Marion Poschmann
Laubwerk
Indian Summer
In den Neuenglandstaaten und Kanada machen sich jedes Jahr im Herbst unzählige Menschen auf in die Wälder, um die Laubfärbung zu sehen. In dieser Weltregion färben sich die Bäume in allen Schattierungen von Grün zu Gelb und Orange zu Rot. Insbesondere der Zuckerahorn kann bei günstigen Witterungsbedingungen ein flammendes Rot ausbilden, und landesweite Laubvorhersagen weisen die Laubschauer darauf hin, an welchen Orten zu welchem Zeitpunkt der farbliche Höhepunkt stattfindet.
Leaf peeping in Nordamerika ist konnotiert mit Freiheit, weiten Räumen, Abenteuer und wilder Natur. Man fährt in die Berge, man fährt über Land, man verbindet sich mit den Wäldern und der Witterung, man hat teil an der Schönheit des Landes. Insofern handelt es sich um mehr als einen einfachen Ausflug. Unvermeidlich findet auf einer solchen Tour eine Sensibilisierung statt. Wer nach rotem Laub Ausschau hält, würdigt auch andere Farbphänomene, sieht orangene Kürbisse, violette Beeren, selbst rötliche Hölzer mit anderem Blick.
Momijigari
In Ostasien hat die Bewunderung des Herbstlaubes eine tausendjährige Tradition. Wenn sich der Japanische Ahorn im Herbst orange, karmesinrot oder magenta färbt, zieht es die Laubbetrachter in Massen zu den berühmtesten Tempelgärten des Landes, und jedes einzelne Ahornblatt wird ausgiebig von allen Seiten fotografiert. Rotes Ahornblatt auf einem Moospolster. Knallroter Ahorn, gespiegelt im Teich. Roter Ahornzweig vor dem Berg Fuji. Nach Einbruch der Dämmerung werden die Bäume vielerorts illuminiert, und Paare im Kimono wandeln unter den bunten Kronen, bis das Laub schließlich fällt.
Momijigari, die Laubschau in Japan, ist konnotiert mit einer überaus verfeinerten Ästhetik, hoher Bildung und einem spirituellen Bezug zu den Erscheinungen der Jahreszeiten. Wer rote Blätter betrachtet, steht in einer Reihe mit den hochstehenden Persönlichkeiten vergangener Jahrhunderte, die irgendwann begannen, das rote Herbstlaub der spektakulären Kirschblüte vorzuziehen, um damit ihren exquisiten Geschmack zu beweisen.
Alleinstellungsmerkmal
Der Laubtourismus ist in Asien und in Amerika eine wichtige Einnahmequelle. Es gibt Rankings der besten Orte, es gibt Pauschalreisen ab Frankfurt am Main, es gibt einen amerikanischen Versandhandel, der einzelne gepreßte Herbstblätter für etwa 20 Dollar das Stück in alle Welt versendet. Zu den entsprechenden Zeiten im Jahr sind Hotels in der Regel ausgebucht. Doch selbst für Frühbucher gibt es keine Garantie, das Herbstlaub zur besten Zeit zu erwischen, denn der Höhepunkt unterliegt klimatischen Schwankungen, er kann sich um Wochen verschieben, man kann ihn nicht weit im Voraus einplanen, er ist ein Glück.
Nur wenige Regionen auf unserem Planeten verfügen überhaupt über laubfärbende Bäume. Große Teile des irdischen Waldes bestehen aus immergrünem Regenwald, aus Nebelwäldern, aus Lorbeerwald, aus Eukalyptuswald, aus borealem Nadelwald. Ein Farbwechsel der Blätter entsteht nur beim sommergrünen Laubwald. Nennenswerte Herbstlaubvorkommen finden sich daher ausschließlich in der gemäßigten Klimazone von Europa, Ostasien und der Osthälfte von Nordamerika.
Herbstlaub
Erstaunlich ist unter diesen Bedingungen, daß bei uns in Europa von der Laubfärbung keinerlei Aufhebens gemacht wird.
Wenn man ein Stichwort wie „Herbstlaub“ googelt, geht es in erster Linie um die Räumpflicht, um gefährlich rutschiges Laub auf nassen Bürgersteigen, um Nachbarschaftsstreitigkeiten, weil sich das fallende Laub nicht an Grundstücksgrenzen hält, es geht um geeignete Laubbläser und Entsorgungsfragen. Herbstlaub ist unerwünscht, stört den Tagesablauf und enthält allergieerregende Schimmelpilze. Hinweise auf gute Baumfarben in Deutschland werden ausschließlich von Amerikanern gepostet. Amerikaner schwärmen von herbstlichen Fahrten durchs Rheintal oder von Wanderungen in den hessischen Märchenwäldern. Sie sind beeindruckt vom konstant schwarzfärbenden Schwarzwald und haben einen Blick für die feinen Abstufungen von Gelb, die in unseren Breiten tatsächlich einmalig sind.
Goldener Oktober
In Deutschland färben sich die Bäume auffällig und atemberaubend, aber sie färben sich für gewöhnlich nicht in jenem Blutrot, das das Adrenalin in die Höhe schießen 3 läßt. Sie üben nicht die Signalwirkung aus, die wir sonst mit roten Ampeln und Stoppschildern verbinden. Sie sind prächtig, aber sie verfügen über ein kleineres Spektrum. Sie bleiben gewöhnlich im gelben Bereich.
Die Rotbuche variiert von gelb zu rotorange bis rotbraun, die Birken schimmern hellgelb bis goldgelb, die Stieleiche wird samtgelb bis ocker. Kastanien, Ahorne, Ulmen, Linden, Eschen, Erlen, alle weisen spezifische Gelbtöne auf, die zu Gold werden, wenn das Licht im richtigen Winkel einfällt. Dies ist im Oktober häufig der Fall. Merkwürdigerweise ist dieser Goldene Oktober, ein Prunkphänomen unserer Witterungsbedingungen, keineswegs so populär, wie er sein könnte.
Der Goldene Oktober in Deutschland ist verbunden mit Wanderungen in Weingegenden und mit dem Münchner Oktoberfest, also quasi unauflöslich an Alkoholkonsum gekoppelt. Der Goldene Oktober benötigt eine Infrastruktur von Biertischen und lauschigen Lauben, benötigt deftige Mahlzeiten und Feierlaune, um überhaupt zur Geltung zu kommen.
Sind also, und das ist die Leitfrage dieses Vortrags, sind rote Blätter besser als gelbe?
Straßenbäume
Ein Baum kann als ästhetisches Phänomen betrachtet werden, aber ebensogut als Ausdruck der historischen, politischen, geographischen, ökologischen Bedingungen seines Standorts.
Straßennamen wie Kastanienallee, Pappelallee oder Birkenstraße verweisen auf die Baumart der Erstbepflanzung. Nicht immer ist von den namensgebenden Bäumen heute noch besonders viel zu sehen, aber bei einem Gang durch die berühmte Prachtstraße Unter den Linden kann es eine gewisse Befriedigung auslösen, wenn dort tatsächlich Linden wachsen, im Sommer ihren unvergleichlichen Duft verströmen und ihren Anteil zur Berliner Luft beitragen.
Die Linde gilt seit Jahrhunderten als beliebter Stadtbaum, und die Vielzahl an Berliner Linden legt davon Zeugnis ab. In neuerer Zeit sieht man an ihnen einige Nachteile. So tropft im Sommer von den Linden Honigtau und verklebt die Scheiben der Fahrzeuge, die unter den Bäumen parken. Von Kastanien fallen harte Früchte auf Autos, Obstbäume ziehen im Spätsommer Wespen an und hinterlassen auf den Bürgersteigen rutschiges Fruchtmus.
Wichtig ist für Stadtbäume, daß sie den Verkehr nicht behindern, die Sicht nicht versperren und nicht zuviel Licht schlucken. Ein guter Straßenbaum ist unempfindlich gegen Abgase, er kann Klimaschwankungen tolerieren, er ist robust.
Rotmode
Ich habe mich seit einigen Jahren mit dem Zustand der Berliner Straßenbäume beschäftigt, und auffällig ist, daß zunehmend Bäume in der Stadt gepflanzt werden, die im Herbst eine dekorative Rotfärbung zeigen.
Im Berliner Regierungsviertel beispielsweise hat man einige Reihen von Eichen neu angelegt. Die Eiche gilt bekanntlich seit der Märzrevolution als Nationalsymbol, und im Bild des Eichenlaubs präsentieren sich Werte wie Einheit, Beständigkeit und Treue. Es handelt sich bei diesen Eichen allerdings nicht um die Stieleiche, auch „Deutsche Eiche“ genannt, sondern um die Sumpfeiche (Quercus palustris). Die Sumpfeiche stammt aus Nordamerika, und ihre Blätter leuchten im Herbst in flammendem Scharlachrot. Allerdings fand man in Berlin den Namensbestandteil „Sumpf-“ für das Regierungsviertel nicht so passend. Kurzerhand hat man diese Baumart in „Spree-Eiche“ umbenannt, weil sie in Spreenähe steht. Zugleich wird diese amerikanische Eiche damit eingemeindet, denn unter „Spree-Eiche“ wird man sich zunächst eine heimische Baumart vorstellen.
Rotmodus
Jene Bäume, die zum Rotmodus fähig sind, eignen sich hervorragend als Schmuckbäume, aber sie eignen sich auch als Indikatoren für ökologische Prozesse.
Seit einigen Jahren nehmen die Sommerhitze und die Trockenheit zu. Speziell für die Stadtbäume werden die Bedingungen extremer, und die Gartenbauämter prüfen neue Baumsorten auf ihre Eignung als Straßenbaum. Da sowohl in Nordamerika als auch in Ostasien in den Sommermonaten höhere Durchschnittstemperaturen herrschen als bei uns, hofft man, mit Bäumen, die aus diesen Regionen stammen, Straßenbäume zu gewinnen, die den Klimaveränderungen auch in den kommenden Jahren standhalten können. Je mehr rotfärbende Bäume, ließe sich pauschalisieren, desto wärmer wird es oder ist es schon geworden. Der Rotmodus auf den Stadtstraßen also ein Alarmsignal? Wenn man die aktuellen Publikationen zum Thema Straßenbäume liest, ist von Panik nichts zu spüren, wohl aber strengt man jahrzehntelange Testreihen für den Straßenbaum der Zukunft an, der euphemistisch „Klimabaum“ genannt wird und als Warenzeichen eingetragen ist. Damit reagiert man auf Veränderung, als sei das ein naturgegebener Prozeß. Man stellt als Flexibilität dar, als Offenheit für Neues, was in Wahrheit die Suche nach den einfachsten und billigsten Lösungen ist, keine Auseinandersetzung mit den Ursachen, kein nachhaltiges Konzept. Wer vorgibt, sich an den Klimawandel anzupassen, verschafft sich ein dynamisches, zeitgenössisches Image. Mitnichten aber stellt sich die Stadtplanung auf den Klimawandel ein, mitnichten werden Versuche unternommen, Städte so zu bauen, daß die alten Stadtbäume weiterhin existieren können. Eine Stadt mit reduziertem Auto-Individualverkehr, weniger Hitzestaus, weniger zubetonierter Enge wäre auch für ihre menschlichen Bewohner wünschenswert. Stattdessen sucht man nach Baumarten, die solche Bedingungen tolerieren.
Großstadtgefahren
Der letzte Straßenbaum-Zustandsbericht Berliner Innenstadt von 2015 zeigte bereits einen bedenklichen Befund. Stadtbäume leiden generell unter Witterungsstreß, Hundeurin und Tausalz. Sie sind von Pflanzfehlern beeinträchtigt, von Bodenversiegelung, die ihre Nährstoffversorgung mindert, von Bauarbeiten, die ihre Wurzeln aufgraben, sowie von Verkehrsunfällen mit Baumkollisionen.
Der nächste Berliner Bericht erscheint erst Anfang 2021, aber mittlerweile scheint deutlich, daß praktisch keine der gängigen Straßenbaumarten überlebensfähig ist. Sommerlinde, Spitz- und Bergahorn können den Trockenstreß nicht kompensieren, die Platane leidet an Massaria, einer Krankheit, die dazu führt, daß Äste abbrechen, so daß die Verkehrssicherheit nicht gewährleistet ist, die Roßkastanie ist von der Miniermotte befallen, und das Eschentriebsterben, ausgelöst von einem Pilz mit dem harmlos klingenden Namen Eschenstengelbecherchen, läßt gegenwärtig befürchten, daß die Esche landesweit (europaweit?) verschwinden wird wie vor 100 Jahren die Ulme.
Nun wird erforscht und in Feldversuchen getestet, welches neue sogenannte „Sortiment“ sich für mitteleuropäische Städte eignen würde. Heutzutage heißen Bäume „erfolgreich“, wenn sie an ihrem Standort überleben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Berliner Baumbestand auf rund 160.000 Exemplare dezimiert. Mittlerweile hat man den Vorkriegsbestand von rund 411.000 Bäumen kontinuierlich wieder aufgebaut. Allerdings vermittelt diese Summe einen falschen Eindruck, denn gerade ältere Bäume sind stärker geschädigt als junge. 6 Daten, Zahlen, Fakten: 2.000 junge Bäume ersetzen ökologisch einen alten. 2.000 Jungbuchen leisten im Hinblick auf Wasserhaushalt, Luftqualität und Feinstaubfilterung ebenso viel wie eine 100-jährige Buche. Wenn also 400.000 alte Bäume mit 400.000 jungen Bäumen statistisch keineswegs zu vergleichen sind, sind Neupflanzungen nur ein Teil der Lösung. Man sollte nicht Baumexemplare gegeneinanderhalten, sondern die Größe und Dichte der Kronen, die jährlich vorhandene Menge an Laub.
Baumbeschwörung
Das Blattwerk oder Laubwerk, auf französisch feuillage, englisch leaf, italienisch ornato a foglia, spielte über Jahrhunderte eine zentrale Rolle in der Ornamentik. In der Architektur der Antike fand sich Blattwerk an den Säulen(kapitellen) und veranschaulichte damit die Konstruktion, unterstrich die Stützfunktion der tragenden Elemente, behauptete die Ähnlichkeit zum Baum mit seinem Stamm und dem Blätterdach, brachte die Anmutung des heiligen Hains in den Tempel und später in die Kirchen. Man unterscheidet in der Baukunst Blattwerk, das struktiv, also zum Aufbau gehörend, verwendet wird, und solches, das vorrangig zur Dekoration dient und auf gefällige Weise neutrale Flächen ausfüllt. Noch heute ist dekoratives Blattwerk in unseren Städten allgegenwärtig, es schmückt Fassaden, Sockel und Gitter, man findet es auf Möbeln, Besteck und Geschirr. Doch keineswegs wird damit das Bedürfnis befriedigt, sich die Natur ins Haus zu holen, wie wir es heutzutage mit Zimmerpflanzen versuchen. Vielmehr bleibt es das heimliche Ziel solcher Dekoration, den belaubten Gegenstand wieder zu sakralisieren.
Auch in der Buchkunst kommt dem Blattwerk die Aufgabe zu, den Text nicht nur zu zieren, sondern ihn zu einem geistigen Garten zu machen, zu einem paradiesischen Bereich, dem Raum der Schrift.
Blattmasken
Rankenwerk um Initialen, Illuminationen aus Zweigen, aus Bäumen – das Blattwerk, zunächst wohl der Natur abgeschaut, wird im Laufe der Geschichte immer wieder zu einem Ornament, das aus eigenen Formgesetzen heraus selbständig wuchert, das abstrahiert und reduziert oder im Gegenteil angereichert und vervielfacht wird und immer wieder einen Punkt erreicht, an dem es Pflanzliches nur mehr symbolisiert, die bloße Idee eines Baumes andeutet, stilisierte Bäume zu phantasmagorischen Wesen entwickelt. Diese Bäume verweisen weniger auf die Bäume im Wald als auf den 7 Baum der Erkenntnis – während der mit Laub dekorierte Mensch nicht etwa zum Weisen, sondern zum Wilden Mann mutiert, zur Blattmaske, einem Gesicht, dessen Haar- und Bartwuchs durch Blätter ersetzt sind; aus dessen Mund Blätter quellen; ein Gesicht, das sich im Wald verbirgt, das in der Wildheit aufgeht.
Baumstruktur
Nach der Rezeption von Noam Chomskys Sprachtheorie, die die „Idee einer angeborenen Sprachfähigkeit“ vertritt, wonach „universale Regeln der Satzkonstruktion (…) es ermöglichen, Sätze ins Unendliche zu generieren“ (Harald Hartung, FAZ), empfand die dänische Dichterin Inger Christensen die „unbeweisbare Gewißheit, daß die Sprache die unmittelbare Verlängerung der Natur ist. Daß ich dasselbe Recht hatte zu sprechen, wie der Baum, Blätter zu treiben.“ 1 Auf dieser Grundlage konstruierte sie ihr Langgedicht „Alphabet“, in dem sich Linguistik und Biologie, mathematische und musikalische Strukturen, Einzelheit und Masse zu einem kosmologischen Gebilde fügen, das mit der Zeile anhebt: „Die Aprikosenbäume gibt es, die Aprikosenbäume gibt es.“
Der Aufbau dieses Gedichts mittels Fibonacci-Folge und Permutationen ist angelehnt an die Baumstruktur, wie sie in Mathematik, Logik und Informatik eingesetzt wird. Ihr kommt dabei zugute, daß der Baum in diesen Bereichen bereits als abstrahiertes Ordnungselement eingesetzt wird, als Baumdiagramm etwa in Form des Wahrheitsbaums oder des Entscheidungsbaums, und daß es eine Figur ist, mit der sich auch größere Datenmengen bewältigen lassen. In der Graphentheorie spricht man von ungerichteten und gewurzelten Bäumen, von Out-Trees und In-Trees, und bestimmte Komplexe solcher graphischen Bäume bilden einen spannenden Wald.
Baumbilder
Die schiere Masse an Wörtern, die sprachliche Fülle aufgefaßt als Laub?
Das Wachstum der Natur enggeführt mit dem schöpferischen Potential der Sprache? Die Rede über Bäume spiegelt in der Regel besonders deutlich das grundsätzliche Problem der Benennung von Welt. Der Baum mit seinem wogenden Laub bleibt stets ein Geheimnis, er bleibt das Unerkennbare und Unbeschreibliche, der Gegenstand, an dem die Sprache scheitert.
Daher nützt es kaum, einen Baum minutiös zu beschreiben. Ein Blatt, ein weiteres Blatt, noch eins und noch eins? Müßte ich nicht jedes einzelne Blatt aufzählen, auch die Blätter, die von anderen Blättern verdeckt sind?
In der Malerei gibt es gängige Techniken, um die Illusion von Blättern zu erzeugen. Dabei kommt es darauf an, das Laub summarisch zu behandeln und seine Vollständigkeit nur anzudeuten. Der Betrachter ergänzt eine massenhafte Wiederholung von Einzelheiten zu einer Vorstellung von Fülle.
Im Medium der Sprache gibt es für diese Technik kein befriedigendes Äquivalent. Wiederholungen und geringfügige Modifikationen langweilen schnell. Abkürzende Darstellungskonventionen sind allenfalls die Namen der Baumarten. Eine Buche. Eine andere Buche. Eine Rotbuche. Diese Namen können nur dann ein Vorstellungsbild hervorrufen, wenn man schon vorher weiß, wie der Baum aussieht.
Naturdichtung
In der klassischen Lyrik bildet der Baum in der Regel die stimmungsvolle Kulisse für menschliche Gefühlslagen. Leid und Freude, Abschied oder Einsamkeit haben ihre typischen Bäume, unter denen sie sich am besten entfalten können, weil der kulturelle Kontext einen Zusammenhang stiftet. So ist die Linde zuständig für die Themenbereiche Liebe und Heimat, die Eiche für Beständigkeit und Politik. Die Buche, die im Herbst rötlich tendiert, verweist auf fieberhaften Trennungsschmerz, der blühende Obstbaum in seiner pergamentenen Durchsichtigkeit flankiert Erlebnisse aus dem Bereich der Mystik.
In der Lyrik wimmelt es von Baumgedichten, es gibt unzählige Texte über Eichen, Linden, Eschen, Birken, Buchen, um nur die deutschen Standardbäume zu nennen. Je näher man sich diese Texte jedoch anschaut, desto deutlicher wird, daß der Baum als reines Stimmungselement fungiert. Er wird aufgerufen, nicht evoziert, er ist ein Modul im romantischen Baukasten, er tritt mit seinem sagenhaften Laubwerk genaugenommen kaum in Erscheinung. Aber er prägt die Atmosphäre des Gedichts, es reicht, eine bestimmte Baumart aufzurufen, um eine emotionale Atmosphäre zu schaffen.
Deutscher Wald
Nun ist es tatsächlich so, daß Bäume Atmosphäre erzeugen, und zwar jede Art eine spezifische, abhängig von Bodenverhältnissen und Symbionten, das sogenannte Kleinklima.
Wird sich mit dem Wandel des Weltklimas auch das Klima in der Kunst verändern? Wird ein gravierend veränderter Baumbestand in unseren Breiten Auswirkungen haben auf Gefühlslagen, auf Verfahren?
In der Gegenwartskunst scheint die besondere Atmosphäre einzelner Baumarten längst verzichtbar, die Dorflinde etwa ist kein Lebensmittelpunkt mehr, und die psychisch bewegenden Situationen spielen sich seltener unter Bäumen ab.
Die Wissenschaft geht schon seit Jahren davon aus, daß ein großangelegter Austausch von Bäumen unvermeidlich ist, und es mag durchaus eine Zunahme an Diversität bedeuten. Aufgrund der letzten Eiszeit verfügt Europa, im Vergleich etwa zu Nordamerika, um eine signifikant geringere Anzahl an Baumarten. Mit den neuen Klimabäumen würde hier aufgestockt, und im Gegenzug könnten die Gewächse, die für die markantesten Klischees im Bereich der Kultur verantwortlich sind – die Deutsche Eiche, die russische Birke, die Tanz- und Gerichtslinde, die hohen Tannen – unauffällig verschwinden.
Baumwahrnehmung
Der Dichter Rainer Maria Rilke schildert in seinem kleinen Prosatext „Erlebnis (I)“, wie sich der Protagonist, ein namenloser „er“, an einen Baum lehnte, und dann so, „völlig eingelassen in die Natur, in einem beinah unbewußten Anschaun verweilte. (…) Es war, als ob aus dem Innern des Baumes fast unmerkliche Schwingungen in ihn übergingen; (…) er meinte, nie von leiseren Bewegungen erfüllt worden zu sein, sein Körper wurde gewissermaßen wie eine Seele behandelt (…)“.
Der hier berichtet, tastet nach Worten, die diesem Erlebnis gerecht werden könnten, und er findet schließlich, „er sei auf die andere Seite der Natur geraten. Wie im Traume manchmal“, so wird eine Erklärung gesucht, oder „genau wie ein Revenant, der, schon anderswo wohnend, in dieses zärtlich Fortgelegtgewesene wehmütig eintritt, um noch einmal, wenn auch zerstreut, zu der einst so unentbehrlich genommenen Welt zu gehören“.
Naturästhetik
Es ist vielleicht dieses Gefühl, daß der Verlust schon längst eingetreten ist, das der Debatte um den Klimawandel einerseits einen krampfhaften Fortschrittsoptimismus im Sinne der Ecotechnology, andererseits einen Anstrich von Hoffnungslosigkeit beifügt.
Bodenversiegelung, Straßenbegleitgrün, Starkastbereich, Baumkataster – diesen recht nüchternen Begriffen aus dem Bereich der Stadtbaumpflege steht die ökonomische Metapher des unbegrenzten Wachstums gegenüber, angewendet auf eine Wirtschaftsentwicklung, die letztlich die Sehnsucht nach dem Unendlichen befriedigen soll, nach der romantisch aufgefaßten Natur.
In der kapitalistischen Welt verengt sich der Raum zunehmend durch ungezügeltes Wachstum. In der Kunst kann eine Weitung entstehen: Der euklidische Raum wird in einen geistigen Raum überführt. Dies ist auch die Freiheit, die die Romantiker anvisierten, als sie das Denken in geschlossenen Systemen aufgaben, als sie sich ins Offene wandten.
Wenn wir die Natur bewahren und eine ökologische Katastrophe verhindern wollen, ist eine neue Romantisierung der Welt, eine poetische Naturwahrnehmung unumgänglich. Es geht dabei nicht um sentimentale Verklärung, es geht um die grundlegenden Tatsachen unserer Existenz.
Die Kunst kann mit den ihr genuinen Mitteln zwei komplementäre Erkenntnisbewegungen zum Klimadiskurs beitragen: Sie kann die scheinbare Selbstgenügsamkeit eines Ichs aufbrechen, das sich unbetroffen fühlt, weil es seine grundsätzliche Verbundenheit leugnet, und sie kann den (nichtpekuniären) Wert der verschwindenden Lebensräume, der verschwindenden Arten vor Augen führen.
„Die Welt muß romantisiert werden“: Ich möchte diese Formel heute wieder als Forderung der Aufklärung verstehen, also als Forderung der Vernunft, die Fragilität und Einzigartigkeit lebender Wesen wahrzunehmen und ihnen mit Freundlichkeit und Respekt zu begegnen.