Kathrin Vieregg

Eckbank

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Von oben sahen die Felder niedrig aus, platt aus. Von oben
sah der Traktor winzig aus, und ihr Opa Paul sah auch winzig aus, nur die Kühe: die
sahen nichts, die standen in der Halle, die ihr Vater meinte, wenn er sagte: ich geh
in den Stall zu den Kühen. Dahinter war die kleine Mauer zu finden, wo ihre Mutter
sie finden konnte, von wo sie abends: auf die Felder sah.

kitschig: minderwertig, geschmacklos
kitschen: schmieren, streichen
verkitschen: etwas, das als ernsthafter, künstlerischer Beitrag galt,
so bearbeiten, dass es überzogen wirkt

ALSO
sagt Roland, als er mit Susanne zum ersten Mal durch die Felder geht: das ist der Hof. Ah: das ist also der Hof, sagt Susanne, als sie im Hoftor steht, die Halle sieht, Paul sieht. Und wenn mich die Klasse fragt, wo ich im Urlaub war, sag auch ich später: also, na ja: das ist halt der Hof.
Also zeigt Mama: auf die leere Wand überm Sofa. Sie sagt, hier könne man die Fotos sehen, die es niemals geben werde. Sie zeigt: auf die weißen Stellen – wir drei im Sessellift, sagt sie. Wir drei in Pisa, oder: wir drei vor den Niagarafällen. Und Papa sagt: nichts. Papa geht raus in den Stall zu den Kühen, und ich: lauf
raus zur Mauer, lauf weiter.

DER WALD begann hinter den Feldern. Der Wald sei wie der Hof, sagte meine Mutter, der würde uns nur zum Teil gehören. Dabei gehörte der Wald doch: mir ganz allein.
Der Wald endete am Feld, und der Hof: der begann am Zaun.

DER ZAUN – das war so ein Jägerzaun, ganz klassisch braun. Durch die Rauten fütterte ich das Kaninchen mit Löwenzahn. Vielleicht hätte mir das schon damals zeigen sollen: bei Lücken geht’s gar nicht ums Füllen, es geht darum:
hindurchzugelangen.

HINDURCHGELANGEN ist schwierig im hohen Gras, wirklich schwer. Also, wenn man die Wege nicht kennt, das Muster nicht kennt, die Blühstreifen-Formation. Wenn dich der Schotter nicht kennt, der die Kanten bildet, der aus den Feldern: Quadranten macht. Für mich aber: wölbt das Heu Gänge: durch seine Ballen-Türme, und drunter:
leuchtet die Halle.

DIE RÖHREN in der Halle gehen immer nacheinander an. Sie verlaufen: parallel zu den Kühen. Schaltuhr, ein Sensor und Stäbe, die rot sind und warm. Infrarot-Röhren, sagt Mama, mit Infrastruktur hätten die aber trotzdem: eher nichts zu tun. Rein gar nichts sogar!, sagt Opa, und lacht, und entdeckt gerade noch rechtzeitig vor dem Strahlen,
zwischen den Röhren:
das Nest.

die kitschige empfindung als: eine dümmlich tröstende (i)


DAS MÄDCHEN rennt durch den Mais, schwimmt durch die Felder, taucht in der Blechbadewanne im Hof. Opa Paul steht im Küchenfenster, Unterhemd, stützt sich aufs Fensterbrett: lacht. Über die Brille, den Schnorchel, den Urlaub am Meer und: Biogasanlagen. Aber Mädchen, die müssten schon auch was vertragen können, meinte er dann viel später und schob: sein Glas rüber zu mir.

DER BLICK auf jedes Glas hängt vom Blickwinkel ab. Der Blick auf den Hof: auch. Außerdem von der Tageszeit, vom Optimismus, dem Einfall der Sonne, der Trockenperiode, vom Agrarwetter und dem Nitrat, nein!, sagt Papa, vom Nitrit! und vor allem: von der Erinnerung. Von betriebswirtschaftlicher Sturheit (Susanne), vom Veganismus (Paul), vom Bauernverband (Roland) und halt vor allem: von der Erinnerung. Und die hängt, so wie immer: von der Erzählerin ab.

DAS MÄRCHEN ist der Mauer egal. Ist den Mauerseglern egal. Ist den Feldern komplett egal, ist der Volksbank egal, ist dem Abend total egal. Und trotzdem kann dir das doch nicht alles so verdammt scheißegal sein!, schreit Roland und Susanne sagt: ein letztes Mal noch, ein allerletztes: die Milch rechnet sich einfach nicht mehr.

verkitschen: regional, umgangssprachlich. etwas unter preis verkaufen

DIE MILCH ist aber immer die Milch gewesen. Die Milch, schreit Papa. Milch!, schreit Opa. Milch, schreien die Kälber, kriegen aber nur Pulver. Die Milch hätte sich schon ewig nicht gerechnet, sagte Opa, das sei also kein Argument, und lachte, lachte: nannte uns alle Mondkälber und zog: rüber vom Hof auf den Friedhof.

DIE MILCH ist immer die Milch geblieben.

selbst, wenn es zu stereotypisierten formen führt,
wird das festhalten an traditionen nicht als kitsch empfunden (ii)


ES BLEIBEN: die Wege, die Pfade, die Spinnen, mein Vater.

Susanne: bleibt nicht. Und deine Tochter wird auch nicht ewig hierbleiben! Das muss dir doch klar sein, du Mondkalb!, ruft Opa, jedenfalls kommt es Roland so vor, und er sitzt, und er sitzt, und sitzt auf der Mauer hinter der Halle. Drinnen
gehen die Neonlampen – an – an – an – an – die ganze Halle entlang, bleiben brav parallel: zu den Kühen, bleiben parallel zu den Spalten im Grund.

DIE RILLEN bilden den Untergrund. Als Kind träumte ich, etwas könne mir dazwischen fallen, reinplumpsen, weg sein. Die Rillen stehen für: das Stehen der Kühe, meinen aber heimlich: das Stürzen der Kühe. Die Rillen: träumte und träumte und träumte ich. Dabei war der Abstand: immer exakt gleich 25 mm, hatte ich nachgemessen: mit Geodreieck.

DER ABSTAND vom Hof zum Gymnasium. Von der Mauer zum Wald oder zum nächsten Sendemast. Der Abstand von Opa Pauls SPD zur Koalition, der vom Nahverkehr, der von Kartoffeln aus Ägypten und Abstand (redest du nur mit den Kühen oder wieso benutzt du kein Synonym für Abstand) wird am besten umschrieben mit: Abstand.


kitsche: schlamm, der im straßenbau anfällt

DER ABSTAND ist schotterweglang, landstraßenlang, autobahnlang. Der Abstand wuchs drei Altbaustockwerke hoch, aber ich brauchte ihn nicht, um den Hof scharf zu sehen, alles Zarte daran, obwohl das oft gesagt wird: den Abstand, den brauchst du erstmal! Den Abstand meint Roland auch, wenn er am Telefon: ihr
sagt, wenn Papa an Weihnachten unterscheidet zwischen: bei euch und: bei uns. Obwohl er ja nur einer ist, und ich ja: nur eine bin. Das war das Jahr, in dem mein Vater später noch ausgerastet ist, weil ich nichts vom Braten wollte. Und ich eigentlich gar nicht hatte provozieren wollen, sondern: eine Magenschleimhautentzündung hatte.

kitsch vereinfacht
die gegebene komplexität
eines problems unangemessen (iii)


UND
ich renn über den Hof, renn um die Halle, zur Mauer, durch Felder, Quadranten, auf den Kanten entlang. Lauf in den Wald, verlauf mich im Wald, stolper aus dem Wald, fall in den Bummelzug, in einen schnellen Zug: Schummelzug! ras in den Untergrund – dann: eine Rolltreppe hoch, google maps lang, Klingel: dritter Stock, Altbauflur runter, Küchen-Kaffee: was halt übernommen werden müsste, wär das Hochbett: na klar, ne, ne: gar kein Problem.

EIN HOCHBEET sagte Opa, und lachte immer, wenn Beiträge kamen: über das Heimwerken mit Europaletten, über Fassadenbegrünung und Großstadtsolar. Diese Mondkälber, lachte Paul, und der Moderator lachte auch, bis die Tagesschau anfing, und da lachte: niemand mehr: das kann ja nicht wahr sein, sagte Opa immer, das gibt’s nicht.

ES GAB: uns drei im Heißluftballon. Und ein Foto davon: es war der Hochzeitstag meiner Eltern. Hoch müssen wir!, meinte Papa, noch höher! und von oben dann: auf die Felder sehn. Ein kleiner Punkt hinterm Stall, und wir dachten: entweder Opa Paul oder die Schubkarre, die neben der Mauer steht. Das Hallendach hat die Sonne reflektiert. Wie gemalt, meinte Roland. Wie gemalt, meinte Susanne.

die elementarteilchen des kitsches: klischees (iv)

DIE BILDER im Studium nenn ich: Schaukel / Geranien / Gluten
und der Kurs: sieht die röhrenden Hirsche darauf. Mein Abschlussbild dann:
Ich auf Eckbank.

der kitschvorwurf geht meist nicht auf einen mangel an wahrheit,
sondern auf die psychologische berechnung des kitsches. (v)
wer kitsch herstellt: ist ein schlechter mensch.
oder, weniger pathetisch gesagt: ist ein schwein (vi)

DAVOR
sitz ich hinter der Halle.
sitz ich auf meiner Mauer.

DAVOR NOCH
öffnet Edeka, hallengroß und leuchtet gelb.
fällt mir ein Zahn durch die Rillen, mein Vater schenkt mir: ein Gefäß.
träume und träume und träume ich. Dass Kühe Herdentiere gewesen sind.

NOCH VOR ALL DEM
hat nie nie nie nie nie nie wieder wer: etwas so Schönes wie: die Felder gesehn.

DIE QUADRANTEN
werden unterteilt durch: Hecken, für die Insekten. Und gegen die Bodenerosion. Auf I: steht der Mais.
Auf II: da steht auch Mais.
Auf III: steht ein Kalb, wie ein Phantomschmerz. Ein Hologrammtier, Phantomkuh:
ein Mondkalb.
Auf Quadrant IV: steht der Makler (mitten im Roggen?!), er sagt: Verkauf oder Heuhotel: glauben Sie mir, Städter:innen lieben sowas! und haben Sie schon Heublumenkäse, Sauerteigbrot? oder halt: Bio-Umbau! der Boden gibt das nicht her, sagen Sie? wieso sagen Sie nichts mehr?

DAZWISCHEN steht: ein Bauer mit Tochter. Steht ein Bauer: mit Hof. Ein Hof mit Dach: das noch nicht abbezahlt ist. Dazwischen steht: eine Halle: ohne eine einzige stehende Kuh. Und hinter der Halle: sitz ich. Ohne jegliches betriebswirtschaftliches Interesse und mit jeder Menge: Grasallergien. Aber zwischen den Hecken lenkte ich so oft auf den Wegen, auf dem Schotter: nach Haus – kam auf dem Rad nachts: durchs Hoftor, wo meine Mutter stand: mich sah, ich so: voll: Erde Schminke Schnee war. Und sie nur sagte: oh Gott sei Dank, oder wem auch immer da oben, kein‘ Schimmer: sie ist nur betrunken, sie ist wieder da.

die verteidigung von kitsch konzentriert sich zumeist
auf die qualität des zugebens einfacher gefühle (vii)

und vielleicht geht es auch darum:
zu lernen, sich für den eigenen,
ganz speziellen, röhrenden hirsch
nicht mehr zu schämen (viii)

DA RÜBER

zieht Methan in die Luft: als würden Höfe Hallen Nester Dächer Röhren Rillen Ballen Banken Kühe gar nicht dranhängen, Märchen: die steigen: hoch, hoch wie Heißluftballone, und –

NOCH VIEL HÖHER: sitz ich. Gleich neben Mama. Sie hält die Kupplung, ich Capri-Sonne. Und Papa ruft: durch den Traktorenlärm, winkt uns, nur Mama: hält mit dem Traktor: nicht an: er muss im Fahren aufspringen, schweinegefährlich ist das: echt saudumm, aber: er schafft es: und weiter, sie brettern: weiter mit mir, und guck doch!, rufen sie: schau hin! die Felder: im Abend. Gleich ist Sonnenuntergang.


i Theodor W. Adorno – Ästhetische Theorie
ii Frank Illing – Kitsch, Kommerz und Kult. Soziologie des schlechten Geschmacks
iii Julia Gens – Diskurse der Wertung
iv Frank Illing – Kitsch, Kommerz und Kult. Soziologie des schlechten Geschmacks
v Wikipedia – Kitsch
vi Hermann Broch – Das Böse im Wertsystem der Kunst
vii Wikipedia – Kitsch
viii Kuno Nensel – Warum wir Kitsch brauchen