurus Jacobs

"Und niemand kommt irgendwo an"

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Im Juni 1950 brach Giorgios Seferis, ein griechischer Diplomat und Dichter, aus Ankara auf. Mit einem Jeep fuhr er nach Westen in Richtung Küste, in eine Landschaft, die er Ionien nannte, obwohl sie längst anders hieß. Seferis hatte dort seine Kindheit verbracht, bevor die Familie 1914 nach Athen auswanderte. Wenig später entbrannte der Erste Weltkrieg; Griechenland und das Osmanische Reich standen auf gegnerischen Seiten. Als der Weltkrieg endete, versuchte Griechenland, Teile Kleinasiens zu besetzen, es folgte der Griechisch-Türkische Krieg, der bis 1923 währte und in einen gewaltigen, vertraglich besiegelten »Bevölkerungsaustausch« mündete. Hunderttausende Griechen und Türken wurden zwangsumgesiedelt.
Bei seiner Reise war Seferis 50 Jahre alt und seit über 35 Jahren nicht in seinem Geburtsort bei Smyrna gewesen, dem heutigen Izmir.
Die Fahrt dauerte mehrere Tage, und sie war mühsam, Seferis notierte Eindrücke ins Tagebuch: den Staub der Straße, der ihm die Brauen färbte; den nächtlichen Schmonzettenlärm eines Freiluftkinos; den Mangel an fließendem Wasser in den Hotels; den schalen Geschmack einer Seebrasse.
Aber er war nicht durchgehend schlecht gelaunt. Je näher er der Küste kam, desto mehr bezauberte ihn die anatolische Landschaft. Er staunte über die puderweißen, in Oleander gehüllten Hänge, die pinien- und fichtenbewachsenen Berge, er besuchte archäologische Stätten und ließ sich zerfallene Tempel zeigen. Schließlich, Anfang Juli, erreichte er die Stadt, die für ihn immer noch Smyrna war.
Knapp 74 Jahre später steige ich sehr früh am Morgen in den Fiat meiner Mutter und fahre schon bald durch eine ganz andere Landschaft: flach, maßlos, abgegrast. Die norddeutsche Provinz. Ich bin müde und verkatert, und anfangs lasse ich das Radio laufen, um wacher zu werden, bis mir das Gerede auf die Nerven geht. Während ich nach Norden über die A21 rolle, tauche ich stattdessen mein Gesicht durchs offene Fenster in den Fahrtwind. Es ist bewölkt, ein Tag am Ende des Winters, und ich kenne mein Ziel nur so ungefähr. Dass ich an Seferis wie an einen Vorläufer denke, ist Unsinn und natürlich aufgeblasen. Und doch tue ich es.
Seferis hatte bei der Rückkehr in seinen Geburtsort nichts von dem gefunden, wo-nach er suchte. Schon 1922 waren das griechische und das armenische Viertel in Flammen aufgegangen; sein Elternhaus war verschwunden. Ein befreundeter Diplomat, der Seferis auf der Reise begleitete, erzählte, dass die Griechen behaupteten, die Türken hätten Smyrna abgebrannt, während die Türken sagten, es seien die Griechen gewesen, »wer weiß, wie es wirklich war?« Es war nicht die Schuldfrage, die Seferis interessierte, und so schwieg er.
Am nächsten Morgen stand er am Fenster seines Hotels und sah in der Ferne den Golf von Izmir. Ins Tagebuch schrieb er: »Smyrna hat seinen Schatten verloren, wie die Geister.«
Doch er war noch nicht am Ende seiner Reise. Etwa sechzig Kilometer entfernt wartete Skala, ein Küstenort, wo Seferis’ Familie ein Haus besessen und wo er als Kind die Sommer verbracht hatte. Anders als Smyrna wurde Skala während des Kriegs nicht zerstört, hier gab es tatsächlich etwas wiederzuentdecken. In seinen Notizen scheint Seferis darüber erleichtert und zugleich betroffen. »Die Veränderungen machen mir heute nicht so viel aus wie gestern in dem entstellten Smyrna«, schrieb er. »Ich bin ganz beschäftigt mit dem Aussehen von Skala.«
Nichts ist nüchtern an seinem Blick, obwohl Seferis um Nüchternheit bemüht war: Die Häuser sahen ihn an »wie kranke Tiere«, das Meer lag in »albtraumhafter Regungslosigkeit«, Skala glich der »toten Gestalt eines jungen Mädchens«. Das Haus der Familie fand er mit zerbrochenen Scheiben und »leprösen« Mauern, spähte ins Innere und erkannte nur die Trennwand zum Esszimmer. Dann suchte er vergeblich die Initialen, die er als Kind in eine der Mauern geritzt hatte, und war glücklich, dass im Garten wenigstens ein Maulbeerbaum noch lebte. »Ich weiß, dass eine Krise bei mir eintreten wird«, schrieb er, »dass ich selbst sie unüberlegt in die Wege geleitet habe; dass ich vielleicht sogar die Toten provoziert habe, eine Verletzung der Natur der Dinge, ein schamloses Handeln.«
Am nächsten Tag machte er sich auf den Rückweg.
Im Fiat meiner Mutter auf leerer Autobahn muss ich an Seferis denken, weil ich meine Reise – obwohl sie unhistorischer, viel kürzer und vielleicht banaler ist – aus einem ähnlichen Antrieb unternehme wie er. Ich will ein bestimmtes Haus suchen, den Ort einer Katastrophe für meine Familie, eines Ereignisses, über das ich hier nichts weiter sagen werde, nur das eine: dass es aus meiner Sicht – und mir wird da durchaus widersprochen – eine Katastrophe aus Zufall war, etwas völlig Grundloses, weder vorherzusehen noch zu verhindern. Ein großes Unglück.
Ich war vier Jahre alt, als wir aus dem Haus auszogen, seitdem bin ich nicht dort gewesen, und ich hätte zwar meine Mutter nach der Adresse fragen können, aber sie soll nichts von der Reise wissen, nicht mal, dass ich überhaupt noch an das Haus denke. Ich habe mir vorgenommen, es auf eigene Faust zu finden, ohne Google und nur geleitet von ein paar blassen Erinnerungen, denen natürlich nicht zu trauen ist.

*

Nach dem Tod von Alice Munro schlug ich eins ihrer Bücher auf und blätterte durch die Erzählungen. Jahre zuvor hatte ich sie schon einmal gelesen, nun wanderten meine Augen über diesen und jenen Absatz, ohne dass ich mich an etwas erinnerte. Ich starrte auf meine Unterstreichungen und Bleistiftanmerkungen; sie kamen mir vor wie die eines Fremden. Schließlich las ich die Erzählung Schweigen von Anfang bis Ende, weil mein siebzehnjähriges Ich in diesem Text besonders wild herumgemalt hatte.
Die Hauptfiguren in Schweigen sind eine Mutter und ihre erwachsene Tochter, Juliet und Penelope, wobei Penelope von Anfang an abwesend ist und es bis zum Ende bleibt. Sie hat sich mit zwanzig aus dem Leben ihrer Mutter hinausgeschlichen, zuerst durch eine sechsmonatige Klausur in einem dubiosen spirituellen Zentrum auf einer Insel im kanadischen Südwesten, dann an Orten, über die Juliet nichts weiß: Sie weiß nicht, wo ihre Tochter ist, und sie weiß nicht, warum ihre Tochter den Kontakt abgebrochen hat. Die nächsten Jahre verbringt sie damit, auf ein Zeichen von Penelope zu warten. Hin und wieder kommen seltsame Postkarten ohne Unterschrift.
Juliet durchkämmt ihre Erinnerungen, sucht nach Hinweisen oder Erklärungen. Ihr fällt die scheinbare Leichtigkeit ein, mit der Penelope als Dreizehnjährige den Tod ihres Vaters verwunden hat, obwohl die beiden sich nahestanden. Ihr fällt ein, wie sie selbst in der folgenden Zeit ihren Kummer bei Penelope abgeladen hat.
Nach fünf Jahren bleiben die Postkarten aus. Juliet wechselt den Job, zieht in eine andere Wohnung, lernt jemanden kennen, liest obskure Bücher aus dem alten Griechenland. Wie so oft in Munros Erzählungen vergeht die Zeit beiläufig, man merkt es kaum, bis plötzlich ein halbes Leben vorbei ist.
Durch eine Begegnung mit einer früheren Freundin von Penelope erfährt Juliet, dass ihre Tochter mittlerweile fünf Kinder hat und im Norden Kanadas lebt, vielleicht in Whitehorse oder Yellowknife. Einen Moment lang spielt sie mit dem Gedanken, hinzufahren und nach Penelope zu suchen. »Aber so verrückt war sie nicht«, heißt es im Text. »So verrückt durfte sie nicht sein.« Beide Sätze hatte ich unterstrichen.
Die Erzählung endet mit einem Monolog, Juliet denkt darüber nach, wie sie einem Mann ihre Vergangenheit erklären könnte, doch sie lässt die Worte ungesagt: »Meine Tochter ist fortgegangen, ohne sich von mir zu verabschieden, und wahrscheinlich wusste sie damals gar nicht, dass sie fortging. Wusste nicht, dass es für immer war.« Und: »Weißt du, wir haben immer die Vorstellung, dass es diesen und jenen Grund geben muss, und wir bemühen uns immer, die Gründe für alles herauszufinden.«
Den ganzen Absatz hatte ich mit einem gewaltigen Ausrufezeichen markiert, und tatsächlich erinnerte ich mich beim Wiederlesen an meine Aufregung von damals. Was ich vergessen hatte: Trotz ihrer Abgeklärtheit hofft Juliet weiter auf eine Nachricht von Penelope. Sie kann nicht anders und hofft, wie es im letzten Satz der Erzählung heißt, »wider besseres Wissen«. Eine leise, unvernünftige Hoffnung.
In einem Artikel über Alice Munros Notizbücher beschreibt Benjamin Hedin den Entstehungsprozess einer anderen Erzählung, Miles City, Montana. Darin gibt es eine Szene, in der ein kleines Kind beinahe ertrinkt, es kann jedoch gerettet werden. In Entwürfen zu der Geschichte lässt Munro ihre Erzählerin daraufhin an eins ihrer Kinder zurückdenken, das kurz nach der Geburt gestorben ist. Doch in der endgültigen Fassung kommt es nicht vor.
Munro selbst hatte 1955 ein Kind verloren, Catherine, sie starb vierzehn Stunden nach der Geburt an Nierenversagen. Immer wieder finden sich in Munros Notizbüchern fragmentarische Hinweise auf dieses Erlebnis; das Bild eines toten Neugeborenen in einem Schuhkarton taucht in verschiedenen Skizzen auf. Allerdings in keinem einzigen veröffentlichten Text. Dort hat Munro die reale Erinnerung jedes Mal getilgt.

*

In einem Vorort von Kiel parke ich den Fiat am Straßenrand und steige aus. Ich stehe vor einer Neubausiedlung, sicher, dass sie früher nicht da gewesen ist. Angehalten habe ich, weil es mir scheint, dass ich einen Hügel wiedererkenne, eher ein Hügelchen, mit einer einzigen Pappel auf der Kuppe.
Meine Mutter hatte mir einmal erzählt, dieser Hügel – falls er es war – sei eine Moräne, ein Überbleibsel aus der Eiszeit, von einem Gletscher hingeschoben. Die Vorstellung hatte mich beeindruckt und das Wort sich mir eingebrannt; immer wenn wir an dem Hügel vorbeikamen, wiederholte ich es anerkennend: »Moräne.«
Unser altes Haus muss ganz in der Nähe sein, denke ich jetzt.
Ich gehe durch die schnurgeraden Straßen der Siedlung, im Kopf das blödsinnige Echo eines Seferis-Verses: »Mit Häusern kenne ich mich nicht sehr gut aus.« Tatsächlich sagen mir die Häuser nichts, sie sind zu jung. Klinkerfassaden, Schotterbeete, Ligusterhecken. Ich erkenne nichts wieder, und schließlich steige ich – verärgert und frierend – auf den Hügel. Vielleicht lässt sich von oben etwas ausmachen.
Im Oktober 1950 brach Seferis ein zweites Mal aus Ankara auf, wieder in die Landschaft seiner Kindheit. Offenbar hatte ihn die Erinnerung daran nicht losgelassen. Er hatte einen uralten Reiseführer dabei, Murray’s Handbook, und während er durch die zerstörte Stadt streifte, glich er das Neue mit dem Alten ab. Vergessenes bedrängte ihn, machte ihm Angst; noch immer fühlte er sich der Stadt tief verbunden. Was ihn beherrsche, schrieb er, sei nicht Hass, sondern das Bedürfnis, den Mechanismus der Katastrophe zu fassen.
Dem Anschein nach gelang es ihm dann, so etwas wie Frieden zu schließen: »Dieser Aufenthalt in Smyrna ist das Ende eines Kreises, der in den letzten Jahren meiner Kindheit seinen Anfang nahm«, notierte er. »Von jetzt an gibt es weder Aufbruch noch Ankunft. Es gibt nur die Welt hier und anderswo, so wie die Welt eben ist, und niemand kommt irgendwo an.«
Nur war die Sache weniger endgültig als gedacht. Eine knappe Woche später, schon auf der Rückreise, rückte ihm die Vergangenheit auf den Leib: »Heutzutage ist man es gewohnt, über Kriegskatastrophen zu reden«, schrieb er. »Aber es wiegt viel schwerer, wenn du in deinem Innern den plötzlichen, vollständigen Untergang einer überaus lebendigen Welt mit dir herumträgst, mit ihren Freuden und ihrem Trauern, mit dem dichten Netz des Lebens.«
Ich stehe auf der Hügelkuppe unter der Pappel und blicke auf das eiserne Raster der Neubausiedlung. Auch von dort erkenne ich nichts, natürlich nicht, ich bin nicht mal sicher, ob ich in die richtige Richtung gucke. Das Haus kann längst abgerissen sein. Einen Augenblick überlege ich, meine Mutter anzurufen und sie zu fragen, aber was sollte ich ihr sagen.
Mir fällt ein, dass Oliver Sacks in einem seiner zwischen Fallgeschichte und Literatur angesiedelten Berichte über einen Maler geschrieben hat, der nichts anderes malte, nichts anderes malen konnte, als das italienische Dorf, aus dem er in seiner Kindheit von den Nationalsozialisten vertrieben worden war. Mit nahezu übermenschlicher Präzision beschwor er von seinem kalifornischen Exil aus die Einzelheiten einer verlorenen Welt. Noch Jahrzehnte später sprach er über kaum etwas anderes als sein Heimatdorf. Auch er machte schließlich eine Reise und besuchte den Ort seiner Kindheit. Die Erinnerungsmalerei ging danach ungebrochen weiter.
Mein Gedächtnis ist schlampiger. Weniger Ballast, denke ich. Und finde es tröstlich, dass die eiszeitliche Landschaft der unbeseelten Wohnanlage und meinem bisschen Trauer trotzt.
Ein Schaubild in einer Zeitschrift kommt mir in den Kopf: die ebbinghaussche Kurve, auch Vergessenskurve genannt. Sie stammt von einem deutschen Psychologen, der versuchte, den Prozess des Vergessens in einen schlichten Graphen zu übersetzen, und ich fand sie einigermaßen krude und nichtssagend. Trotzdem muss ich an die Kurve denken, während ich den Hügel hinabsteige.
Ich stelle mir vor, dass ich mit jedem Schritt ein wenig Ballast abwerfe, und dabei werde ich schneller. Meine Beine holen aus. Die Ferse spürt den Grund. Wer tritt hier auf der Stelle? Im Irgendwo von Ankunft keine Rede. Ich fange an zu rennen.