Leona Stahlmann

Mutterland

Wenn wir den Tag noch nicht benutzt haben, liegt er vor uns wie ein leeres Dokument. Wir könnten frei auf vielen Tasten hineinklappern, was uns einfiele. Wir könnten es schließen. 

Unsichtbar im Dokument hat einer schon etwas angelegt. Die Formatvorlage, in der wir klappern. Nicht wie wir wollen, sondern wie es zum Geschäft gehört. Unser Geschäft ist das Klappern: mit flachen Tastaturen, auf denen unsere Fingerspitzen kühl aufliegen, schreiben wir uns in die Ohren und Augen und hinter die Stirnen der anderen. Stirnen, die glatt und kühl sind wie unsere Tastaturen. 

Auf unseren Arbeitstischen, die glatt und kühl sind, liegen unsere Unterarme auf bis zum Mittag und vom Mittag bis zum Abend und wir spüren unsere Adern blau auf unseren Gelenken sitzen und ihre Wärme an den großen Raum und die Tischplatten abgeben. Unsere Großväter haben Dinge gemacht und verkauft, unsere Väter haben Dinge, die sie kauften, verkauft, und wir verkaufen eine Idee von Dingen, die andere verkaufen; die bloße Vorstellung von etwas: Wir werben. 

 

Wir heißen Mutterland. Zu Beginn jeder Woche und wenn uns jemand danach fragt, stellen wir uns im Kreis um das Wir und lassen in der Mitte viel Platz und füllen mögliche Lücken, die von außen sichtbar sind, mit Schweigen auf, das hoffentlich bedeutsam klingt und nicht so ratlos, wie wir uns fühlen. 

So stehen wir Woche für Woche und Jahr für Jahr.  

Oft kommt es vor, dass einer fehlt, weil er gegangen ist. 

Er steht dann in einem anderen Kreis in einem anderen Land und womöglich im Gebäude gegenüber, denn all die anderen Orte für Leute wie uns liegen in einem einzigen Viertel dieser Stadt, Vaterland und Heimatland zum Beispiel, da waren viele von uns vorher oder werden nachher sein und Lücken in einem der Kreise hinterlassen und einen anderen mit seiner schmalen Gestalt auffüllen. 

 

 

Schmal sind wir und wir tragen weite Kleidung, die bei vielen von uns mit einem einzigen kleinen Wort bedruckt ist, da steht dann „Zucker“ oder „Adorno“ oder „Kursiv“. Warum das so ist, darüber legen wir vorsorglich und sorgfältig unser bedeutsames Schweigen und hoffen, dass es niemand beiseite zieht.  

Unsere Kleider sind hellgrau oder weiß oder schwarz, sie schwingen weit wie die Röcke unserer Mütter und berühren uns kaum, so sind wir fast wie im Urzustand, natürlich, nackt und frei. Adam und Eva teilen sich einen Apple-Mac während der Pitch-Präsentation und der Chef von Mutterland geht in der Mittagspause mit der Agenturschlange um den Block, damit sie die Schlange von Vaterland anzischeln kann, während sie auf der Wiese zwischen beiden Ländern ihr Geschäft erledigt.  

 

Während wir auf unseren Tasten klappern, windet sich unsere Schlange um unsere Fußknöchel, auf denen wir Zeichen tragen, die wir uns an den Abenden gegenseitig mit Nadeln und Tinte stechen. Wir tragen auch Zeichen an den Waden, auf den Armen und Schultern, Rücken und Bäuchen, manche auf den Händen, keiner im Gesicht, wir wollen entdeckt werden. Wir wissen ziemlich oft nicht, wer wir sind und was man in uns entdecken könnte, aber wir wissen, dass wir eines sind: Bezeichnete. 

 

 

Wir sollen die Schlange regelmäßig streicheln, das soll gegen das Ausbrennen helfen, wenn wir klappern und klappern, bis unsere Köpfe auf unseren Tastaturen aufliegen und unsere Kinne und Wangen viele kleine Zahlen und Buchstaben in die Dokumente drücken und die Tasten auf uns zu sehen sind, bis wir spät in der Nacht in unsere Betten fallen, jeder in seines und manche in ein gemeinsames, das ist manchmal praktisch, so können wir uns die auf den Tischplatten ausgekühlten Unterarme aneinander wärmen und unsere frisch gestochenen Zeichen mit Fett einsalben an den Stellen, an die wir selbst nicht herankommen. 

 

Wir wissen, dass man heute die Wirklichkeiten nicht mehr zählen kann. Sie sind so unzählbar wie die Glitzerpartikel, von denen wir fäustevoll in den Sommernächten in die Luft geworfen haben und die Partikel dieser Sommernächte kommen später einmal aus unseren Wasserhähnen und sie werden uns jeden Tag in großen Glasflaschen auf die Schreibtische gestellt und wir trinken sie als Mikroplastik zwischen Ingwerstücken und Zitronenscheiben, jeden Tag drei Liter, sie glitzern nicht mehr, aber man schmeckt sie auch nicht, keiner hat sie je gesehen, vielleicht gibt es sie nicht, wir hoffen das. Wir hoffen das wirklich. 

 

Die Wirklichkeiten sind also so viele geworden, so zahlreich wie die ordentlich gesetzten Stationen unserer Lebensläufe, noch bevor wir 35 werden, denn danach sieht sich unsere Lebensläufe keiner mehr an, nicht mal bei Indianerland, und da will nun wirklich keiner hin,  

  

die haben ja nicht einmal einen politisch korrekten Namen, und man sagt, es soll auch keine Mandelmilch am Frühstücksbuffet geben, aber vielleicht ist das ein Gerücht. 

 

Wo waren wir, die Wirklichkeiten, Entschuldigung, wir müssen oft viel gleichzeitig tun, den Faden zu verlieren ist quasi unser Beruf, also, ihn gar nicht erst festzuhalten, sondern ganz viele Fäden in der Hand zu haben, wir wissen nicht, wohin sie führen, aber das ist auch nicht unsere Aufgabe. Fäden. Ja. Wirklichkeiten! Bei so vielen jedenfalls ist es gut, dass alle, die den Sienna-Fotofilter für ihre Postings benutzen, sich auf eine Wirklichkeit geeinigt haben, und sie ist schön, ist genau richtig weich, ohne unscharf zu werden oder fleckig, selbst verhangener Himmel wirkt mit dem leichten Gelbstich des Sienna-Filters sonnig, so gelingt jede Aufnahme vom täglichen Sundowner auf dem Dach des Mutterland-Hochhauses, obwohl es viel regnet in dieser Stadt. 

 

Wir sollen uns hier zu Hause fühlen, so haben sie es uns gesagt, und wir waren Ausgehungerte und Suchende gewesen, nach dem Studium in großen Städten und im Ausland und zwischendrin einem Aufenthalt in dem, was wir ganz früher Heimat nennen mussten, weil wir nicht sofort unsere Plätze bei Mutterland bekommen hatten und uns das Geld ausgegangen war.  

In den Küchen unserer Eltern hatten wir drei Monate Dampfnudeln gegessen und Sauerkraut und in den Betten geschlafen, in denen wir gelernt hatten, uns selbst zu befriedigen, und hatten mit sanfter Überraschung begriffen, dass wir die Magie dieser Entdeckung verloren hatten, dass Selbstbefriedigung uns nicht mehr zufrieden machte und wir vielleicht unzufriedener waren als jemals und wir oft mit Händen, noch zum Masturbationsbeginn auf unsere Körpermitten gelegt, einschliefen und es irgendwann nicht mehr versuchten und unsere Zeigefinger nachts um den Aktualisierungsbutton unserer Jobprofile kreisten statt um unsere oder fremde Brustwarzen. 

 

Weil Mutterland jetzt unsere Heimat und unser Zuhause ist, ist unsere Sprache miteinander zärtlich. Wir legen uns gegenseitig die Worte in die Münder wie unsere Mütter, wenn sie Vögel und wir Vogelkinder gewesen wären, uns Nestlingen die Würmer; bevor sie zu zucken beginnen, schlucken wir sie herunter. So gleiten uns Aufträge in die Hälse und Beförderungen, Kündigungen und Kritik, und wir schlucken immer schnell und dann klappern wir schneller. 

 

 

Wir nennen uns Herzallerliebchen und säuseln uns Schätzchen hinterher; das fühlt sich meistens amerikanisch oder ironisch an und an anderen Tagen erinnert es uns daran, wie unsere Mütter und Väter uns ins Bett brachten und die Sprache der Liebe das gewesen ist, was den Raum um unsere kleinen Körper unter eng gesteckten Bettdecken zur Heimat gemacht hat. 

 

Die Sprache unserer Elternhäuser haben wir abtöten müssen, um in der zu leben, die jetzt die Behausung für unsere Zungen ist, in der unsere Zungenspitzen sich treppauf und treppab bewegen, zuerst holpern und poltern sie, stoßen an den Ecken an, verwechseln Zimmer. Dann richten sie sich ein im Vorgefundenen, machen es zu ihrem und wir öffnen wieder die Münder, empfangsbereit sperren wir sie auf, wir Vögel, und Mutterland legt uns jeden Tag neue Worte darauf, die oft englisch sind, in jedem Fall sehr kurz, und wir biegen die Zungen darum und ziehen sie in unsere Mundhöhlen und schlucken sie und würgen sie hoch, wann immer es uns passend erscheint oder wenn wir uns allein fühlen und dann wissen wir wieder, wohin wir gehören und dass wir ein Wir sind und unsere Zungen ein gemeinsames Gebäude bewohnen, in dem es Mandelmilch zum Frühstücksbuffet gibt und auch Schlafplätze, wenn wir bis in die Nächte klappern müssen, und der Postbote bringt uns zu Mutterland, was wir in den Pausen im Internet bestellt haben: Heimat ist der Ort, an den unsere Pakete geliefert werden. 

 

Unsere Sprache ist in unseren Mündern mit der Zeit gewichen wie von den Zähnen schmelzendes Zahnfleisch, das die Zahnhälse empfindlich zurücklässt. 

An die Stelle der Sprache sind die Bilder getreten, für jedes Gefühl gibt es zum Beispiel ein Gesicht, das leichter zu finden ist als ein Wort, man kann es viel flinker in die Nachrichten einfügen. Besonders oft benutzen wir die Gesichter mit den zum Kuss gespitzten Mündern und den Herzchenaugen, wir schicken sie einander zu oder schreiben sie uns gegenseitig unter die Sundownerbilder; die Bilder stehen niemals still, das Fehlen der Sprache in unseren Mündern hätte sonst empfindliche Zahnhälse zurückgelassen, wir schützen unsere Zähne und uns vor der Empfindlichkeit, unsere Zähne sind uns wichtig. Sie müssen immer sehr hell sein und so glatt wie unsere Arbeitsplatten. Die von Mutterland eingekürzte Sprache ist zu wenig, um bis an unsere Gaumen zu reichen, und sie geht uns schnell aus, wenn wir in Gruppen umeinander stehen auf Dächern oder in Bars nach Sonnenuntergang. 

 

Wir produzieren täglich Bilder nach, bei Mutterland und auch draußen. Es darf niemals keine Bilder geben. Können wir sie einmal nicht aufnehmen, weil unsere Geräte uns schwarze Bildschirme zeigen, nehmen wir hektisch unsere Nadeln und tauchen sie in Tinte und stechen uns neue Zeichen um unsere Kniescheiben, neue Bilder, die dann bleiben und auf die wir immer gucken können, falls wir einmal irgendwohin geraten sollten, wo es keine Bilder gibt. So einen Ort können wir uns nicht vorstellen, aber vielleicht gibt es ihn. 

 

Wir nennen uns Ideenmacher. Unsere Arbeitsräume dürfen darum keine Büros sein wie die grauen Räume, die dumpf und nach Innenohr riechen, in denen unsere Eltern ihr halbes Leben verbracht haben, wir haben Werkstätten und Manufakturen, wir sind ehrliche Handwerker, nur eben im Kopf.  

Unser Kaffee fließt aus der Siebträgermaschine wie schwarzes Öl.  

Manchmal stehen wir an grob behauenen Holztresen in der Mitte von Mutterlands Räumlichkeiten, wir tragen karierte Hemden aus Flanell und trinken handgebrautes Bier am Feierabend. Um den Holztresen haben wir Heuballen gruppiert, die riechen gut und passen in Mutterlands Konzept, das bodenständig sein soll und geerdet und sehr ursprünglich, ein Zuhause für jeden, gerade für Kunden, die sich wohlfühlen sollen. Die Heuballen schaffen wir monatlich von einer Lieferwagenladefläche ins Haus, wir nennen das „Heu machen“, wir haben dann gearbeitet, wir sind müde, wir wünschen uns, das rechtschaffen nennen zu dürfen. 

 

 

Zu Weihnachten bekommen wir von Mutterland nachgiebige schwarze Schaumstoffkugeln geschenkt, in die wir eine Wut hineinkneten sollen, die wir nicht empfinden: Es geht uns gut.  

Einer von uns findet in der Pause eine Lösung für unser letztes Problem: Wir können ohne Bilder nicht einschlafen, aber schlafen kann man auch nicht, wenn man die Augen im Bett nicht vom Bilderstrom der Geräte löst und immer wieder mit dem Daumen aktualisieren muss.  

Wir können uns nichts mehr vorstellen, aber wir können uns alles, was sich jemand anders mal vorgestellt und ein anderer oder eine Maschine dann gebaut hat, im Internet bestellen, und einer findet und bestellt die Lösung: sie kostet 3,99 Dollar mit Versand und die Lieferzeit von Korea bis zu unserem Arbeitstisch beträgt genau 6 Tage. Die Lösung ist ein Sternenlichtprojektor. 

 

In dieser Nacht schlafen wir alle bei Mutterland. 

Wir liegen wie Seesterne ausgebreitet auf dem polierten Waschbeton zwischen unseren Schreibtischen und halten uns an den Händen. Wir sehen an die Decke, an den von uns aufgesprühten Motivationssprüchen auf den Wänden vorbei direkt in die Milchstraße. Das  

Sternbild der Cassiopeia grenzt noch an „Creativity is intelligence having fun“, dahinter löst sich Mutterlands Manufaktur für Ideen in die Unendlichkeit auf.    

 

Wir räkeln uns, wir fühlen uns wohl unter den leuchtenden Punkten, die der Sternenlichtprojektor in die Raumschwärze wirft. So viele Sterne haben wir zuletzt im Planetarium gesehen, als wir Kinder waren, wir erinnern uns, dass es dazu sphärische Musik gab und einen Sprecher mit einer bärigen Vorleserstimme, der uns die neun Planeten erklärte, wir fangen an, sie aufzuzählen mit diesem Reim: Mein Vater erklärt mir jeden Sonntag unsere neun Planeten, und uns fällt ein, dass das nicht mehr geht, dass der Reim nicht mehr gilt, weil Pluto kein Planet mehr ist und es jetzt also nur noch acht sind. 

Irgendjemand bittet unsere Sprachassistentin, sphärische Musik zu spielen und sie spielt etwas Klassisches, das wir irgendwoher kennen, uns liegt der Titel auf der Zunge und der Komponist, aber unsere Erinnerung passt sich manchmal unserer gekürzten Sprache an und reicht nicht mehr aus, uns den Schädel ganz zu füllen oder sie findet keinen Platz zwischen den Bildern.   

 

Wir fühlen eine Wohligkeit, die uns an unsere Kinderkörper unter den engen Decken erinnert, nur ist sie noch besser, weil um uns nichts ist als wir selbst und über uns die Sterne, vielleicht ist es eine Vorahnung auf das, was bald unsere Heimat sein wird, wenn dieser Planet unbewohnbar ist, wenn wir im All zu Hause sind. Wer weiß, welche Sprache wir dort sprechen und wen wir dort treffen werden; da ist es gut, dass wir uns an den Händen halten auf dem Boden von Mutterland und statt Worten, die nicht alle verstehen, viele Bilder für alles haben und schon jetzt an Filtern arbeiten, mit denen wir im kalten Licht des Mars oder auf dem Mond gut aussehen werden und unsere Zähne, die sich nicht an zu viel Sprache müde kauen müssen, werden glänzen.