Katherina Braschel
ICD-10 - F63.9
Ich denke an den knackenden Buchrücken neben meiner Matratze, denke an das
Kapitel, das sich gerade an den löchrigen Parkettboden darunter anschmiegt, denke
daran, zuletzt Epidermis gelesen zu haben, und: Das, was wir sehen, ist längst tot.
Während deine Finger über meine Wirbelsäule streifen, die versprochenen Band-
scheiben zwischen meinen runden Knochenmalen suchen, frage ich mich, wie viel
Verfall du an mir ertastest. Wie viel Auflösung sich gerade in die Papillarlinien deiner
Fingerkuppen legt.
Ich denke daran, dass die Haut mit einer Fläche von 1,5 bis zwei Quadratmetern und
einem Gewicht von zehn bis vierzehn Kilogramm vielleicht circa der Decke ent-
spricht, zu der ich dir vor ein paar Wochen den Link geschickt habe. Mit dem grübeln-
den Smiley, die Hand am Kinn, und der Frage, ob du glaubst, dass ich mir die Decke
selbst zum Geburtstag schenken sollte. 28 Tage Schlafgarantie, und ich musste an
Dornröschen denken. Völlige Entspannung des Körpers und Nervensystems, und ich
musste an Heroin denken. An die Schwester meines Vaters und an die Treppen, von
denen er mir erzählt hat, dass sie sie nachts hinuntergefallen sei.
Die Decke heißt Gravity, und natürlich musste ich dabei sofort an deine Weltraum-
Sehnsucht denken. An all den Schrott irgendwo über uns. Und daran, dass ich dir
einmal gesagt habe, dass es eigentlich schade ist, dass so ein All-Suizid für dich
nicht in Frage kommen kann und du nicht gefragt hast, warum.
Die Häkchen unter meinem Link waren zwei Minuten nach meinem Absenden blau,
geantwortet hast du mir eine Woche später. Mit einem Partyhut-Smiley und der
Frage, ob wir dann gemeinsam unter meiner Therapie-Decke liegen könnten oder ob
auch deren Umarmungssimulationen limitiert wären.
Jetzt steckst du deinen Mittelfinger an meinem Steißbein entlang in meine Hintern-
falte, und ich merke, wie ich feucht werde. Ich frage mich, wie etwas tot sein kann,
das deine Berührung bis zu meiner Klitoris weiterträgt, wie etwas tot sein kann, das
unter deiner Zunge nicht sofort zerfällt.
Aber vielleicht zerfalle ich auch, wer weiß das schon, denke ich, vielleicht ist der
Staub unter meinem Bett viel mehr ich als das, was du gerade auf den Rücken
drehst und zu lecken beginnst. Bei einem sechsmonatigen Aufenthalt im All nimmt
die Hautstärke der Astronauten um 20 Prozent ab., denke ich, während ich komme.
Später sitze ich in der U-Bahn, fühle, wie die einzelnen Plastikhärchen des Sitz-
bezugs in meine nackten Oberschenkel stechen, stelle mir vor, wie sie an meinen
Haarporen entlang in meine Haut gleiten, fast unbemerkt. Wir haben uns nie in der
U-Bahn, haben uns nur einmal im Bus voneinander verabschiedet. Du hast gefragt,
ob ich mit dir bis zur Endstation fahren will, wo du aussteigen musst, und dann wie-
der zurück zu meiner Station. Weil ich Zeit habe und auch, um dem Regen zu ent-
gehen, um die Klimaanlage im Bus noch länger auszunützen. Ich habe hinter dich
gegriffen und dir angesehen, dass du dabei an einen Kuss gedacht hast. Habe die
Gänsehaut in deinem Nacken gesehen, an Piloerektion gedacht und dir meine Hand
auf den Oberschenkel gelegt.
Zehn Minuten später habe ich Käsetoast gegessen und deine Umarmung von mei-
nem überhitzten Körper verdunsten gerochen. Habe mich gefragt, zu wie viel Prozent
deine Haut an meiner, deine zellulären Umarmungsreste zwischen meinen Rippen,
zwischen meinen Schulterblättern, aus den Duftstoffen bestehen, die ich jetzt in
Sofapolstern zurücklasse. Ich habe die Fotogalerie auf meinem Handy geöffnet,
zwischen einem Flyer von fundamentalchristlichen Abtreibungsgegner*Innen mit mei-
nem Mittelfinger davor und einem dreistöckigen Kartenhaus in einer Bar das Foto,
das ich dir irgendwann schicken wollte, doch nie geschickt habe. Insbesondere im
Zusammenhang mit emotionalen Regungen wie Wut, Schmerz, Angst, aber auch
Freude, Lust und sexueller Erregung wird die Sekretion der Duftdrüsen, auch
apokrine Schweißdrüsen genannt, nervös vermittelt gesteigert. Ich musste an Rou-
lette denken, damals, muss heute immer noch an Roulette denken, wenn ich die ab-
fotografierte Seite aus meinem Buch auf dem Display lese, habe mich gefragt, aus
welchen emotionalen Regungen der Cocktail deiner Umarmung bestanden hat, wie
oft du in dir umrühren musstest, um so zu riechen.
Ich nehme das Essstäbchen, das Klopapier und die alte Pinzette und steige in die
Dusche. Meine Fußsohlen hinterlassen dreckige Spuren an der scheuermilchweißen
Wannenwand. Ich stecke das Essstäbchen in den Abfluss, bohre, drehe, ziehe
lange, graufeuchte Klumpen heraus. In den Klumpen steckt das, was die letzten Mo-
nate aus uns herausgeflossen ist. Ich stecke meinen Finger hinein, stecke meinen
Finger in dich hinein, es macht ein nasses Geräusch, und ich schiebe mir die grau-
feuchten Reste deiner Hautschuppen, deiner Haarwurzeln, deiner DNA unter die Nägel.
Ich frage mich, wo meine Hautschuppen jetzt sind. Die, die du von mir abgerieben
und mitgenommen hast, das letzte Mal. Frage mich, wohin du überall mein Abster-
ben verteilt hast. Der Weg von meiner Wohnung zu deiner ein Stickeralbum der Ver-
luste.
Wir gehen immer und zu jeder Zeit verloren, denke ich. Der Schorf meines auf-
geschlagenen Knies in deinen Sofapolstern, die Salzkristalle meiner Halsbeuge in
deinen Zungennoppen, mein Ohrenschmalz in deinen Unterarm-Haaren, während ich
auf ihnen wach liege.
Ich stehe vor meinem Badezimmerspiegel, habe mich ausgezogen. Meine Haut
passt mir nicht mehr, denke ich und schiebe sie, schiebe mich über meinem Schlüs-
selbein hin und her. Zwischen 0,03 und 0,05 Millimeter, zwischen 12 und 200 Zell-
schichten Tod in Bewegung.
Etwas zieht innen an meiner Halsschlagader, wenn ich mich in Richtung meiner
Schulter schiebe. Ich drücke meinen Zeigefinger dorthin, wo es pulsiert, drücke ihn
tief hinein in meinen Hals, denke an Carotis, atme ein, und es rauscht in mir, ver-
setze in einen tiefen Schlaf, atme wieder aus. Ich könnte jeden Tag in eine Excel-
Tabelle eintragen, wie viele Stunden ich mit der Wand schräg über meinem Bett ver-
bracht habe, könnte irgendwann bunte Tortendiagramme mit ungeschlafenen Stun-
den erstellen, PowerPoint-Präsentationen mit Einblendeffekten aus den 2000ern. Dir
einen USB-Stick zum Geburtstag schenken, all meine gehäuteten Daten in buntes
Papier verpacken, roh, mich an den Kanten schneiden, mich an der Abrissstelle des
Klebestreifenhalters schneiden, mich abziehen und dir diesmal die sichtbaren Reste
mit einpacken, in eine Grußkarte rieseln lassen und abschicken.
Ich blicke an mir nach unten. Auch die Häute meiner Augen passen mir nicht mehr,
sind ausgeleiert und spröde geworden, ich schließe sie nur mehr zum Masturbieren.
Sie haben Kies zwischen ihren Schichten, knirschen bei jeder Bewegung.
An den Lippen hängt sie mir in Fetzen, hängen mir alle drei bis fünf Zellschichten im
Vergleich zu den bis zu 16 Zellschichten der übrigen Gesichtshaut als zerstürmte Gir-
lande herab. Dass sie es ist, die tot ist, fällt mir nicht schwer zu glauben. Ich beiße,
ich ziehe an, reiße auf, ich blute, das weiße Fetzchen Haut zwischen meinen Finger-
kuppen. Ich schnipse es in das Waschbecken, es bleibt dort an einem Zahnpasta-
Rest hängen, legt sich an seine Oberfläche an. Ich muss an Vollhaut und Spalthaut
denken, an Walter Yeo, den du nur den Superhelden nennst, frage mich, wie der
Fetzen Lippenhaut, wie der Fetzen Ich zwanzig Zentimeter unter mir mit den grün-
weißen Streifen der Zahnpasta reagiert. Ich stelle mir vor, wie mein abgerissener Fet-
zen dort unten wieder den für die übrige Körperhaut des Menschen üblichen Hydro
Lipid-Film findet, ein nicht reproduzierbares Stück Medizingeschichte wird, unerkannt
und reanimiert im kalten Keramik zurückbleibt.
Später werde ich den knackenden Buchrücken zerblättern, seine Leimwirbel ein wei-
teres Mal auf meine nackten Oberschenkel rieseln lassen, die Bleistiftunter-
streichungen Fremder als Daumenkino einer Vergangenheit. Zwischen ihnen das Un-
terkapitel: Kompetente und Inkompetente Lippen. Auch das eine mögliche Beschrei-
bung für uns, werde ich denken und versucht sein, die Seite für dich abzufotografie-
ren und dir zu schicken.
Mein Gesicht schiebe ich an den Spiegel, an die Seifenreste auf seiner glatten Ober-
fläche, schaue zu, wie das Blut langsam von meiner Lippe auf meine vorsichtige
Zunge überspringt, muss an eine Kröte denken oder an einen Hund im Sommer. Ich
habe zu viel Blut im Gesicht, denke ich, während ich auf meine immerroten Wangen
starre. Der Blick auf meine Augenbrauen, ich habe zu viel Vater im Gesicht.
Den Überschuss greife ich mit der neuen Pinzette an der Wurzel, gleiche ab, links
rechts, reiße aus. Zurück bleibt nur eine schwache Rötung, sie gliedert sich ein in
den Rest, wenn die rote Farbe des Blutes durch die Gefäßwände und die obersten
Schichten der Gesichtshaut (inkl. Epidermis) scheint.
Mit den Händen streife ich meine Beine entlang, hinunter, ich muss dabei an eine
Diashow denken: meine Finger der kurbelbetriebene Projektor, an meiner Hautlein-
wand Muttermale, Härchen, Cellulite-Dellen, eine Landkarte möglicherweise, Flug-
aufnahmen. Einmal hast du mir eine Insel hineingesetzt, oberschenkelversprengt,
zwischen die Dehnungsstreifen, die ich mit Meeresströmungen verglichen habe, hast
mir mit deinen Menstruationsblut-Lippen ein rostrotes Kontinentalplattenzittern aufge-
flüstert, in meine Bindegewebe-Topografie. Ich hatte die Sonnenbrandreste aus dei-
nem Nacken unter meinen Nägeln und ein Haar von dir auf der Zunge.
Ich sehe die graufeuchten Klumpen aus meinem Duschabfluss in meinem Badezim-
mer-Mistkübel, sehe sie an Wattestäbchen und Tampon-Plastikhüllen kleben und
denke, vielleicht sind wir einfach undicht geworden, ausgeronnen aus versehentlich
geöffneten Poren, aus zu groß gewordenen Dermaldrüsen. Haben zu sehr an die
Undurchlässigkeit unserer Epidermis geglaubt, auf diese 1,5 bis zwei Quadratmeter
Schutzschicht des Abgestorbenen vertraut. Dabei vergessen, dass wir kein aktivier-
ter, vernetzter Klebstoff sind, dass wir uns nie mit unserer Struktur auseinanderge-
setzt haben. In dem Buch neben meinem Bett der unterstrichene Eintrag: Struktur-
veränderungen am Fibrinogen können verschiedene Defekte bei der Gerinnsel-
bildung zur Folge haben, beispielsweise die Störung der späteren Vernetzung.
Bei unserem ersten Date haben wir uns gegenseitig auf die Finger geschaut, haben
unsere Nagelränder, unsere Gelenkskuppen beobachtet. Hinter den Biergläsern, in
den Schößen die Rastlosigkeit registriert und kein Wort darüber verloren. Deine
Hände hatten beim Verwischen, beim Verkehren deiner Spuren denselben Rhythmus
wie meine. Vielleicht war es diese Beiläufigkeit des gemeinsamen Unter den Tisch
Fallens, die uns schließlich ausgezogen hat. Nach einer vorausgehenden Periode
mit Anspannung folgt während des Handlungsablaufs ein Gefühl der Erleichterung.
Wir wollten uns aufkratzen, gegenseitig diesmal, wollten die Hautschichten abtragen,
mit einer Flex oder einem Feinhaarpinsel, wollten uns freilegen, um das Lebende zu
suchen, nachschauen, wo das Pochende ist, einander aufrauen und wieder glattstrei-
chen, Samt spielen, Wendepailletten spielen, optische Kohärenztomografie spielen,
wollten uns aufkratzen und haben uns zerrieben aneinander. Die betroffene Person
kann den Impulsen, das pathologische Verhalten auszuführen, nicht widerstehen.
Die Hautpartikel, die wir für das Kleben, für das Halten mit all unseren Körperflüssig-
keiten angereichert haben, haben wir versehentlich verdampft, zermörsert, ausge-
schüttet und zu lange in der Sonne liegen lassen. Wir sind zu Staub zerfallen und ab-
gestorben, lange bevor unsere Keimschicht davon wusste. Wieder muss ich an die
grauen Flocken unter meinem Bett denken, an den Zellfriedhof hinter den Schuhkar-
tons, daran, dass ich uns dort nicht mehr auseinanderhalten könnte.
Ich hole den Staubsauger und schicke dir ein Video davon, wie unsere Reste in ein
weiteres graues Rohr verschwinden. Es landet in unserem Nachrichtenverlauf unter
dem Foto, das ich dir von meinem Duschabfluss geschickt habe und deiner Antwort
mit dem kotzenden Smiley. Die Haut neben meinem Daumennagel am Griff des
Staubsaugers leuchtet rot auf weiß. Ich weiß, dass du deine Einstellungen geändert
hast, dass deine Häkchen jetzt nicht mehr blau werden und schicke dir den Wikipedia-
Artikel zu Dermatillomanie und einen Kuss-Smiley, bevor ich deine Nummer lösche.