Judith Schalansky
Schwankende Kanarien
In einer drückend heißen Nacht Anfang August träumte ich – wie immer, wenn ich Fieber habe – den mir altbekannten Traum: Vor meinen Füßen öffnet sich die Erde, klafftauf einmal eine Grube, in die ich falle, bevor ich mit dem Eifer einer Comicfigur flugs wieder herausklettere, nur um in die nächste Grube zu fallen, die sich urplötzlich vor mir auftut. Ein unendlicher Parcours, von einer übergeordneten Macht ausgerichtet, eine auf der Stelle tretende Versuchsanordnung – das Gegenteil einer Geschichte. Dieser Traum begleitet mich seit meiner Kindheit und ist wahrscheinlich genauso alt wie die Einsicht, selbst irgendwann für immer in einer Grube zu landen. Dramaturgisch gesehen ist es ein äußerst simpler, jedoch effektvoller Traum und nicht unorigineller als der von Sibylle, die, wie sie mir ein paar Tage darauf beim Frühstück erzählte, in ihrem Nachtschlaf regelmäßig von einer riesigen, tsunamihaften Welle überwältigt wird.
Ich musste daran denken, dass zu den zahlreichen Künsten, die ich gerne beherrschen würde, unbedingt die des luziden Träumens zählt: Man schläft und träumt, bei vollem Bewusstsein, beides zu tun. Die eigentliche Kunstfertigkeit besteht jedoch darin, darüber hinaus unmittelbar in das Traumgeschehen eingreifen zu können und die Handlung zu seinen Gunsten zu beeinflussen: Luzide träumend könnte ich also problemlos die auf mich zurasende Dampflokomotive von beispielsweise einer mitreisenden, ihre Fellpflege unterbrechenden und geistesgegenwärtig die Notbremse betätigenden Schimpansendame stoppen lassen. Ich könnte das im Jahrmarktsgewühl abhandengekommene eigene Kind auf den breiten Schultern einer milde lächelnden Krankenschwester quietschvergnügt wieder auftauchen lassen. Sogar einen niedergebrannten Dschungel in schwindelerregendem Zeitraffer chlorophylltrunken austreiben und von einer triumphal lärmenden Menagerie in Besitz nehmen lassen. Kurzum: Ich könnte das dramaturgische Ruder mit allen zulässigen Mitteln der Narration herumreißen und so einem Alpdruck seinen namenlosen, bis tief in den Alltag des Wachzustands nachhallenden Schrecken nehmen. Ja, ich könnte im Traum alles – allen Zeichen, Erfahrungen und Wahrscheinlichkeiten zum Trotz – noch gut ausgehen lassen, bleierne Ohnmacht in quecksilbrige Supermacht transformieren – findig, kühn und vor keiner noch so unglaubwürdigen Wendung zurückschreckend.
Midpoints, erklärte mir Sibylle, die gerade dabei war, eine Streaming-Serie durchzuplotten, und dafür ihre Flurwandmit zahllosen Post-its tapeziert hatte, Midpoints nennt die Drehbuchlehre jene entscheidenden Ereignisse, die dem Filmgeschehen eine andere Richtung geben und sie am Handlungshorizont ein neues Ziel ansteuern lassen. Tipping Points, wusste ich aus der Wissenschaftsseiteder Zeitung, bezeichnen in der klimatischen und ökologischen Forschung die kritischen Momente zwischen zwei Zuständen, deren Übergang eben nicht so gleichförmig vonstattengeht wie, sagen wir, die in den Nullerjahren zu nachtschlafender Zeit im öffentlichen Fernsehen laufenden Mitschnitte deutscher Bahnstrecken aus der Lokführerperspektive, sondern die man sicheher wie den lawinenartigen Tortenschlacht-Showdown in einem Stummfilm vorstellen muss, der stets von einer fliegenden, in dem Gesicht eines Unschuldigen landenden Sahnetorte entfesselt wird, ehe er wenige Momente und viele so unwahrscheinliche wie folgerichtige Kettenreaktionen später mit dem verstörend friedlichen Bild der totalen Verwüstung endet. Aber es geht ja nicht um Torten, und es ist auch nicht zum Lachen.
Vielmehr gehtes um jene entscheidenden, doch schwer greifbaren Ereignisse, in denen sich Umweltbedingungen so weitreichend verändern, dass Situationen zum Kippen kommen, etwa Ökosysteme so massiv geschwächt, beeinträchtigt, gestresst oder auch Populationen einzelner Arten so stark dezimiert werden, dass sie sich davon nicht mehr erholen– sondern kollabieren, eben kippen, und jenen Punkt hinter sich lassen, der in dem drastischen Vokabular von SibyllesDrehbuchlehrealspoint of no return bekannt ist. Dann gibt es kein Zurück, aber was das bedeutet, sprengt nicht nur die Vorstellungskraft, sondern auch Begrifflichkeiten und Erzählmuster.
Die Frage, wann Kipppunkte genau eintreten, lässt sich, obwohl Gegenstand jahrzehntelanger, fieberhafter Forschung, schwer vorhersagen. Dazu gibt es eine Fülle von Daten, Zahlen, die einzelne Faktoren vergleichsweise exakt erfassen– vom Wert der Kohlenstoffdioxidpartikel in der Erdatmosphäre über den des ansteigenden Meeresspiegels bis hin zur seit dem Beginn der Wetteraufzeichnung gemessenen Höchsttemperaturen und der hochgerechneten Menge täglich aussterbender Pflanzen- und Tierarten. Übertragen in ein Diagramm, in diesen eindrücklich überschaubaren Koordinatenkäfig, lassen sich diese Werte, fein säuberlich nach Einheiten getrennt, extrapolieren, sogar Wechselwirkungen bestimmen, und ergeben am Ende doch nichts anderes als ansehnliche Kurven, die – von ein paar Schwankungen abgesehen – scheinbar zielstrebig von links unten nach rechts oben wandern: von der einen bekannten, unveränderlichen Vergangenheit in mehrere, naturgemäß unbekannte, potenzielle Zukünfte. Es waren so konkrete wie abstrakte Prophezeiungen, deren ausbuchstabierte Szenarien mir in etwa so zugänglich waren wie das Mosaik vollgekritzelter Post-its in Sibylles Flur.
Ich lief die Wand auf und ab, entzifferte einzelne Notizen, vor allem jene signalgelb leuchtenden, mit denen sie die Midpoints markiert hatte, aber es war unmöglich, mir einen Begriff vom gesamten Handlungsgeschehen zu machen. Ich schwitzte, dabei war noch nicht einmal Mittag und der Flur noch der kühlste Raum in der ganzen Wohnung. Vielleicht kam das Fieber zurück, dachte ich, und bat Sibylle um einen Schnelltest, der – wie alle, die ich bisher gemacht hatte – negativ blieb.
Am Morgen hatte eine Stimme im Radio gemeldet, dass es sich um den bisher niederschlagsärmsten jemals verzeichneten Sommer handelte. Und die Zeitungen berichteten – nicht im Regionalteil, sondern auf den Titelseiten – von einem mysteriösen Fischsterben ungeheuerlichen Ausmaßes in der Oder. In einer dazugehörigen Reportage nannte es ein Angler »eine Tragödie«, die zuständige Ministerin »eine Katastrophe«, ein Wissenschaftler »ein Massaker«. Auf über 500 Kilometern war ein Strom, der zwei europäische Länder eben nicht nur trennte, sondern miteinander verband, tot, sein Ökosystem gekippt.
Ob Sibylle in ihrem Studium Aristoteles’ Poetik durchgenommen hatte, wusste ich nicht, aber dessen Diktum, in der Dichtkunst nicht mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr das, was geschehen könnte, gilt immer noch. Inwiefern es aber dazu taugt, eine Gegenwart aus sich überlappenden Kippunkten und Ausnahmezuständen zu beschreiben, ist mehr als fraglich.
Ursprünglich war es Sibylles Plan gewesen, ihre Serie in einer nahen Zukunft spielen zu lassen, und mehrmals hatten wir festzumachen versucht, worin sich die Zeit ihrer Filmhandlung von unserer Gegenwart unterschied. Doch seit sie auf ein Zitat des Autors Kim Stanley Robinson gestoßen war, nach dem »Science Fiction der Realismus unserer Zeit« sei, hielt sie diese Frage für obsolet. Die Zukunft war ungleich verteilt, die Vergangenheit offenbar auch. Eben noch schien das nahe Ende des fossilen Zeitalters als mühsame, doch ausgemachte Sache, jetzt wurden überall in Europa stillgelegte Kohlekraftwerke für den Wiederbetrieb gerüstet.Gegen die unmittelbare, konkrete archaische Wucht des Krieges kam keine Klimakurve an. Wenn der Bombenalarm schrillte, dann ging es in den Keller.
Zu Hause las ich in der Poetik noch einmal nach, wie sich Aristoteles die entscheidenden Wendepunkte vorgestellt hatte. »Peripetie«, so heißt es im elften Kapitel, sei der Umschwung der Handlung in ihr Gegenteil, »von Unkenntnis in Kenntnis, mit der Folge, dass Freundschaft oder Feindschaft eintritt, je nachdem die Beteiligten zu Glück oder Unglück bestimmt sind«. Ich ertappte mich tatsächlich dabei, darüber nachzudenken, wozu wir bestimmt waren.Dabei schied doch die bombastische Apokalypse der Johannesoffenbarung ebenso aus wie jegliche neutestamentliche Heilserwartung, die sich in so schuldbewusst wie erlösungsbedürftigen Slogans niederschlug, die nichts Geringeres als die ›Rettung der Welt‹ forderten. Aristoteles, dachte ich, hatte es gut, konnte er sich doch auf den Mythos einerseifenoperhaften Götterschar berufen. »Jede Tragödie«, las ich weiter, »besteht aus Verknüpfung und Lösung. Die Verknüpfung umfasst gewöhnlich die Vorgeschichte und einen Teil der Bühnenhandlung, die Lösung den Rest.«
Mir war sehr wohl bewusst, dass die Geschichte des Lebens auf der Erde keine Bühnenhandlung war und das menschliche Auftauchen auf selbiger ein erstaunliches, doch flüchtiges Vorkommnis auf Proteinbasis, das ebenso verschwinden würde wie eine Reihe anderer wundersamer Wesen. Und trotzdem sah ich noch einmal das Spektakel eines erst brennenden, dann brodelnden und dampfenden, bald schmatzenden Planeten, auf dem sich Wasser zurückzog und Kontinentalplatten verschoben, ungeheure Wälder wucherten, im Ozean allerlei Getier gedieh, das die Landmassen zu erkunden begann, bis nach einer Ewigkeit und einigen eiszeitlichen Sekunden doch noch eine behaarte, gebückte, bewaffnete Kreatur auftauchte, mit der ich mich zu identifizieren gelernt hatte. Der Rest war Sesshaftwerdung und Abholzung, Bergbau, Verstädterung und Satellitenschrott. Ich steckte fest. Wenn das die Vorgeschichte war und das menschliche Leben keine Tragödie werden sollte, dann brauchte es doch eine Lösung, einen Wendepunkt der Handlung. Aber wie sollte der aussehen? Mein Gehirn, dasgerade groß genug gewesen war, um den Geburtskanal zu passieren, stieß offenkundig an seine Grenzen. Was fiel ihm ein? Schlimme Sprüche, ökologisch bewegte Kalenderweisheiten wie ›Wir haben die Erde nur geliehen.‹ oder ›Erst wenn der letzte Baum …‹, die ich mir einst mit Glitzerstift auf meine Schulhefter geschrieben hatte und deren Halbwertszeit offenbar geringer war als die einer im Gebüsch verrottenden Plastiktüte. Die dramatischere, ebenfalls auf einen Kipppunkt verweisende Zeitansage, es sei bereits ›fünf vor zwölf‹, schien ironischerweise eine der ältesten Wendungen zu sein und hatte sich selbst komplett überlebt.In Verwendung war jedoch das sinnverwandte, vor allem im englischen Raum weit verbreitete Idiom vom sogenannten ›canary in the coal mine‹, eine so kryptische wie schillernde Formulierung, die das Bild eines gelben, gefiederten Geschöpfes im verborgenen Erdinnern evozierte. Ein Wesen der Lüfte in der Unterwelt, abgeordnet in eine lichtlose Tiefe, in eine Grube, in der es in einem kleinen Käfig sein Lied singt, weil es nicht anders kann und weil es – aus seinem Zusammenhang gerissen – das tut, was Vögel in Menschengeschichten oft tun: einen Überschuss an Anmut, Schönheit und Sinn zu produzieren. Wie aber, fragte ich mich, war der Vogel in die Grube geraten, in diese Redewendung, in dieses Sprachbild, ein Bild der Desorientierung, des Elends, des Erbarmens, der Hoffnung, des Anthropozäns?
Auf der Suche nach seinem Ursprung stieß ich auf eine Figur, und Figuren, das wusste ich von Sibylle, waren immer gut. Menschen interessierten sich – mehr als für alles andere – immer noch für Menschen, was durchaus als Teil des Problems angesehen werden konnte. Meine Figur war der schottischePhysiologe John Scott Haldane, dessen frühen biografischenMidpoint das Drehbuch eines Biopics womöglich in dem Umstand ausmachen würde, dass er als 14-Jähriger miterleben musste, wie sein älterer Bruder sich erst kupfern verfärbte, dann tagelang hustend nach Luft rang und schließlich an den Folgen der Diphteriestarb. Tatsächlich sollte Haldane das physiologische Wunder der menschlichen Atmung sein Lebtag beschäftigen – ob in der Höhenluft der Rocky Mountains oder der Tiefsee. Es war auf jeden Fall ein Wirken, das eine ganze Reihe von attraktiven Schauplätzen und obskuren Versuchsanordnungen hervorbrachte, anekdotisch verdichtet und effektvoll inszeniert, wie etwa die öffentliche Präsentation eines altertümlichen Raumanzugs oder das Experiment mit jenen armen Ziegen, die mit torkelnden Schritten undtaumelnden Schädeln aus einem bulläugigen Druckkompensator schwankten.
Doch die Szene, diezudem kleinen Vogel führt, spielt sich früher ab, in den 1890er Jahren, als Haldane, ein Mann Mitte dreißig, Grubenunglücke in britischen Bergwerken untersucht. Ihre Steinkohle trieb im Mutterland der Industrialisierung schnaufende Maschinen an, deren vielverzahnte, wundersame Mechanik nicht nur ungeheure produktive Energien freisetzteundeine ganze Reihe von Industriezweigen hervorbrachte, sondern auch gewaltige Mengen des Treibhausgases Kohlenstoffdioxid in die Erdatmosphäre und Massen von Arbeitern in die Verelendung entließ.
Haldane, der in dieser nebelverhangenen Szene einer Filmbiografie einen Arbeitsoverall mit Bergarbeiterhelm tragen müsste, einen Käfig voller Mäuse und einen Lederkoffer mit der signalroten, abschreckenden Aufschrift des London Fever Hospital, gilt bereits als anerkannter Atmungsexperte und ist zur Unfallstelle ins südwalisische Rhondda Valley gerufen worden, um, wenn schon nicht das Leben der verunglückten Männer zu retten, so doch zumindest zukünftige Unfälle zu verhindern.
Überflüssig zu erwähnen, dass die Bedingungen in Bergbaurevieren nichtnur gesundheitsschädlich, sondern auch lebensgefährlich waren – und Explosionen nicht selten, ausgelöst vom feinen Kohlestaub und diversen Gasen, dienicht ohne Grund ›Böse Wetter‹ genannt wurden. Ich sah jetzt Haldane im Schacht, wie er nicht nur den toten Bergmännern, sondern auch den ebenfalls unter Tage umgekommenen Grubenpferden Blut abnimmt. Wir sehen ferner – es ist ein Farbfilm, es muss ein Farbfilm sein –, wie ihn dessen karmesinrote Färbung stutzig macht, sein Blick auf die Grubenlampen fällt, die noch immer neben den Leichen brennen. Es dauert noch ein paar retardierende Momente, doch schließlich – wir befinden uns nach einem Szenenwechsel in seinem Labor an der Oxforder Universität – gelingt es Haldane nachzuweisen, dass ein Großteil der Opfer nicht, wie vermutet, an Sauerstoffmangel oder an den Folgen unterirdischer Explosionen gestorben ist, sondern an einer Vergiftung mit Kohlenmonoxid, diesem farb-, geschmacks- und geruchlosenGas, das, selbst wenn nur geringe Mengen davon eingeatmet werden, die Aufnahme von Sauerstoffsblockiert und bei größeren Landsäugetieren wie Pferden oder Menschen innerhalb von ein bis zwei Stunden zum Tod führt.
Haldane, der das ganze Leben als einen groß angelegten Selbstversuch ansah und den sein Biograf selbst als eine Art ›Kanarienvogel in der Kohlengrube‹ bezeichnete, da er sichzur Mehrung desWissens immer wieder seinen eigenen Experimenten aussetzte, studiert also in einer weiteren Szene die Wirkungen von Kohlenmonoxid auf seinen eigenen Organismus und vergleicht diese systematisch mit denen, die die Substanz bei einer Maus auslöst.Während er bei sich nur leichte Benommenheit feststellt, liegt die Maus bereits bewusstlos in einer Ecke ihres Käfigs, gekrümmt, das helle Bauchfell entblößt. Haldane greift nach dem kleinen Körper, öffnet das Fenster und schon – es sind wirklich nur ein paar Sekunden – kommt die Maus, für die das Drehbuch keinen Namen vorsieht, wieder zu Bewusstsein.
In einer weiteren Szene empfiehlt Haldane den Bergmännern Mäuse als sogenannte Wächtertiere, doch da die Nager unter Tage so allgegenwärtig wie unbeliebt sind, weil sie es stets auf den Proviant der Männer abgesehen haben, mangelt es den Tieren an der nötigen Vertrauenswürdigkeit für diesen Job. Die Rolle der Kanarienvögel in der Geschichte der Humanmedizin sollten sie etwas später doch noch bekommen: als menschliche Modellorganismen in der genetischen Forschung, aber das wäre wohl eher ein Dokumentarfilm, der mit der Kamerafahrt auf das Bronzedenkmal in einem Park von Nowosibirsk beginnen würde, das eine etwa säuglingsgroße Maus in einem Laborkittel darstellt, bebrillt und mit Stricknadeln bewaffnet, die das Strukturmodell der DNA-Helix zu stricken scheint.
Also zurück zu Haldane, der schließlich auf andere Warmblüter von geringer Größe verfiel, die ähnlich handlich und fast so leicht zu beschaffen und zuhaltenwaren wie Mäuse, vor allem aber eine erfolgreiche Karriere als Haustiere vorweisen konnten: Kanarien. Für die Stubenvögel sprach zudem, dass ihre effiziente Atmung, die es ihnen erlaubt, sowohl beim Einatmen als auch beim Ausatmen Sauerstoff aufzunehmen, sie für toxische Gase überaus empfindlich machte, jedenfalls anfällig genug, dass sie rund zwanzig Minuten früher als Menschen ihr Bewusstsein verloren. Zwanzig Minuten waren eine lange Zeit, lang genug, um die Minen zu verlassen und wieder an die Oberfläche zurückzukehren, um die Lungen mit frischem Sauerstoff zu füllen und dem Erstickungstod zu entrinnen. Zudem sind Vergiftungserscheinungen bei ihnen unmittelbar zu erkennen: Ein bewusstloser Kanarienvogel hört auf zu singen und fällt ohnmächtig von seiner Sitzstange – ein unmissverständliches Zeichen für Gefahr. Und wies nicht bereits das gelb leuchtende Gefieder daraufhin, dass wir es mit einem Zeichen zu tun haben, das gedeutet gehört?
Es gab Quellen, die behaupteten, dass es zunächst jene aus der Art geschlagenen, vom Markt aussortierten und eher günstig zu erwerbenden Vögel waren, die sonst keine Abnehmer fanden, die als Bergwerkskanarien zum Einsatz kamen: Männchen mit weniger attraktivem Gefieder und schlechtem Gesangsvermögen. Doch die mir zugängliche zeitgenössische Fachliteratur – Titel wie »Katechismus der Kanarienzucht« (1901) oder »Der Kanarienvogel als Hausfreund der deutschen Familie« (1908) – wurde nicht zu schelten müde, dass »der englische Zuchtgeschmack« Kanarien ohnehin einzig und allein nach Farbe und Gestalt, »mit völlig nebensächlicher Gesangsleistung« hervorgebracht hatte, »Mißgestalten« wie der langhalsige, krummbuckelige Scotch Fancy, der eidechsenähnlich gemusterte Londoner Lizard oder der namentlich bei den unteren Volksrassen beliebte Yorkshire Spangle, ein strohgelber Vogel mit braungrünlichem Oberkopf und Augenringen, »die stärkste«, aber auch die, wie es nicht ohne chauvinistische Untertöne hieß, »phlegmatischste englische Kanarien-Rasse«.
In einem Film über Haldane dürfte dennoch eine Szene nicht fehlen. Sie spieltunter Tage und zeigt Bergmänner, halbwüchsige wie früh vergreiste, die mit den Vögeln in ihren kleinen Käfigen um die Wette pfeifen, und da Kanarien dazu neigen, Klangfarben zu imitieren, könnte man sich hier ein unterirdisches, vor allem in den höheren Tonlagen angesiedeltes speziesübergreifendes, sich gegenseitig stets aufs Neue befeuerndes Konzert vorstellen. Mir gefiel die Idee, dass die Männer ständig nach den Kanarien schauten, sich um ihr Wohlergehen sorgten, nicht zuletzt, weil ihr eigenes von dem ihrigen abhing – und dass sie im Notfallauch das Leben ihrer Lebensretter retteten.
Gerührt las ich, dass die Bergmänner ihren Kanarien hinterhertrauerten, als diese in den achtziger Jahren durch weitaus sensiblere, jedoch seelenlose Detektoren – den sogenannten ›electric noses‹ – ersetzt wurden, waren doch die Vögel in der unterirdischen Symbiose ihnen längst eher Gefährten als trillernde Frühwarnsysteme auf Körnerbasis. Die leeren Käfige wanderten in Museumsvitrinen, wurden zum Erzählanlass einer Anekdote der Industriegeschichte wie die von Haldane erfundene Box in einer Dauerausstellung in Manchester, die im Notfall sogar die sofortige Wiederbelebung des ohnmächtigen Vogels erlaubte: ein gusseiserner Kasten mit gläsernen Fronten, die bulläugige Öffnungmit einem Schwenkbolzenverschluss fest versperrt. Auf der Box thront fest verschraubt eine schwarz glänzende, ja, atombombenförmige Patrone in der Umklammerung einer Rohrschelle. Ein vernickeltes Kupferrohr verbindet sie mit dem Inneren. Hinter den Scheiben sitzt ein Vögelchen, gelb mit grünen Flecken, den blassrosa Schnabel erhoben, seine winzigen schwarzen Äuglein reflektieren lebendig eine ferne Lichtquelle. Der Vogel ist mausetot, sein Balg ausgestopft, von unsichtbarem Draht auf der Stange gehalten.
Wie so oft überwintert Ausgemustertes im Paralleluniversum der Sprache. In ihr leben die Bergwerkskanarien fort, geistern als Unheil verkündende Miniaturkassandras durch Nachrichten, als handliche, gefiederte Orakel, denen es im Angesicht der Katastrophe die Stimme verschlägt und die an jenem prekären Punkt, der über Leben und Tod entscheidet, effektvoll von der Stange fallen. Dabei erweisen sie sich als ähnlich anpassungsfähig wie ihre leibhaftigen Vorbilder. In jüngsten Zeitungsberichten werden wahlweise eine für chemische Substanzen empfindliche Wasserflohspezies namens Daphnia, die von der Dürre gebeutelte australische Weinindustrie, ein strauchelnder Baseballstar, Methan sprühende Krater in Sibirien, die Absage des Kinostarts von Batgirl und Tausende von toten Seekühen, die letztes Jahr an den Küsten Floridas verhungert sind, als ›canaries in the coal mine‹ bezeichnet.
Der fidschianische Premierminister Frank Bainimarama stellte schon 2020 klar, dass die längst von der Klimaerwärmung betroffenen pazifischen Inselnationen es leid waren, noch länger die Rolle der kleinen, tapferen Haustiere zu spielen: »Wir weigern uns, die sprichwörtlichen Kanarienvögel im Kohlebergwerk der Welt zu sein, wie wir so oft genannt werden«[1], und fügte hinzu: »Wir wollen mehr von uns selbst, als hilflose Singvögel zu sein, deren Forderung als Warnung für andere dient.«[2]
Denn ihr Leben war nicht metaphorisch, es war real und real bedroht – und wolltenachvollziehbarerweise um seiner selbst willen gerettet werden und nicht, weil jene Nationen, die die Misere verursacht hatten, in ihrer prekären Situation die eigene bedrohliche Zukunft vorweggenommen sahen.
Die Kanarienvogelmetapher war kurz davor, ein leerer Käfig zu werden, eine Worthülse. Sie legte nichts mehr bloß, vielmehr schien sie etwas zu verschleiern, wie die Tarnschrift»Der Kanarienvogel« von 1934, die ich im Katalog der Bibliothek entdeckte. Der Titel gibt vor, »ein praktisches Handbuch über Naturgeschichte, Pflege und Zucht des Kanarienvogels« zu sein, tatsächlich aber enthält der Band Molotows Bericht des zweiten Fünfjahresplans auf dem 17. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion.
Redewendungen sind nicht unschuldig, ja, nicht mal Kanarien sind es, auch wenn Buffon den Stubenvogel im zwölften Band seiner Naturgeschichte der Vögel als »[e]in geselliges, sanftes und umgängliches Tier« beschreibt und zu schwärmen beginnt: »Seine Liebkosungen sind angenehm, sein geringer unschuldiger Unwille und sein Zorn beleidigt und verletzet nie«, während Goethe seinen Werther zeitgleich beinahe vor Verlangen vergehen lässt, als das Schnäbelchen von Lottes Kanarienvogel erst ihren eigenen Mund liebkost und dann den seinen küsst: »Die pickende Berührung war wie ein Hauch, eine Ahnung vollen Genusses.«[3] Was mit dem vollen Genuss gemeint ist, legt nicht nur das bis ins heutige Deutsch existierende Verbum ›vögeln‹ nahe, sondern auch die holländischen Genrebilder des 17. Jahrhunderts, auf denen der im Käfig gehaltene Kanarienvogel stets und durchschaubar auf nichts anderes verweist als auf den Zustand der Jungfräulichkeit, der naturgemäß prekär ist.
Auf der Suche nach einem Ursprung stieß ich bei Plinius tatsächlich auf das Bild der geraubten Unschuld. In seiner Naturgeschichte schildert er ausgerechnet den Bergbau als nicht-einvernehmlichen Akt, als Vergewaltigung der terra mater: »Wir durchforsten alle ihre Adern […]«, »wir dringen in ihre Eingeweide und suchen am Sitz der Schatten nach Schätzen, […] wir graben nach Gold- und Silberadern, nach Erz und Blei, wir treiben Schächte in die Tiefe. Wir reißen ihre Eingeweide heraus, damit wir einen Edelstein an dem Finger tragen, mit dem wir sie angreifen.«[4] Ich wusste nicht, ob mich meine Entdeckung freudig oder fatalistisch stimmen sollte. Die Geschichte, die ich erzählen wollte, schien sehr alt zu sein.
Womöglich lagen die gravierenden Kipppunkte schon so lange zurück, dass viel entscheidender war, ihre Folgen – der Moment, in dem gewöhnlich abgeblendet wird – nicht nur zu verdammen, sondern schätzen zu lernen. Nicht wenige ruinierte Landschaften, fiel mir ein, waren, einmal vom Menschen aufgegeben, mittlerweile Rückzugsraum bedrohter Arten und im Begriff, unter Naturschutz gestellt zu werden. Es wurde unübersichtlich.
»Das Zutagefördern von Erzen und anderen Bodenschätzen«, notierte ich mir, »ist eben nicht nur mit nahezu allen technischen und zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit aufs Engste verknüpft, sondern wie kein anderes Gewerbe oder Gewerkmit unermesslichem Raubbau und schwerwiegenden Verwüstungen und einem Zustand, in dem Natur und Kultur nicht mehr auseinanderzuhalten sind und solchwundersameAmalgame wie Kanarienvögel hervorbringt.«
Die Vögel, die ich aus ihrem Käfig befreien wollte, flogen schnurstracks wieder hinein. Das waren keine Naturwesen mehr, sondern kulturelle Produkte einer Jahrhunderte währenden Domestizierungsgeschichte, deren Dramaturgie vor allem von den unoriginellen Gesetzmäßigkeiten eines Marktes geprägt wurde, die offenbar mit dem Züchtungsmonopol spanischer Mönche im 15. Jahrhundert begann und mit dem Aufkommen des für viele Tiere tödlich endenden Versandhandels Ende des 19. Jahrhundert noch lange nicht endete. Es war nicht die Geschichte, die ich erzählen wollte, das öde, allgegenwärtige, mächtige Wechselspiel aus Angebot und Nachfrage, das eben nicht nur die gleichförmigen, mitteleuropäischen Kulturlandschaften hervorgebracht hatte, die ich als Naherholungsgebiete so schätzte, sondern auch diese Vögel – mit einem Gesangsvermögen, dessen abwechslungsreiches Getriller bis zu drei Oktaven umfassen konnte, dem ich eine Zeitlang in unzähligen Youtube-Videos gelauscht hatte und das ich nun nicht mehr hören konnte, ohne sofort Kopfschmerzen zu bekommen.
Die besten Sänger soll es einst auf Fuerteventura gegeben haben, bevor Abholzung und Überweidung die Insel in eine Wüstenei verwandelten. Noch immer lebt der Kanarengirlitz in Schwärmen auf Madeira, den Azoren und auf den westlichen der Kanarischen Inseln.
Um sich ein besonders gesangsfreudiges Exemplar heranzuziehen, empfehlen alte Kanarienvogelratgeber, männliche Kanarienvögel einzeln zu halten, was neuere erfreulicherweise als artenwidrig geißeln und darauf hinweisen, dass Kanarien singen, um ihre Artgenossen – potenzielle Rivalen ebenso wiepotenzielle Partnerinnen – zu beeindrucken, also das eigene Revier abzugrenzen.Mir fiel die Theorie ein, warum die Evolution eben nicht nur eine unerschöpfliche Vielfalt an biologischen Antworten auf die Frage, was Leben sein könnte, sondern auch so etwas Merkwürdiges, Dekadentes, ja, Überflüssiges wie Schönheit, Ornament und Kultur hervorgebracht hatte – das irisierende Gefieder des Kolibris, den pornographisch nackten Pavianpopo oder eben den nicht selten betörenden Gesang von Vögeln. Diese Theorie hatte, wie ich fand, einen der besten Titel, den eine Theorie haben kann – »Singing for sex« –, und ähnelte in ihrer weltformelhaften Obsession für das ›Vögeln‹ durchaus an die Schriften von Sigmund Freud.
Es gab aber auch eine poetischere Deutung, die in dem Vogelgesang etwas ausmacht, was die Verhaltensbiologie ›Stimmfühlungslaut‹ nennt und das auch beim Menschen verbreitet ist: mit Lautäußerungen die Umwelt – und auch ein Stück weit sich selbst – davon zu überzeugen, dass es einen noch gibt. Ein Pfeifen im Walde, Selbstvergewisserung und Abwehrzauber zugleich.
Mit etwa zweieinhalb bis dreieinhalb Millionen Paaren zählte die Rote Liste den Bestand der Kanarengirlitze als ›least concern‹, nichtbesorgniserregend. Besorgniserregend waren dagegen die abnehmenden Populationen einer Reihe von anderen auf den Kanaren heimischen Tier- und Pflanzenarten: Drachenbäume beispielsweise, der Kanaren-Weißling, der Iberische Wasserfrosch und eine Handvoll endemischer Rieseneidechsenarten.
Besorgniserregend war ebenfalls die Tatsache, dass mittlerweile zwar die toxische Ursache für das Fischsterben in der Oder identifiziert werden konnte, nicht jedoch jene Einleitungen, die das vermehrte Auftreten der giftigen Goldalge ausgelöst hatten. Nicht zum ersten Mal waren die Faktoren zu komplex, um das Geschehen als Kriminalfall zu behandeln, in dem nur die Täter ausfindig gemacht, gestellt und abgeführt werden mussten. Die Geschichte, die das Leben von Millionen Wesen ausgelöscht hatte, drohte zwischen Untersuchungsausschüssen und gegenseitiger Schuldzuweisung zu versanden, ohne dass jemand zur Rechenschaft gezogen wurde. Freiwillige wurden gesucht, die Millionen von bestialisch stinkenden toten Fischen vom Ufer aufsammelten und in Containern entsorgten, bevor diese auf den Grund hinabsinken und den Fluss durch ihre sauerstoffbindende Zersetzung weiter belasten würden. Ich hatte keine Worte, die vierhundert Tonnen tote Fische fassen konnten, Tiere, die schon zu Lebzeiten wie keine anderen als stumm galten.
Bevor ein Kanarienvogel von der Stange fällt, fängt er an zu schwanken. Bevor ein System endgültig kippt, gibt es oft starke Amplituden: Populationen nehmen zu und ab, Messergebnisse werden uneindeutig und trüben das ohnehin diffuse Bild. Dann jedoch, lehren Modelle und Erfahrungen, können Entwicklungen nicht mehr aufgehalten werden und es tritt das ein, wofür jeder Writer’s Room die sehr bildliche Formulierung »when shit hits the fan« bereithält, jener ultimative Punkt also, in dem die Scheiße auf den Ventilator trifft und eine Situation komplett außer Kontrolle gerät und eine buchstäblich unberechenbare Kette von Ereignissen nach sich zieht, die unwiderruflich, ja irreparabel sind.
Irgendwo war von Schadensbegrenzung die Rede, aber ich wünschte mir ein Gesicht, eine Figur, einen Helden, der rettete, nicht reparierte – einen Experten wie Haldane, einen slightlymad scientist, der sich auf die Seite der Guten geschlagen hatte und dessen Messungen und Experimente bahnbrechende Erkenntnisse zu Tage förderten, die nicht nur den Erstickungstod von Menschen verhinderten, sondern auch den von Süßwasserfischen und Muscheln. Vierhundert Tonnen toter Fisch, das war apokalyptisch. Aber da war kein Weltenbrand. Es fing sogar an zu regnen. Es ging einfach weiter.
Einen Weg zurück gab es nicht. Das Bild des Kanarienvogels schwankte. Die Kanarienvogelmetapher mochte griffig sein, aber sie half nicht weiter, weil die Welt nun einmal keine Grube ist – und kein Vogelverhalten erfahrbar machen konnte, dass die Förderung von Kohle und anderen Energiequellen aus fossilierten Organismen noch eine andere Verbindung von Sauerstoff und Kohlenstoff – das Kohlendioxid – in der Atmosphäre freisetzt und die Bedingungen für das Leben so gravierend verändert, dass die Zukunft nicht nur ein ungewisser, sondern ein beängstigender Ort geworden ist.
Zu Aristoteles’ Zeiten lagen die Kanaren hinter den Säulen des Herkules, am Ende der Welt – und sowohl die Vogelschau als auch die Deutung der eigenen Träume war eine Art Orakel für den Hausgebrauch, wenn man gerade keine Zeit hatte, nach Delphi, Olympia oder Klaros zu pilgern. Waren Träume damals als prophetische Botschaften göttlicher Instanzen das Medium der Wahl, um aus höheren Sphären zu vermitteln, so dienen sie in unserem Kulturkreis bestenfalls noch als Ausdruck tief in der Psyche verborgener Wünsche und Ängste, die einander, wie ich aus langjährigen Analysesitzungen wusste, nicht selten zum Verwechseln ähnelten.
Es gibt wohl kaum einen Begriff, in dem sich die menschlichen Angst- und Wunschvorstellungen so sehr kreuzen wie den des Anthropozäns: ein Terminus, menschengemacht wie alle Worte – ob nun Gnade, Gaia oder genetischer Flaschenhals. Ein Begriff, der geprägt wurde, um die weltbeherrschende Hauptrolleder eigenen Spezies im Schauspiel des irdischen Lebens zu benennen und damit zugleich das räuberischeWirken der Industriegesellschaften als menschliche Natur festzuschreiben. In dem Dilemma um den Anthropozänbegriff stecktein alter Konflikt: Es gibt kein wertfreies Beschreiben. Mit jedem Wort, das wir in den Mund nehmen, mit jeder Metapher, die wir heranziehen, mit jeder Redewendung, die wir bemühen, gestalten wir die Welt mit. Nun lehrt die Erfahrung, dass das gelebte Leben seine folgenschweren Kipp- und Wendepunkte oft erst verzögert offenbart. Momente, die im unmittelbaren Erleben harmlos wirken, entfalten erst im Rückblick ihr schicksalhaftes, zwangsläufiges Potenzial. Die Geschichtsschreibung – ob nun die der eigenen Biographie oder die der globalen Erdnutzung, die nur schwer von der Umweltzerstörung abzugrenzen ist – identifiziert die Dreh- und Angelpunkte erst im Nachhinein.
Wann also hat die Misere angefangen? Mit der Ausrottung des Riesenfingertiers in prähistorischer oder der Einführung der Dampfmaschine in frühmoderner Zeit? Mit dem mesopotamischen Buchhaltungssystem, das Vorratshaltung und Besitzdenken erfand, der neolithischen oder der industriellen Revolution? Mit dem Bergbau, dieser abgründigsten aller Künste? Mit welcher der beiden Erfindungen Fritz Habers? Jener, die es erlaubte, Düngemittel synthetisch herzustellen und damit Milliarden von Menschen zu ernähren, oder jener, die es möglich machte, die feindlichen Soldaten im Ersten Weltkrieg mit toxischen Gasen dahinzuraffen. Es war der heimliche Protagonist dieses Textes, good old Haldane, der sich – als Kanarienvogel vom Dienst – im Mai 1915 an die Front der Schlacht von Ypern wagte, die tödlichen Dämpfe als Chlorgas identifizierte und dagegen sogleich eine provisorische Gasmaske erfand. Alles hing mit allem zusammen. Nicht ohne Grund hatte sich Haldane im Laufe seines Lebens zum Umweltphysiologen entwickelt und 1935 in seiner Philosophie eines Biologen mit durchaus poetischen Worten festgestellt:
»Die Tatsache, dass das Leben eines Organismus seine Umwelt umfaßt, bringt es mit sich, daß die Leben verschiedener Organismen, obschon sie voneinander unterschieden werden können, sich gegenseitig durchdringen. Es gibt keine räumliche Trennung zwischen den Leben verschiedener Organismen, genauso wenig wie es räumliche Trennungen innerhalb des Lebens eines einzelnen Organismus gibt.«[5]
Als ich Sibylle abends davon erzählen wollte, winkte sie nur ab. »Genau. Es war keine Waffe, es war ein Beutel«, sagt sie ohne erkennbaren Zusammenhang, »und die ganze Frühgeschichte mit ihren auftrumpfenden Mythen vom Jagen und Töten eine imperiale, heroische Erzählform, die uns komplett versaut hat.« Ein Teil der Zettel lag auf dem Flurboden verstreut. Sie hatte Ursula LeGuin entdeckt und beschlossen, deren ›Tragetaschentheorie des Erzählens‹ auf ihren epischen Filmhandlungsbogen zu übertragen, eine Geschichte ohne Helden, in dem Figur und Hintergrund verschmelzen, ein multiple Universen mühelos umspannendes Wimmelbild. Ich war überzeugt, aber ratlos, was das für mein Schreiben bedeuten sollte, wie ich diese myzelartigen, schwer durchschaubaren Verflechtungen mittels Sprache erfahrbar machen konnte, mittels einer Schrift, die die Lücken braucht, um einen Text lesbar zu machen, mittels einer Grammatik, die bei aller Gewachsenheit ein zwar starkes, doch starres System ist. Auch die Genrefrage stellte sich einmal mehr. Eine Anhängerin des Romans, dieser bürgerlichen, individualistischen Gattung, war ich nie gewesen. Seinen Prototyp, in dem ein weißer Mann auf einer einsamen Insel eine sehr fragwürdige Version zivilisatorischer Prozesse, inklusive Sklavenhaltung, noch einmal durchläuft, hatte ich gleichwohl verschlungen. Jetzt fiel mir wieder ein, dass Robinson Crusoes größtes Problem nicht der Hunger darstellte, sondern die Einsamkeit, die er mit der Zähmung eines jungen Papageis zu vertreiben probiert, bevor er seinen erzieherischen Ehrgeiz einem Artgenossen angedeihen lässt.
Ich versuchte mir eine Welt ohne Vögel vorzustellen. Es hieße nichts anderes, als sich das Grauen auszumalen, die totale Stille, das Ende der Welt.Konnte Stille laut sein? Konnte sie Menschen zum Handeln bringen? Immerhin galt ein Buch eines anderen, nicht minder heroischen scientist – einer Meeresbiologin – als Ausgangspunkt derUmweltbewegung, das zwar ohne Bergwerkskanarien auskam, in dem jedoch das Verstummen der Vögel ein dringendes Warnzeichen dafür war, den Rückzug anzutreten. In Rachel Carsons 1962 erschienenem Buch Silent Spring wird das Schweigen der Vögel zur titelgebenden Realität und Metapher – und die Abwesenheit des Vogelgezwitschers zum markantesten Merkmal einer erstorbenen Gegend, die von einer »seltsamen schleichenden Seuche« heimgesucht wird:
»Es herrschte eine ungewöhnliche Stille. Wohin waren die Vögel verschwunden? Viele Menschen fragten es sich, sie sprachen darüber und waren beunruhigt. Die Futterstellen im Garten hinter dem Haus blieben leer. Die wenigen Vögel, die sich noch irgendwo blicken ließen, waren dem Tode nah; sie zitterten heftig und konnten nicht mehr fliegen. Es war ein Frühling ohne Stimmen. Einst hatte in der frühen Morgendämmerung die Luft widergehallt vom Chor der Wander- und Katzendrosseln, der Tauben, Häher, Zaunkönige und unzähliger anderer Vogelstimmen, jetzt hörte man keinen Laut mehr; Schweigen lag über Feldern, Sumpf und Wald.«[6]
Carson lässt keinen Zweifel daran, wer das zu verantworten hat: »Kein böser Zauber, kein feindlicher Überfall hatte in dieser verwüsteten Welt die Wiedergeburt neuen Lebens im Keim erstickt. Das hatten die Menschen selbst getan.«
»A fable for tomorrow«, heißt das Kapitel, und Carsons narrativer Trick besteht darin, dass sie vor einer akuten Katastrophe warnt, indem sie in ihrem ›Zukunftsmärchen‹ diese bereits stattgefunden haben lässt und die Zeichen zu deuten versteht. Es war die Umkehrung des schrillenden Alarms. Denn das Schweigen der Vögel taugte nur dann als Signal, wenn vorher jemand sie gehört hatte, wenn noch jemandem auffiel, dass sie fehlten. Vermisst werden konnte nur das, woran die Erinnerung noch lebendig war.
Immerhin war Carsons Studie, ein mit literarischem Einfühlungsvermögen und wissenschaftlicher Weitsicht geschriebener Appell, ein ermutigender Beweis dafür, dass Bücher sehr wohl das Aussterben einer Reihe von Arten und damit das nicht-metaphorische Leben von unzähligen Geschöpfen retten können, indem sie juristische Texte beeinflussen. Auch Gesetze und Verordnungen sind letztlich Literaturen, um deren Wert, Anwendung und Gültigkeit in Interpretationen gerungen wird.
1969, sieben Jahre nach dem Erscheinen ihres Buches, Carson war längst an den Folgen einer Brustkrebserkrankung gestorben, gab es den Durchbruch beim Verbot von DDT, einem nicht nur für Insekten, sondern auch für Wirbeltiere toxischen, krebserregenden und im Organismus schwer abzubauenden Stoff, nachdem die Vertreter des zuständigen Landwirtschaftsministeriums vor Gericht zugaben, dass sie nicht wie Haldane Versuche zur Toxizität durchgeführt, sondern lediglich die Angaben der Hersteller übernommen hatten.
Im selben Jahr hielt Kurt Vonnegut eine Rede vor der American Physical Society, vor einem Publikum aus Physiklehrern, was sicherlich nicht als generisches Maskulinum zu verstehen ist. Er, derselbst Ende der dreißiger Jahre ausgerechnet Chemie und Deutsch studiert hatte, dachte laut darüber nach, welchen Nutzen die Künste wohl haben könnten, mit Ausnahme des »interior design«. Er stellte dann etwas vor, was er »the canary in the coal mine theory of the arts« nannte: »Diese Theorie besagt«, so Vonnegut, »dass Künstler für die Gesellschaft nützlich sind, weil sie so sensibel sind. Sie sind hochsensibel. Sie kippen um wie Kanarienvögel in vergifteten Kohlebergwerken, lange bevor robustere Typen überhaupt eine Gefahr erahnen.« Vonnegut fuhr fort: »Das Nützlichste, was ich heute vor dieser Sitzung tun könnte, wäre, sofort umzukippen. Auf der anderen Seite kippen jeden Tag Tausende von Künstlern um, und niemand scheint ihnen die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.«[7]
Dass Vonnegut bei diesem Auftritt ein gelbes Kostüm trug, ist unwahrscheinlich. Vermutlich hatte er eines seiner beigen Sakkos an, ein Farbschlag, der im Katalog der Kanarienzüchter ebenfalls vorkam. Er sagte auch:
»Wenn ich jetzt zu den Studenten spreche, spreche ich moralisch. Ich sage ihnen, dass sie nicht mehr nehmen sollen, als sie brauchen, dass sie nicht gierig sein sollen. Ich sage ihnen, dass sie nicht töten sollen, auch nicht zur Selbstverteidigung. Ich sage ihnen, dass sie das Wasser und die Atmosphäre nicht verschmutzen sollen. Ich sage ihnen, dass sie nicht die öffentlichen Kassen plündern sollen. Ich sage ihnen, dass sie nicht für Leute arbeiten sollen, die das Wasser oder
die Atmosphäre verschmutzen oder die öffentlichen Kassen plündern. Ich sage ihnen, dass sie keine Kriegsverbrechen begehen oder anderen helfen sollen, Kriegsverbrechen zu begehen.«[8]
Eine ganz ähnliche Passage findet sich, stellte ich fest, in seinem im selben Jahr erschienenen Roman Slaughterhouse 5:
»Ich habe meinen Söhnen gesagt, dass sie unter keinen Umständen an Massakern teilnehmen dürfen und dass sie die Nachricht von einem Massaker an Feinden nicht mit Genugtuung oder Schadenfreude erfüllen sollen.
Ich habe ihnen auch gesagt, dass sie nicht für Firmen arbeiten sollen, deren Maschinen solche Massaker möglich machen, und dass sie jeden verachten sollen, der meint, dass wir derartige Maschinen brauchen.«[9]
Der Protagonist des Romans fällt »aus der Zeit«, weil er zu sensibel ist für das, was er während der Bombardierung Dresdens erlebt hat. In einem wild vor- und zurückspringenden, alle Chronologie vernachlässigenden Handlungsgeschehen wird er von Außerirdischen entführt, die hier die zwar unglaubwürdige, dafür umso überraschendere Rolle des Deus ex machina übernehmen, jener von außen eintretenden übergeordneten Macht, die gewöhnlich das festgefahrene oder auf die Katastrophe zusteuernde Erzählgefüge in letzter Minute zu entwirren weiß. Denn das Schreckliche, es war bereits geschehen.
In einer Rahmenhandlung beschreibt der mit Vonnegut offensichtlich eng verwandte Erzähler immer wieder, wie ich in diesem Essay, nichts anderes als ein Scheitern. In seinem Fall ist es das Scheitern, die Erfahrung des Krieges erzähl- und damit mitteilbar, auch teilbar zu machen, auch wenn er an einer Stelle behauptet, »die Dresden-Geschichte schon mehrmals skizziert« zu haben, da es sein »Geschäft« sei, »mit Höhepunkten und Nervenkitzel, mit Figurenentwicklung, tollen Dialogen, Spannung und Konflikten Handel zu treiben«. Als er das Manuskript endlich seinem Agenten gibt, ist dieser enttäuscht von dem geringen Umfang. Der Erzähler verteidigt sich:
»Es ist so kurz und wirr und schrill, Sam, weil es über ein Massaker nichts Intelligentes zu sagen gibt. Alle sind ja tot und haben nichts mehr zu sagen und nichts mehr zu wollen. Es herrscht vollkommene Stille nach dem Massaker, das bleibt nicht aus. Wenn da nicht die Vögel wären.
Und was sagen die Vögel? Was eben zu einem Massaker zu sagen ist? So etwas wie ›Tschilp-tschilp‹.«
Ich fand es hoffnungsvoll, dass Vonnegut die Vögel in seinem Text das Massaker überleben ließ. Mein Verstand kapierte immer noch nicht, dass die Geschichte nicht von uns handelte, dass wir nicht die Hauptperson waren, sondern nur eine mit dem Hintergrund verschwimmende Figur, die nichts anderes machte als Vögel mit ihrem Stimmfühlungslaut. Der Kanarienvogel, das war ich, und er versicherte mich, dass ich noch da war, in einer Gegenwart, deren prekärer Zustand nicht nur durch Wissenschaft benannt, sondern durch die Kunst erfahrbar gemacht werden konnte, einer Welt voller Midpoints, X-Faktoren und verstörender Schönheit, einem Geflecht einander auf Gedeih und Verderb bedingenden Lebens.
Ich war erschöpft. Mangel an Wissen war offenbar nicht das Problem. Gerade hatte der Club of Rome einen neuen Bericht veröffentlicht, der fünfzig Jahre nach seiner berühmt-berüchtigten Diagnose von den Grenzen des Wachstums zu einem Urteil kam, das mich traf wie der Schlag. »Die bedeutendste Herausforderung unserer Tage«, las ich mit leisem Grauen, »ist nicht der Klimawandel, der Verlust an Biodiversität oder Pandemien«, so das Forschungsgremium, nein, »das bedeutendste Problem« sei »unsere kollektive Unfähigkeit, zwischen Fakten und Fiktion zu unterscheiden«.
Mich fröstelte.
Es war über Nacht kalt geworden. In Sibylles Flur lagerten Holzscheite vor einer nackten Wand. Alle Post-its waren verschwunden. Sie hatte, gleich nachdem ihr der Gasanbieter gekündigt hatte, im Internet einen Kaminofen bestellt, der – mit einigem Glück – noch geliefert werden würde, ehe die Frostperiode begann. Wir würden im Winter das machen, was Aristoteles machte, wenn ihm kalt war: ein Feuer. Und vielleicht würden wir uns eine Geschichte erzählen, die zählt.