Lucia Barbara Bauer

Jan im Scheinwerferlicht

11.547 Menschen erleben es. Nein, das stimmt nicht. Im Jahr 2017 wurde es 11.547 Mal

registriert.1 Nach der geschätzten Dunkelziffer der Experten auf mindestens das 15-

fache2, wären es ungefähr 170.000 Betroffene.

Abstrakte Zahlen haben sich in meinem Kopf schon immer fremd angefühlt. Ich brauche

einen Abgleich und schaue noch in derselben Nacht im Internet nach. Mülheim an der

Ruhr hat 170.631 Einwohner.

Stellt euch das mal vor. Eine ganze Stadt voller Kinder, die wissen was es bedeutet sexuell

missbraucht worden zu sein.

Und ich stehe daneben und kann es fast hören: Die Ankündigung für meinen Eintritt in

Dantes Inferno, dafür dass ich meinen Fingerabdruck auf einer dieser vielen Tragödien

hinterlassen habe. Wieviel Reue und Hoffnung müsste ich nach Dantes Vorstellung

haben, um die Unterwelt zu umgehen und mich im Purgatorium reinigen zu lassen? Wenn

beides nicht ausreicht, fallen mir spontan von den neun Höllenkreisen, die Dante in seiner

göttlichen Komödie festgehalten und nach Sünden unterteilt hat, drei ein, für die ich ein

Ticket hätte.

Und während ich über mein eigenes Schicksal nachdenke, ist der Junge, den ich hier Jan

nennen möchte, ein Kind von 170.000; gefangen in einer Hölle, in der er, wie jedes andere

Kind, nichts verloren hat.

Ich habe Jan in der Gruppe kennengelernt, in der ich arbeite. Wir nehmen Kinder auf, die

aus den verschiedensten Gründen auffällig in ihrem Verhalten sind. Es handelt sich dabei

aber nicht um eine stationäre Unterbringung. Sie schlafen nicht bei uns. Meist sind sie

noch nicht so gefährdet, dass man die Familie räumlich trennen muss. Zumindest nicht

nachweisbar gefährdet. Manche Familien nutzen unsere Hilfe, um genau diese Trennung

zu vermeiden und bewirken so viel Veränderung, dass wir überflüssig werden – best case!

Anderen helfen wir zu erkennen, dass eine Trennung notwendig ist und begleiten sie, so

gut sich eine so schmerzhafte Erfahrung begleiten lässt. Das ist die Idee. Wie allgemein

bekannt, verläuft die Realität aber nicht immer so, wie wir es erwarten.

Jan ist zu uns in die Gruppe gekommen, weil er in der Schule aufgefallen ist. Gewalt

gegenüber anderen Kindern, verbal als auch körperlich. Der Standard. Suizidale

Äußerungen – verdammt, aber ja, kommt vor. Häufiger als man glaubt. Sexualisiertes

Verhalten. Das kennen wir, ist aber ein weitgefasster Begriff. Er hat ein anderes Kind in

den Penis gebissen - Ausrufezeichen. Die Familie ist dem Jugendamt bekannt.

Mein Team und ich sind diese Art von Informationen schon fast gewohnt, aber nach den

weiteren Berichten, die wir lesen, sind wir uns einig: das hört sich nach intensivem Bedarf

an und damit meinen wir 24-Stunden-Arbeit und nicht Tagesbetreuung. In der

Falldarstellung steht, dass Jan von Missbrauchshandlungen einer näher verwandten

Person erzählte, woraufhin diese angezeigt wurde. Im Laufe des Prozesses haben er und

auch seine Geschwister die Aussage zurückgezogen, „das ist alles doch nicht passiert.

Wir haben es uns ausgedacht. Wir vermissen die Person auch, jetzt wo wir sie nicht mehr

sehen dürfen. Wir sind schuld, dass alle so traurig sind.“ In der Anklage ist auch eine

Aussage der Mutter vermerkt, die beobachtet hat, wie Jan mit der Person auf dem Bett

liegt und beide aufspringen, als sie das Zimmer betritt. Aber im Nachhinein betrachtet

kann das ja „alles Mögliche“ gewesen sein, eruiert sie.

Nun haben mein Team und ich also den Auftrag, dieses Kind wieder gesellschaftsfähig

zu machen; es soll möglichst ruhig in der Schule sitzen, Freundschaften haben, Grenzen

wahren können, die eigene Rolle als Kind ausleben. Die Dinge, die von einem Kind nun

einmal erwartet werden.

Natürlich beinhaltet dies auch den Auftrag aufmerksam zuzuhören, was das Kind erzählt.

Das tun wir bei allen Kindern. Sollen wir aber, angesichts der Vorgeschichte, gezielter

nachfragen? Nein, das würde bedeuten wir stellen Suggestivfragen – ganz dünnes Eis –

besonders, weil die im Missbrauchsverdacht stehende Person das Jugendamt bereits

verklagt hat.

Wir schauen uns mit großen Augen an. Jetzt bloß keine Fehler machen. In dem Fall heißt

es, jedem winzigen Türspalt an Informationen maximale Beachtung schenken. Eigentlich

wollen wir das System nicht tragen, das ganze Team ist gegen die Aufnahme, aber es gibt

nicht genügend handfeste Beweise, um das Kind auf Grund einer Gefährdung des

geistigen, seelischen oder körperlichen Wohls3

, anders unterzubringen. Nur weil Jan sich

auffällig verhält, heißt das schließlich nicht, dass die Eltern ihn einer Gefährdung

aussetzten. Das müsste erst bewiesen werden. Der Plan lautet also: aufnehmen, Vertrauen

aufbauen, korrigierende Erfahrung schaffen, hoffen, dass das Kind oder die Mutter sich

öffnen, dann einen Schutzplan entwickeln und diesen umsetzen.

Plan B gibt es nicht.

Irgendwann steht Jan vor uns. Seine piepsige Begrüßung verrät seine Übung darin

Erwachsene kennenzulernen, die er von einer Show überzeugen muss. Vielleicht hilft es

ihm auch, sich selbst davon zu überzeugen. Happy Tree Friends fällt mir bei dieser Art

von Fröhlichkeit ein.

Ein paar auffällig angepasste Tage vergehen. Er schließt Kontakte, macht ordentlich

Hausaufgaben, fragt höflich ob er helfen kann, sucht in Konfliktsituationen von anderen

Kindern diplomatisch Lösungen - das volle Programm.

Abriss. Zwei Wochen später. Er kommt wie üblich inszeniert fröhlich in die Gruppe und

verlässt sie auf dieselbe Weise. In den Stunden dazwischen steht er am Fenster und droht

damit herunterzuspringen. Manchmal steht er einfach auf, zieht sich die Kapuze seines

Pullovers über, stellt sich in den Flur und macht den Lichtschalter aus und an. Dabei

verstellt er seine Stimme und sagt Dinge wie: „Ich werde euch alle töten“. Die anderen

Kinder sind es gewohnt, müssen aber trotzdem beruhigt werden. Jans Lehrerin ruft an:

„Wir können Jan nicht mehr beschulen. Er hat heute jemanden mit der Schere angegriffen.

Es sollte ihm doch besser gehen mit der Maßnahme bei Ihnen. Das scheint ja nicht zu

klappen.“. Aus dem Telefon heraus höre ich die Enge in ihrer Brust und ahne unzählige

Anrufe besorgter Eltern. Ihre gebrochene Stimme bettelt, dass alles schnell aufhören

möge. Vielleicht hat er es nun geschafft, einen Bruchteil seines Gefühls an seine Lehrerin

abzugeben.

Ein paar Morddrohungen später, nimmt Jan das Angebot an gegen den Boxsack zu

schlagen. Mit seinem ganzen Körpergewicht boxt, tritt und beißt er dagegen, bis er auf

den Boden sackt. Seine glasigen Augen spiegeln das Bewusstsein einer verlassenen Welt.

Wahrscheinlich befürchtet er, was Überlebende seiner Situation noch Jahrzehnte danach

berichten: dieser Schmerz wird nie ganz vergehen. Trotzdem steht er wieder auf und spielt

seine Rolle, bis der Vorhang erneut fällt. Meist mehrfach am Tag.

Lagebesprechung. Meine Kollegen*innen sind seekrank. Irgendwas machen wir doch

falsch. Instabiler geht es nicht. Der Junge ist schließlich hier, um wieder im Schulalltag

mitmachen zu können. Alles ist schlimmer, sagt die Mutter. Wir verfehlen das Ziel, sagt

die Chefin. Manchmal ist das Ziel auch das falsche. Denke ich und sehe mich mit meinem

ersten Ticket vor dem Ufer des sechsten Grabens im achten Höllenkreises stehen: ich

Heuchler.

Jan signalisiert uns jeden Tag, dass etwas nicht stimmt. Wozu jemanden befähigen in

einer kranken Situation zu funktionieren? Um dann stolz zu verkünden, dem Kind

geholfen zu haben?

Sein Verhalten ist kein schlechtes Zeichen, refraimen wir. Er fasst Vertrauen, testet ob

wir verlässlich bei ihm bleiben, den Sturm ertragen. Die Hoffnung steigt, vielleicht

erzählt er bald etwas.

Zur gleichen Zeit führen wir Gespräche mit der Mutter. Trotz ihrer Angst muss sie die

Entscheidung zum Schutz ihrer Kinder treffen, die Täter*in aus dem Leben zu verbannen

und im besten Fall anzuzeigen! Aber es ist, als könnte sie uns nicht hören. Sie ist eine

Ohnmächtige in einem abgeschlossenen Kontrollraum.

Die ergänzend traurige Wahrheit ist, dass eine Anzeige weit entfernt von dem ist, was die

meisten Menschen als ‚den besten Fall für die Opfer‘ betiteln würden. Wenn die

Umstände eines folgenden Prozesses genauer beleuchtet werden, muss man sich

ernüchternd eingestehen, dass die Wahl einer Anzeige in vielen Fällen einen großen

Schaden für die Klagenden hinterlässt. Die Wenigen, die sich trauen eine Anzeige zu

erstatten, machen die Erfahrung, dass das Prinzip Aussage gegen Aussage in einer

Situation, in der meist nur zwei Personen anwesend sind, den Triumph der Gewalt

bedeutet. Die langwierigen und überdauernden Vernehmungen zur Tat und zu deren

Details können einer Tortur gleichen. Dazu kommt, dass die psychologischen Gutachten

in vielen Fällen zusätzlich verletzend sind. Einer der psychischen Folgen des sexuellen

Missbrauchs, wie zum Beispiel Gedächtnislücken, tragen paradoxerweise dazu bei, die

Klagenden als Unglaubwürdig einzuschätzen. Die vernichtende Angst ‚mir glaubt

sowieso keiner‘ bestätigt sich.

All diese Dinge wissen wir und der Druck steigt, genauso wie das Bewusstsein für unsere

Grenzen. Jan wird nicht mit uns sprechen. Den Schutz, den wir ihm im Gegenzug bieten

können, ist für ihn ein abstraktes Gedankenspiel und konkurriert mit der Angst, die Liebe

seiner Familie zu verlieren.

Unsere seekranken Köpfe zerbrechen an dem Versuch etwas zu finden, das vor Gericht

einen verwertbaren Beweis verkörpern könnte und unterdessen hören wir Annegret

Kramp-Karrenbauer dabei zu, wie sie sich zu den neusten Missbrauchsfällen äußert.

Kindesmissbrauch soll in jedem Fall ein Verbrechen sein und nicht nur als Vergehen

gelten.4 Die Masse äußert sich empört darüber, wie mickrig die Ahndung von sechs

Monaten bis zu zehn Jahren5

ist und zerreißt die Protagonisten des Stückes: die Täter. Bin

ich die Einzige, die ein Déjà-vu hat?

In der Zwischenzeit wird Jan aus unserer Gruppe entlassen, auf Wunsch der Mutter. Wir

können nichts tun. Jan bleibt auch in unserer Einrichtung nicht lange genug und lernt

erneut, dass es sich nicht lohnt Vertrauen zu fassen. Unsere Maßnahme ist gescheitert.

Am Rande dieser Schlussreflexion spielen meine Vorgesetzte und ich ein schräges PingPong-Spiel der Schuld, indem ich ihr den Ball zuspiele, sie ihn ins Nichts schmettert und

er dann doch zu mir zurückkullert.

Sie sagt: „Kinder müssen in Deutschland nun einmal viel ertragen, bis man etwas machen

kann. Wir können dem Kind nur noch vermitteln, dass es nicht richtig ist, was ihm

passiert, aber vielleicht ist es sein Schicksal.“ An diesem Punkt verfluche ich Gott und

die Welt, versuche alles von mir zu weisen, suche verzweifelt einen Schuldigen und halte

mein zweites Ticket in der Hand. Diesmal für wahrscheinlich zwei Ringe des siebten

Höllenkreises: der, der Gewalttäter gegen Gott und vielleicht auch gegen meinen

Nächsten.

Das Ganze ist jetzt eine Weile her. Meine professionelle Distanz sollte es mir erlauben,

nicht mehr daran zu denken. Ich sollte mich auf diejenigen konzentrieren, denen ich

helfen kann. Das ist nur meine Arbeit, für die ich bezahlt werde, sage ich mir selbst, um

drei Uhr nachts im Bett liegend.

Wenn ich mich diesem Gedanken jetzt hingebe, habe ich ein drittes Ticket in der Hand:

das, der Verdrossenen.

Während wir uns in unserem überheblichen Fatalismus distanzieren, um unsere

Schrammen zu lecken, steht Jan mit einer scheinbar unerschöpflichen Kraft noch immer

vor dem Kontrollraum seiner Mutter und donnert gegen die Panzerscheibe.

Das ist kein stummes Drama, das sich in der Größe der Mülheimer Stadt zeigt. Ganz im

Gegenteil, es ist laut und deutlich. Es ist das Publikum, das taub ist.

Wir müssen diesen Kindern, nicht zuletzt auf einer rechtlichen Ebene Gehör verschaffen,

um diese rückwärtslaufende Uhr in die richtige Richtung zu drehen. Es ist an der Zeit die

Täter*innen als Protagonisten des Stückes von der Bühne zu bitten und öffentlich darüber

zu sprechen, welche Anzeichen und Auswirkungen sexueller Missbrauch hat und dem

Fachpersonal, das in Kontakt mit Kindern arbeitet, adäquat und fortlaufend Schulungen

dazu anzubieten.

Kinder wie Jan, die auf eine angemessen unbequeme Art und Weise aus jeder Körperfaser

nach Hilfe schreien, haben noch nicht aufgegeben. Wir sind es ihnen schuldig das Gleiche

zu tun.

1 Polizeiliche Kriminalstatistik, Jahrbuch 2017, Band 4, S. 16

2 Ursula Wirtz, „Seelenmord – Inzest und Therapie“, S. 22 ff., 2001 Ursula Enders, „zart war ich, bitter war’s“, S. 13 ff., 1990

3 Der behandelnde Paragraf §8a „Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung“ ist im Sozialgesetzbuch Vlll zu finden.

4 https://www.tagesschau.de/inland/cdu-kindesmissbrauch-101.html

5 Die Information zur Ahndung eines sexuellen Missbrauchs an Schutzbefohlenen entnehme, ich dem

Strafgesetzbuch § 176. Der folgende Paragraf §176a behandelt den schweren sexuellen Missbrauch an

Kindern, den ich hier nicht explizit benannt habe.