Luca Kieser

Von einer, die aus Namen ein Geheimnis macht. Rumpelstilzchen? Oder: Die Höhle

1948: Ihre Mutter will sie nicht behalten und legt sie noch in der Nacht der Geburt vors

Palais Epstein, ihr Vater ist nämlich – sie zupft am Saum ihrer Bluse – ein hohes Tier bei

den Russen. Und so wächst sie bei ihm auf. Das war kein Wien, sagt sie, das war tiefer

Osten – und sie beginnt zu flüstern, formt mit dem Mund die Silben: ein ge sperrt. Im

Turmzimmer des Palais, einem runden Zimmer im höchsten Turm. Fenster aber in alle

Himmelsrichtungen, fügt sie hinzu und lächelt. Der Stephansdom, die Weinhügel, die

Donau. Bis 1955 – da nimmt ihr Vater sie mit nach Russland. Sie weiß noch: Am 26. Ok-

tober steigen sie in den Zug – den letzten Zug, mit dem russisches Militär Wien verlässt

– und fahren bis nach Sibirien. Bis nach hinter Sibirien. Ihr Vater darf sie aber eigentlich

gar nicht haben. Er bittet seinen Bruder, ihren Onkel: Nimm sie zu dir, nur falls etwas

passiert – um ihren Vater lauern nämlich Raubtiere, wie die Wölfe lauern sie, und so

nimmt sie ihr Onkel, streng, aber mit gutem Herz, mit – und auf in seine Kompanie.

Einen Wanderzirkus hat er ... sie ziehen durch Russland, mit Pferden, Hunden, Elefan-

ten, Giraffen, Löwen und Tigern – nur Leoparden, erklärt sie, haben wir keine abgerich-

tet. Denn der Leopard, erklärt sie, bleibt wild, alles andere lässt sich abrichten. Sie

selbst hätte so gern einen Pinguin abgerichtet – sie erzählt von der sibirischen Kälte,

Minusgrade, immer Minusgrade, und von ihrer allerersten Zigarette – mit dem Sohn des

Clowns hinter einem Bauwagen, mit fünf – und natürlich dem Umherziehen: Entweder

man darf sein Zelt aufbauen oder man zieht eben weiter, immer weiter ... Bis eines

Tages ihr Onkel, streng, aber mit gutem Herz, entscheidet, dass sie zur Schule muss. Er

schickt sie zurück nach Wien. Ihre Großeltern, die Eltern ihrer Mutter, nehmen sie zu

sich. Jetzt wohnt sie in Ottakring. Zur Schule geht sie aber im Ersten. Ihre Großeltern,

das sind reiche Leute, sie überschreiben ihr auch den Nachnamen, testamentarisch ver-

fügt. Seit ihrem Tod ist sie eine – sie schlägt sich die Hand vor den Mund.

Ihre Großeltern sterben. Sie zieht nach Calw in Baden-Württemberg. Die einzige Freun-

din, die sie in Wien gefunden hat, zieht nämlich mit ihren Eltern dorthin zurück. In Calw

besitzen die eine Landwirtschaft und verdienen einfach besser. Es ist 1964. Ihre Freun-

din und deren Freundinnen bereiten ihr einen atemberaubenden Empfang. Meine An-

kunft, lacht sie, werde ich nie vergessen, die Mädle haben mit mir gefeiert, als ob ich

schon immer da gewesen wäre. Sie trinken Schorle Süß. Nie wieder hat sie eine solche

Freundin gefunden. Überhaupt hat sie in Österreich nie Freunde gefunden. Erst vor drei

Jahren hat sie wieder jemanden getroffen, hier im Beisl, die Nadel im Heuhaufen. Sie

gehen durch dick und dünn, erfinden sich Geschichten, Märchen …

… und jedes davon beginnt mit Schorle Süß. Es sind ein, zwei Jahre vergangen, sie ist

mit der Schule fertig und hat begonnen, Medizin zu studieren, alle sitzen beisammen

und trinken. Die Frauen küsst man auf die Wangen, die Männer auf den Mund, heißt es

und – sie ist gerade zwanzig – ein Kind ist da, '68, von einem Schauspieler, einem Deut-

schen. Den, sagt sie, verrate ich aber nicht, der ist ein alter Mann. Nach Hollywood ist er

gegangen, hat sie 1970 samt zweijährigem Kind allein gelassen und ist nach Amerika,

ist dort groß rausgekommen. Manchmal sieht sie ihn im Fernsehen, er spielt in einer Se-

rie mit. Dass er damals auf und davon ist, das macht aber nichts. Ein Schauspieler, sagt

sie, gehört dir nie allein. Als er sie betrügt, betrügt sie ihn auch, quasi als Ausrutscher,

und – sie ist einundzwanzig – ein zweites Kind ist da, '69. Die Väter verstehen sich, Gott

sei Dank, und sind dann beide, plötzlich, weg. Geld kommt immer pünktlich. Vom Film-

schauspieler mehr als vom anderen, aber alles in allem viel mehr, als sie vom Jugend-

amt bekommen würde. Ihnen geht es gut. Sie kauft zwei Giraffen. Die müssen im

Kinderzimmer stehen. An ihren Köpfen hängt eine Schaukel. Auch kann sie sich ein Kin-

dermädchen leisten: die Königin. Die – sie küsst ihre Fingerspitzen – ist unglaublich ge-

wesen, so eine gibt‘s heute nimmer, die hat die Kinder nicht allein gelassen, ist mit den

Kindern spazieren gegangen und an den Straßen stehen geblieben, jedes Kind an einer

Hand. Die hat nie geschimpft. Und als die Mutter ins Krankenhaus muss, um sich einen

Krebs heraus schneiden zu lassen, wird sie von der Königin jeden Tag besucht. Jeden

Tag bringt die Königin die Kinder mit. Bis die Kinder 1974 bei einem Verkehrsunfall ster-

ben. Außerdem drei andere Kinder und zwei Lehrer. Alle sieben geholt – die Mutter reibt

sich die Augen – so etwas kann man einfach nicht vergessen.

Sie bricht das Studium ab, zieht wieder nach Wien. In Floridsdorf macht sie eine Ausbil-

dung zur Krankenschwester und zur Hebamme. 1977 heiratet sie: einen Tschechen, ei-

nen Fußballspieler. Sie wohnen in Brigittenau. Auch Fußballspieler gehören einem nicht

– '81 lassen sie sich wieder scheiden. Und dann habe ich nicht wieder geheiratet, sagt

sie, geschwängert worden bin ich auch nie mehr, denn: schau mich an, ich bin ein

Wrack. Ich habe insgesamt dreiundvierzig Operationen gehabt. Mit neun Monaten die

erste. Was alles in mir gesteckt hat: ein tennisballgroßer Abszess an der rechten Lunge,

ich habe Drüsenkrebs überwunden. Meine Stimmbänder sind operiert, mein Kehlkopf

von innen. Zwischen Kleinhirn und Großhirn hat ein Tumor gesteckt, den sie mir raus-

saugen mussten – und sie beugt sich vornüber, neigt den Kopf und hält ihr dünnes Haar

zur Seite: Hinter den Ohren führt eine Höhle in den Schädel. Siehst du die Taiga?

Kannst du das Schloss am Horizont sehen? Es ist Herbst, deshalb ist die Landschaft so

grau. Aber sieh‘ doch da, was da drüben fliegt, das ist ein Taigazilpzalp. Und dort, zwi-

schen den Lärchen, das ist das Rotkäppchen auf dem Weg zur Großmutter … Man

braucht keine Angst vor dem Wolf zu haben. Und auch vor sonst nichts in der Welt. Nur

davor, dass man mit dem Tod nicht alles vergisst. Was, fragt sie und streicht sich das

Haar wieder hinters Ohr, wenn man nach dem Tod durchs Weltall schwebt und alles von

einem verschwunden ist, außer dass man weiß, dass man mal dagewesen ist?

Und die andere Seite?

Sie lacht und dreht den Kopf: Das war ja eine beidseitige Operation, eine war tödlich, ich

aber habe beide überlebt!

Nach der Scheidung zieht sie in den Fünfzehnten, in die Huglgasse. Seit 1991 ist sie in

Pension, ihre Hüfte hat einfach nicht mehr mitgemacht. Mittlerweile wohnt sie in der

Schmelzgasse. Sie sagt: für die schweren Sachen habe ich eine Dienerin, aber ich gehe

nicht aus dem Haus, bevor ich nicht Staub gewischt habe. Samstags – nur zum Beispiel

– betritt sie Punkt vierzehn Uhr den Meisel Pub. Sie stellt ihren Rollator neben den letz-

ten freien Tisch und lässt sich in den Sessel fallen. Hier rauchen alle, sie fragt trotzdem,

ob sie darf. Denn, sagt sie, man muss immer höflich sein. Wenn man immer höflich ist,

kommt man weit und lebt lange. Schau mich an: Wenn ich zur Tür herein spaziert

komme, staunt jeder Arzt: Was, du lebst immer noch? Schorle Süß trinkt sie keine mehr,

ihr wird ein Gösser hingestellt. Sie zieht eine Schachtel Marlboro samt Feuerzeug aus

der Handtasche, schüttelt sich das Jäckchen vom Leib. Der Saum ihrer Bluse funkelt.

Sie stellt den Aschenbecher auf einen Bierdeckel und raucht. Der linke Arm lehnt auf

dem Rollator, in der Rechten hält sie die Zigarette. Fragt man sie nach ihrem Namen

zwinkert sie: Wo ich doch so berühmt bin.