Kaija Knauer

Dioramen im Werden

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[1] Dioramen sind Schaukästen, in denen Ausschnitte aus der Realität nachgestellt werden: Landschaften, Siedlungen, Tiere in ihrem natürlichen Habitat, beispielsweise für deren Wiedergabe in naturhistorischen Museen oder in anderen Museen. Beim Fertigen eines Dioramas ist der Trick, die plastischen Elemente im Vordergrund und den gemalten Hintergrund so zueinander ins Verhältnis zu setzen, dass ein nahtloser Übergang von der dreidimensionalen zur zweidimensionalen Wahrnehmung stattfindet und die Illusion von Wirklichkeit maximiert wird. Das setzt die Idee von einer zuständlichen Welt voraus, die so ausbuchstabiert ist, dass sie durch die Übertragung ins Diorama im Kasten fixiert, manifestiert und zur normativen Bezugsgrösse gemacht werden kann. Ein Panda: nie ohne Bambus, Bisons: nie ohne Präriegras, ein Nutztier: nie ohne Strohballen – es sind momentane Fixierungen stabiler Ökosysteme, eingebettet in Prozesse der ökologischen Tiefenzeit. Unser Eintreten in ein neues Erdzeitalter bedeutet, dass das modellhaft Fixierte versagt und diese Prozesse hochdynamisiert und unvorhersehbar ablaufen werden. Im Werden begriffen ist die Welt ein offenes System, das sich gestaltwandlerisch entlang von Fluchtlinien, Aufbrüchen und Ereignissen wieder und wieder arrangiert. Wie kann das Werden im Diorama dargestellt werden? Beispielsweise der Shapeshift, der passiert beim Seltener-Werden einer Pollenart, bei einem Überschuss bestimmter Vögel, beim Nicht-mehr-Nachfliessen eines Flusses? Wie kann sich die Sprache an unbeschriebenen Prozessen beteiligen? Wer besingt das andauernde Doing und Un-Doing unserer Habitate?

 

Auf dem Hügel stehen die Zuchtpferde neben einem beschneiten Kohlrabifeld. Sie stehen dort und halten ihre Stirn in den aufkommenden Föhnwind und die feingliedrigen Mähnen surren leicht. Sie sind zu gross und ihr Fell ist zu glatt für die Landschaft, sie stehen da wie gerenderte Pferde, zu wuchtig, zu seiden für die verschneiten Felder und sie halten ihre Stirn episch in den Wind. Sie verraten sich gewissermassen selbst. Die Felle sind enganliegend und tiefbraun, weiss, schwarz oder gescheckt, die Mähnen und Schweife gestriegelt, gestutzt, teilweise geflochten und shamponiert, wahrscheinlich. Sie stehen starr und episch und schauen auf den Boden, ins Heu, in die Luft, ins Eis. Der Elektrozaun wackelt leicht. Sie sehen aus wie eingefroren in der Landschaft, ein Bildfehler, und um sie herum wuchert der Kohlrabi, auch zu der Jahreszeit noch, zu der Jahreszeit erst recht. Der Kohlrabi wuchert, während sie stillstehen, und der Wind rauscht durch seine Blätter, die an den Rändern bereits leicht modern, und gleichzeitig pumpen die Herzkammern in den Pferden drin, gleichzeitig blubbern die Mikrobiome im Magen und die Zellorganellen verwandeln das exquisite Zuchtgenom in exquisite Proteinstrukturen, die die Pferde von innen heraus aufwärmen.
Je länger ich sie anschaue, desto glatter kommen sie mir vor. Werden sie glatter? Verschwimmen sie? Verschwimmt meine Sicht?
Ein Wärter kommt in einer neongelben Jacke, ruckelt am Zaun herum, ein kurzer neongelber Stromschlag, dann ist der Zaun wieder an Ort und Stelle. Er geht zu einem Zuchtpferd, braun, glänzend, mit Zöpfchen, und führt es ab über den gefrorenen Boden, während die anderen Pferde stilstehen und nichts dergleichen tun, keinen Mucks machen sie.

Der Teich hier wird Chrotteweiher genannt, Krötenweiher, weil dort im Frühling gelaicht wird. Gerade ist er zugefroren und die ältlichen Seerosen unter der Eisschicht werden sichtbar, wenn die Sonne draufscheint. Ich habe die Stimme von Grosspapa im Ohr, wie wir auf einer Holzbank gemeinsam Figuren basteln aus Pfaffenhütchen, Buchenfruchtbechern und Zahnstochern, die er in der Jackentasche mitgenommen hat: Das Ufer wird immer weiter in den Teich wachsen, und wenn du mal so alt bist wie ich, ist das nur noch eine Pfütze. Gerade ist der Teich noch gleich gross wie damals, wobei ich argwöhnisch auf die Halme am Ufer schaue. Sie stehen neben den Seerosen, die unter dem Eis warten. Ich habe euer Manöver im Blick, motherfuckers, telepathiere ich den Halmen.

Was neu dazugekommen ist, sind die Farne und Sträucher, die die leeren Flussbette besiedeln, und im Sommer das Gelber-Werden der Landschaft wegen dem Raps. Immer wieder realisiere ich, dass hier Steinzeitmenschen gelebt haben, irgendwann, dann Bauern und Bäuerinnen, Landadel vielleicht. Sie alle haben Kontaktzonen aufgebaut, die nie nur von Ihresgleichen belebt wurden, haben sich mit den Kaulquappen, den unterschiedlichen Windarten, den Sträuchern einem gemeinsamen Werden hingegeben, haben telepathiert, haben sich im Chrotteweiher gespiegelt, der auch erst zum Chrotteweiher werden musste. Ich frage mich nach den Liedern, gibt es Lieder in dem Boden? Hat hier jemand Lieder gespeichert? Wem ist meine Sprache verpflichtet, den Pfaffenhütchen, dem Vor-den-Rapsfeldern, den Elektrozäunen?

(Irgendwann wird jemand fragen: Was, warum Chrotteweiher?, weil in der Pfütze schon längst nicht mehr gelaicht wird.)

Die Aussicht vom Hügel beinhaltet die Dächer der Stadt, die steilen Kirchtürme, wo der Schnee in Zeitlupe runterrutscht, die Flussbiegung dazwischen, die Verbrennungsanlage, das türkise Hochhaus, die Flutlichtanlage vom Stadion, Alleen. Hinter der Stadt erheben sich kesselmässig weitere Hügel, auf denen einzelne, blinkende Funktürme stehen. Waren sie schon immer so hoch? Der Föhnwind macht die Luft so trocken, dass die Hügel dunkelblau und dunkellila aussehen. Wachsen sie? Schrumpfe ich?

Das Quartier am Hügel ist aufgeteilt in Grundstücke, deren Grenzen durch Buchsbaum- oder Thujahecken markiert sind. Zwischen den Hecken stehen architektonische Auswüchse unterschiedlicher Wertesysteme: Holzchalets, Wohnblocks aus rotem Backstein, abgespacede Villen mit Glasfassaden und metallenen, massiven Gartentoren zur Abriegelung. Die metallenen Gartentore und die Buchsbaum- und Thujahecken gehen nahtlos ineinander über und markieren gut sichtbar die Grenzen. Einige Gebäude imitieren den Stil englischer Landhäuser, auch wenn sie auf einem Hügel in Mitteleuropa stehen. Sie haben Sprossenfenster, Giebel, Erker, romantisch abgewetzte Fassaden und manchmal steht im Garten ein Rosenbogen. Sie grenzen sich ab durch weiss gestrichene Lattenzäune oder auch durch Buchsbaum- und Thujahecken, Hauptsache immergrün, Hauptsache, die Grenzen werden ganzjährig und unmissverständlich markiert. Sie versprühen Melancholie, aber nicht wegen dem Landhausflair, sondern wegen dem Versuch, sich durch ästhetische Zeichen an einen anderen Flecken Erde zu beamen.

Viele der Gebäude sind schon verschwunden. Warum, weiss niemand, wohin, weiss niemand. Ich kann mich selten an sie erinnern, realisiere nur, dass etwas anders ist, weg, ersetzt. Das Gleiche gilt für die Bäume: Irgendwann nehme ich eine neue Sichtachse wahr oder einen neuen Lichteinfall, und wenn ich daraufhin in meiner Erinnerung suche, finde ich häufig nichts Konkretes.

(Jemand hantiert mit einem Laubbläser und verschiebt das späte Laub vom Parkplatz auf eine Grünfläche, beziehungsweise: Ein Laubbläser-Cyborg bugsiert das späte Laub behutsam auf das Gras und die Grashalme saugen die Bestandteile der crispigen Blätter ein.)

In der Kurve hinter der Busstation liegt ein Bungalow in der Dämmerung. Der Bungalow wird von Baugespannen umzingelt, die ein Bauvorhaben der Zukunft anzeigen. Der Bungalow ist eine Aneinanderreihung von Räumen, die wurmartig im Garten liegen und sich einstöckig zwischen den Nadelbäumen ausbreiten. Seinem Umfang nach ist es eigentlich eine Bungalow-Villa, und sie fläzt sich obszön in den verschneiten Garten hinein. Ihr Flachdach wird andauernd von fallenden Tannennadeln berieselt, es rieselt ununterbrochen, und das seit Jahren. Die Baugespanne sind rund um den Bungalow gesteckt, sie stehen zwischen den hohen Nadelbäumen und sie visualisieren eine mögliche Zukunft. Sie zeigen das Volumen eines Bauvorhabens an und machen vorstellbar, wie es die Umgebung beeinflussen wird, wie die Sichtachsen dann neu verlaufen werden. Die Baugespanne zeigen das Volumen von einem ersten und einem zweiten Stockwerk, die sich zwischen den Nadelbäumen auftürmen und den Bungalow verdichten werden.

Solastalgie fühlt sich an wie Heimweh, es ist ein neu erfundenes Wort für ein altes Gefühl, und es ist die Trauer, die man empfindet bei Veränderung oder Zerstörung des eigenen Lebensraums. Aber schon vor dem Wort gab es: die Enden, die Abschiede von Zeichensystemen, aufgelöste Molekülanordnungen, die sich anders und neu verkitteten. Es gibt die Solastalgie der Steinzeitmenschen, des Landadels, der Bäuerinnen, der Kaulquappen, des Grossvaters, der Laubbläsercyborgs. Es gibt ihre Lieder, irgendwo. Es gibt die Molekülanordnungen in den äusseren Lebensräumen und es gibt innere Landschaften, die nie in Dioramen nachgestellt werden, milliardenperspektivische innere Landschaften, die in Resonanz stehen mit dem, was sie umgibt. Innen- und Aussenräume reichen ineinander rein und übereinander hinaus, sie reagieren spiegelkabinettartig aufeinander und bewegen sich, unfixiert, modelllos, durch die Erdgeschichte. Um welchen Gegenstand ich also genau trauern soll, weiss ich nicht, genauso wenig weiss ich, ob mein Gefühl Trauer ist oder eher Panik oder Wut oder einfach Verwirrtheit.
Unten am Hügel ist es schon eingedunkelt und ein Fluss gleitet lautlos durch sein einbetoniertes Flussbett. Renaturierungsprogramme werden seit Jahren über Schilder angekündigt, die von Flechten und Moos überwuchert werden, die Schilder sind renaturierter als die Uferränder selbst.
Gerade sind noch einige Stellen im Fluss vereist und Reste von Schollen driften in der Dunkelheit umher. Dazwischen: hordenweise Nilgänse. Sie schwimmen im dunklen Wasser zwischen den Eisschollen, und auch auf dem Quai, auf dem grossen Parkplatz vor dem Schiffsanleger: hordenweise Nilgänse. Sie stehen gruppiert zwischen den parkierten Autos, teilweise liegen sie auch. Ihre Umrisse zeichnen sich ab gegen den verhärteten Schnee. Einige haben seitlich einen herausstaksenden, hängenden Flügel, weil die Muskeln, Knochen und Sehnen durch die Fehlernährung unkoordiniert wachsen und in Missbildungen reinmorphen. Was machen sie hier noch, was macht ihr hier noch, solltet ihr euch nicht schon längst auf die Südhemisphäre transferiert haben, zugvogelmässig?, telepathiere ich ihnen. Die Horde streckt sich vom Parkplatz über die Betonstufen in den Fluss hinein. Sie bewegen sich wenig, tippeln ab und zu, floaten ein bisschen in der Strömung, und sie geben kehlige Laute von sich, nicht einmal ein Schnattern, nur kehlige, heisere Atemgeräusche, die sie durch ihre Schnäbel rauspressen. Sie hören einander zu und antworten. Von flussabwärts her kommen ein paar Schwäne, und die Nilgänse brechen in einen Anfall von tiefem, dunklem Fauchen aus, und die Schwäne weichen zurück. Jetzt erst bemerke ich das Fehlen von Haubentauchern, Stockenten, Blässhühnern, Teichrallen. Wo sind sie? Weggefaucht, weggeknickt? Haben sie sich transferiert, wohin? Wer hat ihre Lieder abgespeichert?
Ab und zu blitzt ein Auge auf im Scheinwerferlicht eines Autos: irre, orangene Augen, umkreist von einem Flecken braunen Gefieders. Die Nilgänse sehen müde und elektrisiert gleichzeitig aus, vielleicht, weil sie nicht auf der Südhemisphäre sind oder vielleicht konnten sie nicht zur Südhemisphäre fliegen wegen ihrer Müdigkeit und der abgeknickten Flügel wegen.

Weiter flussaufwärts gibt es eine Stelle, wo der ganze Fluss noch zugefroren ist. In der Dunkelheit kann man das Wasser nicht sehen, kein Fliessen, keine Reflexionen, der Fluss ist hier nur ein schwarzes Loch. Aber ich höre, dass da eine Eisschicht ist, die heute Nacht auftauen wird. Die Masse aus Eis bewegt sich, das Reiben und Reissen erzeugt Quietschgeräusche, Quietschen, Gietschen, Kreischen, und ein feines Blubbern, Schmatzen, Kräuseln. Es sind harte und flüssige Geräusche, Geräusche von Dingen, die im Begriff sind, ihren Aggregatzustand zu verlassen.