Marcel Menne

Ferragosto

Der Himmel erholt sich von der Sonne, die Sterne klettern aus ihrem Versteck. Die besten Köpfe einer Nation ruft der Präsident zusammen zu Versammlungen, einzeln, in kleinen Zellen. Der arabische Winter ist da. Ein Junge und seine Wut rauchen am Fenster, warten darauf, dass Maria unter der Laterne erscheint, die Schuhe fest verschlossen und das Shirt eingesteckt, doch sie sehen nichts als den leeren Bürgersteig und den makellosen Asphalt. Sie falten einen Papierflieger aus Chemnitz auf Seite eins und einem kleinen Kind mit aufgeblähtem Bauch auf Seite zwölf und nehmen einen Schluck aus einer Plastikflasche.  

 

Die Stadt schlief friedlich, selbst die aufgerissenen Straßen dösten in der Stille der orange blinkenden Baustellen-Absperrungen. Erst in weiter Ferne sangen Sirenen sanft im Sommerregen für jemand anders. Als der Junge und Maria noch Kinder gewesen waren, liefen sie durch ihre Schleichwege, redeten über den Schmerz und ihre großen Erwartungen, die sie vor der Welt verbargen, hefteten kleine Notizen an die schweren Maschinen, „Ich hoffe, du arbeitest nicht zu hart und es geht dir gut!“, bevor sie sich eine gute Nacht wünschten. Über die Jahre fanden sie ein paar schöne Wege, um zu enttäuschen. Sie mischten etwas in ihre Cola-Flaschen, tranken sie vor den Absperrungen auf dem Bordstein, dicht beieinander, um warmzubleiben. Sie rollten Filter aus miesen Schlagzeilen und steckten den besten ans Ende eines OCB-Blättchens. Abwechselnd bliesen sie Rauch in die Nacht und sahen ihm vergnügt dabei zu, wie er sich in der Luft auflöste. Auf dem restlichen Papier schrieben sie noch immer ihre kleinen Notizen, bis die Laterne die Szenerie nicht mehr beleuchtete. Er erzählte ihr seine ausgedachten Geschichten langsam und bedacht, akribisch vorbereitet steuerten sie auf ein bestimmtes Ziel zu wie ein Schiff auf langer Reise. Sie leckte sich das Blut junger Männer von den Pfoten und hasste jeden Punkt, weshalb sie lieber mitten in der Erzählung einen Gedanken fallen ließ und einen neuen packte, den sie nicht zu Ende bringen würde, doch das war nicht schlimm, denn bei jeder ihrer Brücken, die sich von einer Geschichte ohne logische Verbindung zur nächsten schlugen, leuchteten ihre Augen mit dem grünen Haken wie Scheinwerfer in eine große Zukunft, während diese traurigen, traurigen Songs aus dem Radio knarzten, die von Orten und Zeiten berichteten, die sie nie erleben würden, „Where there’s music and there’s people and they’re young and alive.“ Die Laternen, der Bordstein, die Baustelle beobachteten Maria, wie sie in der Straße schien, mit ihrem Shirt fest in der Hose und den Schuhen offen sah sie zu seinem Fenster. Er hatte nirgendwo sonst solch dunkles Haar gesehen. Es verlief in der Nacht, als sie den Kopf schüttelte und losrannte, um im Neonlicht zu tanzen, auf dem Weg zu den nächsten Gleisen, aus der Stadt, kreuz und quer durch den Kontinent in die Welt zu einer Zukunft, die vor ihr davonrannte, während er auf dem Boden lag. Das Shirt fest eingesteckt, die Schuhe neben der Tür seines Zimmers parat gestellt. Der Fernseher glühte über seinem Körper. Ganz leise hörte er noch denselben Zug in der Nachtluft vorbeizischen wie sie, die auf einer Bank saß und sich Salz von den Pfoten leckte und dem an der Bahnhofsbude versammelten Professoren-Kongress zuhörte, der zwischen Schlücken Grafenwalder die Ausländerkrise löste, bis sie merkte, wie dunkel die Nacht geworden war und sie immer tiefer einatmete, als wäre jedes Luftholen zuvor nur ein asthmatischer Anfall gewesen, doch atmete sie zu tief ein und kotzte in den Wind, triumphal sagte sie all dem Schutt und Schmutz und Schmerz und Staub der Stadt, was sie wirklich von ihnen hielt, von diesem Ort namens Heimat, den Mund wischte sie sich ab mit Landkarten, die sie nicht lesen konnte, in Gedanken an all die Straßen und den Bordstein, denen sie nicht vergeben konnte, setzte sie sich in den nächsten Zug, hellwach in einem falschen Traum, um den sie sich keine Sorgen mehr machen musste, weil es für sie nun nichts weiter gab als einfach da zu sein, dachte sie sich, während sich die Bäume an ihr vorbeidrängten, für einen Moment sah sie ihnen nach, dann presste sie die Wange gegen das kalte Glas und sah den Zug in der beschlagenden Scheibe oben auf irgendetwas zu hecheln, wie sie es ihr ganzes Leben lang getan hatte, hinter den Kuppeln funkelten Flüsse und Ströme und Stadtlichter, doch sie suchte nach dem Ort, wo Musik war und die Menschen jung und lebendig, ihr Verstand raste durch die Länder und sie trank mit Hobos in Wien und mit Pennern in Berlin und selbst die Lippen, die beiläufig von der letzten Bombe plapperten, küsste sie in der Hoffnung, sie würden wieder etwas fühlen, und blätterte auf ihren endlosen Fahrten durch die herausgerissenen Seiten der Bibel ihrer Mutter oder spielte mit Herzen junger Männer wie mit Wollknäueln, in endlosen Experimenten, wie weit ihr Körper gehen konnte, wartete sie nicht darauf, bis ihre Pillen einschlugen, sondern sie sprang in jeden Fluss, jeden See, jede Bucht, jedes Bett, hatte nichts für sich allein, sie teilte alles, Geld, Essen, Titten, Kippen, Bier, Rum und trampte durch den Rauch mit Drogen und Schwanz und Halluzinationen und lauschte dem Terror durch das Rauschen, auf dem Boden hockend mit dem verzweifelten Versuch, eingemeißelte Buchstaben aus Steintafeln zu kratzen, lachte sie vor Freude etwas Blut und kletterte aus der Kanalisation, um auf dem Dach zu baden in all ihrem Glanz mit zwei Kerlen ohne Namen, und sie nahm beide und erinnerte sich, wie er einmal beinahe ihre Bluse berührt hätte, als sie sich den Saft von den Pfoten schleckte, auf den Knien sitzend lächelte sie sanft hinab auf die Jungen und Mädchen in den Gassen, die ihre Hoffnung in einem brennenden Stummel zwischen den Fingerspitzen hielten, ihre Abgase verliefen sich über den Dächern in den Wolken, über die sie hinauskletterte, weiter nach oben, um auf den Bergen zu schauen, was die Propheten geschaut hatten, doch in ihren Augen spiegelte sich nichts, da war nur dieser grüne Haken, für den sie süße Worte einer honigfarbenen Dame am Tresen bekam und sie beide gingen mit einer Trophäe in den Armen, und sie lief über die Berge und Flüsse und Ströme und sie sprang in Betten und auf Züge und sang mit den modernen Landstreichern in Flanellhemden auf der Suche nach dem Leben, „Bring the chorus again“, und sie pilgerte zu hoffnungsvollen Kathedralen, deren Türen verschlossen waren, und sie betete für Erlösung und ihre Brüste, als Haare im Kamm steckten, und sie traf Gott mit einer schwarzen Kette von Zahlen auf dem Arm und trank mit ihm Wodka in einer Synagoge zwischen Gesprächen über Fußball und Wein, hinter abgeschlossener Tür betete sie auf einem Teppich in alle Richtungen, sie jagte weiter und stahl einen Wagen und fuhr ihn für all die Tage, die ihr gestohlen wurden, aus dem heruntergelassenem Fenster schleuderte sie ihre Flüche für alles und jeden, doch mit ihnen flossen diese traurigen, traurigen Songs heraus, aber sie ließen sie nicht an eine einfachere Zeit denken, ihr Kopf war viel zu schwer für so eine junge und kräftige Frau, Gedanken und Erinnerungen drangen an die Schädeldecke, schwirrten um sie herum, doch wusste sie es nicht und scheuchte sie davon und sie zerplatzten an Windschutzscheiben, so vergaß sie all die Bezeichnungen der Orte und Dinge, die sie einmal gekannt hatte, und gab allem einen neuen Namen, während sich Scheinwerfer wie ein Geschwür immer hungriger durch die Straßen fraßen, als sie in der Stadt aufschlug, in der Musik läuft und wo Menschen jung und lebendig sind, und endlich wusste Maria, zu Hause angekommen zu sein, und sie sang und trank und tanzte und lachte, philosophierte in vaporisierten nächtlichen WG-Küchen über die Verbesserung dieser bestmöglichen Welt, aß Kuchen mit einem Käsehobel, sie sah ein kleines Mädchen in der Gosse und gab ihr einen Regenbogen und Maria aß kalte Pizza mit den letzten Gästen der Küchenparty und da war nicht mehr als geistreiche Debatten über den nahenden Winter und Geheule über den Tod auf dem Bildschirm, also trank und tanzte sie und kletterte nackt auf Baustellengerüste, von denen sie ihre kleinen Notizen warf, und sang aus voller Kehle Arm in Arm in Arm der Nacht sanfte Schlaflieder und wurde betrunken von den Sternen und sie flüsterte Engeln, dass ihr Licht niemals ausgeht, und leckte ihre Lippen und selbst wenn die Sonne sagte, es sei genug, leckte sie ihr noch die Möse feucht und strampelte weiter und wurde ohnmächtig vor den Nachrichten, ohnmächtig im Korridor, ohnmächtig in der Gosse, ohnmächtig vor Bildschirmen, ohnmächtig in warmen Betten nervöser Liebhaber, ohnmächtig im Krankenhaus, doch war sie noch nicht fertig, sie würde sterben für Gin und Tonic und eine Zigarette, und gerade, als kein glorreicher Triumph mehr in Sicht war, der all die losen Enden zu einem sinnvollen Schluss zusammenbinden könnte, nahm der Junge sie bei der Hand, sie buchten sich einen Flug heimwärts und riefen jeden an, den sie kannten oder dessen Nummer sich in langen verschwendeten Jahren in ihre Telefone geschlichen hatte, und sie sangen und tanzten und sprachen endlos hastig, wie es niemand außer jenen Verrückten kann, die wie römische Feuerwerkskörper am Himmel explodieren, nur um am Ende wieder alleine vor der verdammten Baustelle zu hocken und darüber zu lachen, wie ihr Leben sich eigentlich an einem lausigen Bordstein abspielte, Arm in Arm in perfekter Vollendung reichten sie orange im Sonnenaufgang und im blinkenden Licht der Absperrungen eine Plastikflasche und einen Joint herum und beteten, dass die Laterne nie erlischt, während er ihr eine Geschichte erzählt, die sie noch nicht gehört hat, im Hintergrund knarzen ein paar der traurigen, traurigen Songs aus dem Radio, ihr Kopf sinkt langsam und friedlich nach unten, ihr Haar verschwimmt schließlich mit seinem schwarzen Hoodie  

 

 

 

 

  

Jetzt sag mir, warum steht Maria kein glorreicher Triumph zu? Warum gibt es keine geschlossene Geschichte zu erzählen?  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  

sie zählt die gelben Verkehrsschilder, die sie heimführen mögen, doch der Wagen bricht zusammen, der Junge sieht, wie die Laterne über dem Bordstein anspringt, sie stiehlt ein paar Grußkarten und eine Cola-Flasche mit einem Flachmann für sich selbst, schreibt auf eine der Karten „Ich hoffe, du arbeitest nicht zu hart und es geht dir gut“, dann setzt sie sich vor eine Baustellenabsperrung, an einer Kreuzung irgendwo, und überlegt, ob sie die Grüße einwerfen soll, reibt sich die Arme und betet, die traurigen, traurigen Lieder mögen nie aufhören, in ihrem Kopf nachzuhallen, während der Junge Papierflieger faltet, aus dem Fenster auf den perfekten Asphalt blickt und betet, sie möge noch da sein, wenn alles wieder in Ruinen liegt, als die Sterne aus ihrem Versteck klettern, bis ihr Kopf schwerer wird und langsam auf den Bordstein sinkt, ihr Haar verläuft in der Nacht, die Stadt schläft friedlich, Laternen, der Bordstein, die Baustelle beobachten, wie zusammengeknüllte Grußkarten aus ihrer Hand kullern.