Leopold Helbich Frey

Poesie, einhundert Sekunden vor Mitternacht

„It is now 100 seconds to midnight, the most dangerous situation that humanity has ever

faced. Now is the time to unite – and act.“ Mit diesem erschütternden Appell an die

Menschheit endete die Stellungnahme des Bulletin for the Atomic Sciences, welches

jährlich das Risiko vor einer globalen Katastrophe bemisst, für das Jahr 2020. Zum ersten

mal seit der Einführung der sogenannten Weltuntergangsuhr im Jahr 1947, als sie auf

sieben Minuten vor Mitternacht gestellt wurde, ist sie nun auf 100 Sekunden vor

Mitternacht vorgerückt. Selbst im Zenit des Kalten Atomkrieges stand der Zeiger nie so

kritisch nah an der Stunde Null – der symbolischen Markierung einer globalen

Katastrophe. Die internationalen WissenschaftlerInnen warnen in ihrem Bericht vor drei

parallelen Gefahren: dem Risiko eines globalen Nuklearkrieges, der anthropogenen

Klimakatastrophe und der unkontrollierten Entwicklung von Künstlicher Intelligenz. Ihre

Mitteilung ist eindeutig: Die Menschheit steht kurz davor, sich selbst auszulöschen.

In dieser Situation scheint es abwegig über Poesie zu sprechen. Ist es nicht weitaus

dringender vom Bereich des Denkens in den Bereich des Handelns und von der

ästhetischen Kontemplation zur politischen Aktion überzugehen? Die subjektive

Notwendigkeit, Kunst und Kultur zu erschaffen, verblasst neben der objektiven Aufgabe,

das Leben auf der Erde vor der Zerstörung zu bewahren. Es scheint, als würde die

Dringlichkeit des Politischen die Notwendigkeit der Poesie aufheben. Ich glaube jedoch,

dass wir die Zukunft nur durch eine radikale Utopie vor der lebensfeindlichen Entropie

bewahren können, dessen Schatten die Verwüstung der Gegenwart auf sie wirft.

Angesichts der Dystopie, welche die Gegenwart für einen Großteil der Menschen heute

bedeutet und der Katastrophe, die sie für die Zukünftigen bringen wird, erscheint eine

lebenswerte, lebenserhaltende, verantwortliche Zivilisation utopisch zu sein. Die radikale

Utopie, welche die Erhaltung der Erde als Insel des Lebens für die kommenden

Generationen bedeutet, benötigt die Poesie, diese Geburtshelferin von Visionen, um sich

selbst aus dem Abgrund ins Leben zu ziehen. – „Wozu nützt die Utopie?“ fragte der

Schriftsteller Eduardo Galeano, und gab darauf die Antwort: „Sie lässt uns losgehen.“ Wir

brauchen eine Utopie, um die Zukunft vor dem Sandsturm, der die Geschichte treibt, zu

schützen. Und die Poesie, welche Erinnerung und Visionen vereint, die aus der Leere Bilder,

Worte und Klänge erschafft, und die den Menschen stets auf die Menschlichkeit

verweist, kann uns auf diesem Weg leiten.

Wo stehen wir? Inmitten der Verwüstung des Sechsten Artensterbens. Einhundertsechzig

Arten sterben täglich aus. Einhundertundsechzig, täglich. Alle sechs Sekunden zerstört der

Mensch eine Fußballfeld große Fläche von Regenwald. Unwiederbringlich. Die

Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre ist seit der industriellen Revolution um

45% gestiegen und ist jetzt so hoch wie zuletzt vor drei Millionen Jahren. Die Hälfte der

fruchtbaren Humuserde, welche die Erde bedeckt, ist in den letzten 150 Jahren verloren

gegangen und der Abfluss von Düngemittel und toxischem Abwasser hat weltweit 400

Todes-Zonen geschaffen, eine Fläche so groß wie England, in der kein Leben existieren

kann. Unwiederbringlich. Das Business as Usual des Fortschrittsglaubens bewirkt die

irreversible Verschmutzung von Land, Luft und Wasser, eine großflächige Verwüstung der

Erde, zunehmende Wasserknappheit und extreme Wetterverhältnisse. Wir befinden uns

unmittelbar vor oder vielleicht schon inmitten von ökologischen Tipping Points, deren

Überschreitung unvorhersehbare und katastrophale Folgen haben. Selbst große

Ökosysteme wie der Amazonas können innerhalb weniger Dekaden kollabieren. Die

Permafrostböden, über Jahrtausende gefroren, beginnen zu schmelzen, wodurch große

Mengen CO2 und Methan in die Atmosphäre freigegeben werden, was den Klimawandel

exponentiell beschleunigen kann.

Die anthropogene Verwüstung verwandelt einst fruchtbare und von Leben überquellende

Gebiete in biologische Todeszonen. Sie zerstört auch die Netze der Gemeinschaften und

Familienbande und ersetzt sie mit den digitalen Netzen der biologischen und technischen

Kontrolle. Sie trocknet nicht nur die Flussbetten und Täler aus, sondern auch die Seelen

der Menschen. Sie verbrennt nicht nur die dürren Steppen und Wälder, sondern auch die

Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft auf einer lebenserhaltenden Erde. Sie überflutet

Küstenregionen und Inseln, zersprengt Bergspitzen und Traditionen, und dringt so tief in

unsere Knochen wie die Fracking-Gase in das irdische Gestein. Sie fließt durch unser

Blut, wie die Industrie-Abwasser durch die Flüsse, sie hält sich in unserem Bewusstsein,

wie das Plastik in den Seen und Ozeanen der Erde. Wir sind untrennbar mit dem Netz des

Lebens verbunden, das uns hervorgebracht hat und erhält. Und wir zerstören es aus

Profitgier und Blindheit gegenüber der Zukunft.

„Von allen Lebewesen vermag nur ein einziges nachhaltigen Ekel einzuflößen: Der

Mensch,“ schrieb Emil Cioran in seiner Lehre vom Verfall. Aber der Mensch ist schon nicht

mehr die größte Bedrohung für das Fortbestehen des Lebens auf diesem kleinen blauen

Planeten im All. Die unkontrollierte Entwicklung von Künstlicher Intelligenz, die bereits zu

militärischen und Propagandazwecken von Regierungen und Unternehmen eingesetzt

wird, ist eine exponentiell größere und uns noch völlig unbekannte Gefahr. Sie könnte

dazu führen, dass die Menschheit einfach aufgrund eines Rechenfehlers ausgelöscht wird

oder – was noch viel schlimmer ist – dazu, der Mensch selbst bedeutungslos wird.

Wie können wir angesichts dieser enormen Herausforderungen und der Dringlichkeit des

Handelns weiterhin an die Kraft der Poesie glauben? Wie kann sie uns dabei helfen, eine

alternative, verloren geglaubte Zukunft zurückzugewinnen? Ich möchte an dieser Stelle

darauf hinweisen, dass ich unter dem Begriff „Poesie“ nicht nur die literarische Gattung der

Lyrik verstehe, sondern der Etymologie des Wortes entsprechend (poiesis = Erschaffung),

jene Qualität, die allen schöpferischen, also kreativen Akten und Werken, in denen

Gedanken sich in Form und Zeit manifestieren, zu eigen ist. Ich betrachte Poesie als

dasjenige Element, das jeder ästhetischen Erfahrung innewohnt, aber nicht auf sie

reduziert werden kann. Ich definiere Poesie als eine Extase, die nicht nur körperlicher,

sondern geistiger, dabei aber nicht rein intellektueller, sondern existenzieller Natur ist.

Die Poesie, die aus der intrinsischen Fähigkeit des Menschen zur mimesis geboren wird,

hält uns den Spiegel vor Augen, in dem wir nicht nur unsere eigene Haltung zur Welt,

sondern auch unsere eigene Menschlichkeit im Spiegel der Zeit erkennen. Sie hat die

einzigartige Fähigkeit, die menschliche Seele zum klingen zu bringen und dort das

Verlorene und das Utopische auferstehen lassen. Sie lässt die Wüste widerhallen und gibt

uns darin die Samen der Utopie zu erkennen, welche durch den grauen Asphalt der

Gegenwart brechen. Die Realität zu poetisieren kann uns erlauben, inmitten des Wandels,

der die einzige Konstante der Menschheitsgeschichte gewesen ist, einen Halt zu finden.

Zwar ist die Natur, die wir zerstören, zwar sind die Arten und Spezies, die aussterben und

die Biotope, die der Verwüstung anheim fallen, unwiederbringlich verloren. Auch die

Poesie kann das Verlorene nicht aus dem Hades befreien, wie Orpheus bei seinem

Versuch, Eurydike zu retten, feststellen musste. Doch sie ist ein Akt der Erinnerung und

der Schöpfung von Visionen aus dem Vergangenen und aus dem Noch-Virtuellen. Sie

kann unseren Blick auf das Unwiederbringliche und das Utopische lenken, um unser

Handeln für die Zukunft zu verändern. Ein Wort von Heidegger aus seinem Brief zum

Humanismus pervertierend möchte ich sagen: Poesie ist die lichtend-verbergende Ankunft

des Seins, welche die Extase der menschlichen Existenz in die Zukunft begleitet.

Die Zukunft ist nicht monolithisch, doch um sie zu verändern, müssen wir die radikal

poetische Utopie aus der harten Schale des linearen Fortschrittsglaubens befreien, der

schon der Vergangenheit angehört.

Die Corona-Pandemie hat das Band der Teleologie des Fortschritts unterbrochen und die

Menschheit dazu gezwungen, die Notbremse in der globalen Produktionsmaschine zu

ziehen. Für einen Moment ist das Kontinuum der Normalität, zu der wir die eisernen

Gesetze der Globalisierung erklärt haben, außer Kraft gesetzt. Der Benjaminsche Sturm,

der die Geschichte treibt, scheint zum Stillstand gekommen, und im Auge des Orkans

blicken wir uns um, erkennen die Verwüstung, an der wir teilnehmen und an der wir –

absichtlich oder unabsichtlich – mitschuldig sind. Die Krise hat den Einsturz aller

Narrationen bewirkt, mit denen wir unserm Leben einen Sinn geben und die Soziale

Plastik der Gesellschaft in neuem Licht gezeigt.

Walter Benjamin schrieb über die Kraft der Kunst, den gewohnten Bezugsrahmen der

Menschen zu zerrütten und das Denken in der wirkliche Aktualität zu versenken. So gleicht

die ästhetische Erfahrung der Kunst einer Krise, welche uns aus der Normalität entsetzt

und in den Bruchlinien des Alten neue Horizonte sichtbar werden lässt. Der Poesie wohnt

die Kraft inne, den gewohnten Bezugsrahmen zu brechen, die Sinneswahrnehmung neu

zu kalibrieren und die Art und Weise zu verändern, wie wir die Welt betrachten. Die Dichter

der Gegenwart stehen im Verbund mit der Krise und erblicken in den Rissen und Brüchen

der Normalität, Blitze der Zuversicht aus dem Raum jenseits des Nebels der Zerstörung.

Die Pandemie hat die Ungleichheit und das Unrecht, die in der Welt existieren, mit einem

Schlag verdeutlicht und die Konfliktlinie zwischen Wohlhabenden und Armen,

Privilegierten und Diskriminierten zusätzlich verschärft. Für viele hat sie unsägliches Leid

mit sich gebracht. Aber die positiven Veränderungen, welche mit der Unterbrechung der

globalen Produktionsmaschine einhergehen, sind durch ebenfalls sie deutlich zutage

getreten. In der Stille des Sturmes werden die Samen der Utopie auf einmal sinnlich

erfahrbar: die kristallklaren Himmel, worin der Anblick von Flugzeugen eine Seltenheit

geworden ist; die stillen Nächte, worin zum ersten mal seit Langem das ständige Dröhnen

der Düsenjets zum Schweigen gekommen ist; die Ruhe, die in der Natur aufgrund des

eingeschränkten Verkehrs eingekehrt ist; die ansonsten von Touristenmassen überfüllten

Innenstädte, die wieder bewohnbar werden; die neu aufleuchtende Kraft von

Gemeinschaften, Freundschaften und Familienbanden: All diese Veränderungen sind

sinnlich erfahrbar.

Es ist wahr, dass all sie nur von kurzer Dauer sein werden und sich umkehren, sobald die

Produktion wieder auf Hochtouren läuft, aber die gelebte Erfahrung der Veränderung,

welche mit der drastischen Einschränkung des Kapitalismus einhergingen, wird uns stets

daran erinnern, dass eine reale Alternative zur destruktiven Globalisierung existiert. Alles,

was es braucht, um die Zukunft zurück zu gewinnen, ist ein gemeinsamer Wille, sowohl

unser Leben als auch die Funktionsweise unserer Gesellschaften radikal zu verändern: Es

braucht globale, soziale und utopische Lösungen, um die Verwüstung der Erde

aufzuhalten.

So offenbart sich inmitten der Corona-Krise die soziale Plastizität der Gesellschaft: Auf

einmal werden Ideen, welche zuvor als Utopien abgestempelt wurden, als notwendig

erkannt. Und obwohl die Ausgangsbeschränkungen das Momentum, das soziale

Bewegungen, wie „Fridays for Future“ in Europa und den USA, „Ni Una Menos“ in

Lateinamerika, oder die Demokratiebewegung in Hong Kong 2019 erreicht hatten, jäh

unterbrachen, sind die Forderungen nach sozialer, ökologischer und ökonomischer

Gerechtigkeit nicht verstummt. Im Gegenteil: Inmitten der Corona-Krise ist in den USA

eine soziale Bewegung von enormem Ausmaß entflammt: Der brutale Mord an George

Floyd hat eine Welle der Empörung, des Zornes, und des Aufbegehrens gegen

strukturellen Rassismus ausgelöst.

„I can’t breathe“ – die letzten Worte von George Floyd, die er keuchend wiederholte,

während drei weiße Polizisten acht Minuten und 46 Sekunden lang auf seinem Hals und

seiner Brust knieten und ihn dadurch qualvoll erwürgten, sind einem Symbol der täglichen

Erfahrung der nicht-weißen Bevölkerung in den USA und in anderen westlichen Ländern

geworden. Die Black-Lives-Matter Proteste, die nach seinem Tod starken Zulauf fanden,

haben die öffentliche Meinung in den USA stark verändert: Die Mehrheit der Amerikaner

erkennen Rassismus und Diskriminierung jetzt als wichtige gesellschaftliche Probleme an.

Weltweit und auch in vielen Städten Europas gingen Tausende auf die Straße, um gegen

Rassismus und Diskriminierung zu demonstrieren. Denn auch hier ist die Luft, die wir

atmen, gefüllt von systemischer Gewalt. Auch hier können Minderheiten schwieriger atmen

als die privilegierte Mehrheit. Hier, in einem Europa, das sich als Erbe des Humanismus

bezeichnet und das Erbe des Kolonialismus gerne verschweigt; das von Demokratie und

Menschenrechten spricht, während Flüchtende an den europäischen Grenzen

zurückgewiesen werden oder im Mittelmeer ertrinken; wo rechtsextreme Morde als

Einzeltaten abgestempelt werden, obwohl die Politik ebenso von Rechtsextremen

durchsetzt ist wie die Polizei; wo Frauen effektiv weniger berufliche Chancen als Männer,

Schwarze weniger Aufstiegschancen haben als Weiße: So intersektional die Formen der

Diskriminierung sind, so plural muss die Bewegung zu einer sozial, ökologisch und

ökonomisch gerechten, ethnisch und gender egalitären Gesellschaft aussehen.

Unserer Generation wurde von der Geschichte die Aufgabe in die Hände gelegt, die

Zukunft aus dem Abgrund zu retten, in den sie hinab gleitet, indem wir die Erde als Insel

des Lebens bewahren, den Wert des Menschens im Angesicht von KI schützen und die

Gesellschaft radikal transformieren. Eine schwierige, ja scheinbar unmögliche Aufgabe!

Was bedeutet sie für die Dichterinnen und Denkerinnen unserer Epoche? Der kubanische

Schriftsteller José Martí sprach von der „Nützlichkeit der Tugend“. Er drücke damit die Idee

aus, dass jeder Mensch seine Tugenden zum Wohle Aller einsetzen kann. So verrostet

und altmodisch sie klingt, so enthält sie doch eine fast vergessene Wahrheit: dass die

Poesie einen gesellschaftlichen Nutzen haben kann. Ihre Nützlichkeit liegt in ihrer

Fähigkeit begründet, Werte und eine Haltungen zu vermitteln, Visionen und Utopien zu

erschaffen und uns Vergebung für unser Mensch-Sein zu schenken. Ich glaube, dass wir

die stets im Bewusstsein tragen müssen, um die Poesie als Technik der gesellschaftlichen

Veränderung anwendbar zu machen.

Der Begriff der „Fernstenliebe“, die Nietzsche der Nächstenliebe entgegen stellte, kann

uns dabei leiten, ebenso wie die indigene Ethik des Guardianship, welche sich der

Aufgabe annimmt, die Permanenz des menschlichen und biologischen Lebens auf Erden

für zukünftige Generationen zu bewahren. Die Verankerung der Existenz in der Leben

schenkenden und erhaltenden Terra, und die Erweiterung unserer Ethik auf das Fernste –

auf andere Kulturen, Ideen, Technologien und auf die Zukunft – können uns dabei helfen,

wieder Boden unter den Füßen zurück zu gewinnen. Der Wert der menschlichen Existenz

wird nur erhalten werden können, wenn wir das Prinzip der intergenerationellen

Verantwortung ins Zentrum unseres Handelns stellen.

Die Poesie, wo sie heute existiert, mischt sich stets mit dem Wissen, um die Bedrohung

und die Gefahr der Zerstörung allen Lebens auf der Erde, mit der Kritik an Unrecht und

Gewalt, mit dem Lebensschrei eines Lebewesens, dem der Atem abgeschnürt wird.

Um es mit einem Wort von Federico Garcia Lorca zu sagen, der in New York beim Anblick

der Massenschlachtungen von Tieren für die kapitalistische Produktionsmaschine schrieb:

„Ich bin nicht, um den Himmel zu sehen, hergekommen.

Ich bin gekommen, um das trübe Blut zu sehen.

Das Blut, das die Maschinen zu den Katarakten treibt,

und den Geist zur Zunge der Kobra.“

Die Dichter und Denkerinnen meiner Epoche erschaffen im Angesicht des Weltuntergangs

und der unendlichen Weite des Alls. Ihre Stimme trägt die Zerstörung im Bewusstsein und

stemmt sich ihr entgegen. Sie stehen im Verbund mit dem Leben und mit dem Untergang.

Sie erschaffen im Wissen um die große Gefahr und schöpfen aus ihr Kraft. In der Negation

der Verwüstung finden sie den gemeinsamen Sinn wieder, den die Generation der

Postmodernen für immer verloren geglaubt hatte. Für sie ist die Zukunft nicht das Feld der

Illusionen, auch nicht die ewige Wiederholung der Gegenwart, sondern der Abgrund, vor

dem wir uns zusammenfinden, um ein Feuer anzuzünden, das uns vereint und das ein

Licht auf das gegenüberliegende Ufer wirft.

Unsere Ära erfordert von uns, eine Haltung einzunehmen. Denn nichts ist schrecklicher als

eine tätige Gleichgültigkeit. Wir wissen, wir sind keine unschuldigen Zeugen: Wenn wir

Zeugnis ablegen vom Persönlichsten, sind wir uns darüber bewusst, dass wir ein Teil der

Welt sind, die sich in unsrer Seele widerspiegelt, und dass unser Leid oder Wohlbefinden

untrennbar mit ihrem verbunden ist. Unsere Poesie trägt das Bewusstsein über die Tragik

der ausbleichenden Korallenriffs, die unter dem Hitzeschock des Klimawandels absterben;

sie trägt die Verzweiflung und den Zorn, die uns im Angesicht der globalen Verwüstung

durchströmt; sie trägt die Angst und Verzweiflung im Angesicht der Zerstörung der Erde

und den Lebensschrei eines Menschen, welchem der Atem abgeschnürt wird. Doch sie ist

auch das Refugium der Hoffnung inmitten der Verwüstung, und der Kelch der Vergebung

für unsere Menschlichkeit angesichts der Gewalt, die der Mensch über die Erde ausbreitet.

Die Scham davor, ein Mensch zu sein, die Deleuze als den Motor des Schreibens nannte,

der Zorn über Unrecht und Niedrigkeit, Baldwin antrieb, die Suche nach alternativen

Lebensweisen, die LeGuin ein Universum imaginieren ließ, sowie der wahre Optimismus,

der sich Sartre zufolge erst nach der Verzweiflung einstellt, sind uns zu eigen. Unser

Verbündeter im Kampf um eine Zukunft, sind weder die Muse der Dichtung noch der Engel

der Geschichte, sondern der dionysische duende, der sich Lorca zufolge nur dann zeigt,

wenn er die Gefahr des Todes erblickt, um mit Ideen, Klängen und Gebärden „mit dem

Schaffenden, am Rande des Abgrunds zu ringen.“

Die Wunde, die der Mensch in die Welt gerissen hat, wird niemals verheilen, doch im

Versuch, die äußeren und inneren Verletzungen zu mildern, welche die Menschheit in die

Welt einbrennt, liegt die Kraft und Würde der Dichter des Anthropozäns. Sie kämpfen mit

dem duende der Poesie am Abgrund, einhundert Sekunden vor Mitternacht. Sie dichten,

um mit den Mitteln der Poesie die Sensibilität zu verändern, um die Welt zu verändern.