Johanna Dombois
Flüchtlingsode
Ich habe geweint, weil ich keine Schuhe hatte, bis ich einen traf,
der keine Füße hatte.
Leopardi
So lange ist es noch nicht her, dass man sich für eine Reise nicht bloß praktische,
sondern extra schöne Kleider anzog. Nichts Förmliches, Staatstragendes wie zur
Zeit der Kutschen. Aber ein Wissensrest war parat. Ich erinnere mich an ein orient-
blaues Mäntelchen mit Matrosenknöpfen, Schulterstücken und knisterndem Futter,
das regelmäßig vor den großen Ferien auftauchte. Woher, keine Ahnung. Selbst
ausgesucht hatte ich es mir nicht. Von einem Kauf wusste ich auch nichts, und sollte
es doch gekauft und mir nicht vermacht worden sein, mitgenommen hatte mich nie-
mand, in welchen Laden auch? Vom Gefühl her gehörte es ohnehin mehr zu Utensi-
lien, besaß den Rang der heiligen Saisonspielzeuge Puppenwagen, Papierdrachen,
Rodelschlitten. Es war einfach immer da, sobald im Sommer die Koffer gepackt wur-
den und schaukelte auf seinem Kinderbügel unter der Lampe wie eine Nussschale
auf See, in die bereits eine Brise hineinfuhr. Dass es zur Jahreszeit kaum passte,
wurde nie besprochen. Ebenso wenig, wohin es den Winter über verschwand, ob-
gleich ich dieser Sache schon gern einmal nachgegangen wäre. Aber an den Vor-
ratsschrank für Anziehsachen durfte ich nicht heran als sei das Apothekerware. Ge-
nau das war es wohl auch. Zu Stoff geronnene Geschichte, der fadenscheinige Teil,
recht betrachtet kein Vorrat, sondern Überrest, den man „in der Kommode“ – wie,
Mode? – für noch schlechtere Zeiten aufhob als jene, die man bereits hinter sich ge-
bracht hatte: Baumwollwindeln, Trauermanschetten und Einstecktücher, zusammen-
gerollte Regencapes in Etuis von der Größe eines Fingers, zwei Damasttischdecken
für Weihnachten zu zwölft, Autohandschuhe, Staubhandschuhe, Tanzstundenhand-
schuhe, ein Satz Vereinsabzeichen Deutscher Turner-Bund, Halswickel aus Resten
gestrickter Unterhemden von vor dem Krieg, Faschingstaft – ein Berg gestriger, aber
gut duftender, benutzter und doch unberührter Wäsche.
Jahraus jahrein kam mir das Mäntelchen neu vor, selbst als ich lange aus ihm her-
ausgewachsen war und es sich übrigens so davonmachte wie es gekommen war,
ungesehen. Neu und fremd. Ein steifer, gewachster Stoff, ich meine aus Popeline,
ein Wort, das mich heute noch zum Lachen bringt, nicht ganz so fest wie Markise
aber bestimmt kein smartes Textil, das sich dem Körper von selbst anpasst. Die An-
passung verlief eher umgekehrt. Nein, bequem war es nicht und auch nicht pflege-
leicht. Wenn es dann los ging, fühlte es sich an, als würden einem Flügelschalen
umgelegt. Knöpfe immer bis oben hin zu und ein Gürtel per Schnalle mit Dorn über
der Taille festgezurrt. „Gestiefelt und gespornt“, dass das etwas mit Aufbruch zu tun
hat, kann ich bestätigen. Im Eigentlichen war es eine kleine Uniform, um sich gegen
„Unbilden der Reise“ zu wappnen. Aber eben hemmungslos, fast drollig, weil ausge-
rechnet die Anziehprozedur ein Durcheinander ergab, das sonst nicht vorkam. Da
verschob sich plötzlich etwas. Sonst gab es viel Kinderleid mit Kleidern. Aber hier
war Tag der Ausnahme, ein Komplott aus Stoff.
Spätestens am Abfertigungsschalter setzte die Wirkung ein, mit oder ohne Zwi-
schenhalt. Mal war es Tempelhof – Teneriffa, mal Tempelhof – Korfu, Tempelhof –
Gran Canaria, danach wieder Teneriffa, einmal Malta, später Sardinien und Lanzaro-
te, das aber schon ab Tegel. Warum immer Inseln? Weil wir selbst Insulaner waren?
Ein Prickeln stieg ins Bewusstsein, dass wir, noch bevor die Bordkarten verteilt wa-
ren, uns jetzt von uns selbst entfernen, fremd werden durften auf gute Art, die Gro-
ßen mit Federn am Hut wie Robin Hood, und man sah es uns an. Diese Kleider
schalteten etwas in einem frei, das anders womöglich wehgetan hätte. Bei Gott, aber
das Kind kann ja gar nicht atmen! Genau dies konnte es. Dass sich im Mäntelchen
nicht wie am Spielplatz herumtollen ließ, führte dazu, dass man sich in sich selbst
hochhangelte, um über die Mauern zu schauen. Der feste Stoff übertrug sich, man
wurde selbst fester. Man wuchs! Sogar die Erwachsenen wuchsen nochmal, selbst-
verständlich nicht in Zentimetern. Von daher stimmt es auch umgekehrt, dass ich im
Grunde niemals aus diesem Reisemäntelchen herausgewachsen bin, obwohl ich
bald schon nicht mehr hineinpasste. Nicht mehr Korsett und noch nicht Jogginghose,
teils Requisit, teils Ethikstunde ist es ein ultimatives Kleidungsstück. Du meintest:
das Reisebegleiterundherzgestaltermäntelchen. Meinte ich. Durchs Anziehen war
etwas hereingekommen, das herinnen blieb, selbst wenn man es auszog – eine Hal-
tung, die sich ins Handeln übersetzt. Natürlich schaukelte es im Hotel vier Wochen
nur im Schrank. Aber in derselben Ecke lagen die Entenfedern, die Reisehüte, und
das bildete einen ganz anderen Berg. Es war eine Ausstattung, die allem Fassung
verlieh, das in uns fremd sein wollte.
Heute sind in den Hangars in Tempelhof keine Flugzeuge, sondern Flüchtlinge un-
tergebracht, die aus der Fremde kommen und eine pervertierte Form von Reise hin-
ter sich haben. Tempelhofer Freiheit nennt Berlin das neue Bewirtschaftungskonzept
für das Tempelhofer Feld. Die Kombination aus informiertem Optimismus und jüng-
ster Leiderfahrung hinterlässt einen eigenartigen Geschmack. Immerhin es ist das-
selbe Tempelhofer Feld, das Exerzierplatz der preußischen Könige war, im Ersten
Weltkrieg Militärgefängnis und Barackenlazarett, danach Veranstaltungsort der Na-
zis, und dann kamen erst die Candy Bomber. Zwischen Wiedergutmachen und
Schönreden liegt manchmal wenig. Der Name, den die Berliner Schnauze dem
Tempelhofer Luftbrückendenkmal zugedacht hat, trifft die Situation dort schon bes-
ser: Hungerharke. Zumindest darf man sich fragen, ob es nicht widersprüchlich ist,
Menschen freiweg, freiweg, an Flughäfen zu bündeln, die keineswegs mit Flugzeu-
gen, lediglich Zügen einreisen dürfen, allzumal wenn das asylgesetzliche Flughafen-
verfahren für sie nicht greift. Entweder ist man noch nicht da oder man muss gleich
wieder fort. Es gibt wenige Orte, die so sehr für Transit stehen wie Flughäfen. Will
man den Leuten unausgesprochen klar machen, dass sie sich doch, bitte, bald wei-
terzubewegen hätten? Man hört viel Unausgesprochenes. Die Unterkünfte, die das
Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten in Tempelhof errichtet hat, hei-
ßen TEMPOHOME. Noch so ein Wort, das kein Wort ist, sondern Content Manage-
ment. Aber TEMPO und HOME schließen sich aus. Sofern Ihr nicht HOUSE meintet.
Doch, wahrscheinlich meintet Ihr: Haus. Sonst gäbe es bei Euch keinen Zaun drum-
herum. Bloß wenn man schon in der Kategorie „Gebäude“ denkt, hätte man von
Tempelhof auch den „Tempel“ fürs Titeln verwenden können. Zugegeben führt dies
weiter zu Göttern und Ewigkeit und ist auf andere Weise deplatziert. Eine Alternative
allerdings ist es nicht, dass der Transitstatus für Flüchtlinge zur Dauereinrichtung
wird.
Bei all dem versteht sich von selbst, dass es um Notversorgung geht, die geleistet
werden muss und die auch in anderen Städten an die Flughäfen verlegt ist, weil dort
überhaupt Platz für Containerdörfer, Verteilerstrukturen, Familiennachzügler ge-
schaffen werden konnte. Am Drehkreuz Köln-Bonn kommt eine Anlaufstelle für die
Verwaltung und Verteilung von Kleiderspenden dazu. Die „Kleiderkammer“. Kleider-
kammer, Kreuzung aus Speisekammer und begehbarem Kleiderschrank. Das ist nun
wieder ein Wort, das verdient, Wort des Jahres zu werden. Es enthält etwas von vor
der Zeit, bei aller Stichhaltigkeit. Phantasien von Zuhauseorten (HOME) finden sich
ein, das kleine „Leider“ kriegt einen „Kamm“ geschenkt und macht sich hübsch, es
werden Lieder draus, Kammmacher, Katzenlocken, Kammerkätzchen, Klammerbeutel, Wäscheweiß und eine Schatzkammer für
schöne, niemals hässliche Kleider und
die Gerichtskammer für gerechte Knöpfe! Nur, so ist es nicht. Schneller als ein Zip
geschlossen, kehrt das Leid zum Kleid zurück.
Die Kleiderkammer, eigentlich „Uniformausgabe“ bei der Bundeswehr, ist am Flugha-
fen Köln-Bonn die zentrale Altkleidersammlung zur Grundausstattung Bedürftiger,
ein wichtiger Baustein in der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe, und, wenn man so will,
eine Tafel für Textilien: Wintermäntel, Anoraks, Jeansjacken, Jeanshosen, Tuchho-
sen und Cordhosen aus den Siebzigern, Jogginganzüge, Rollis, Sweater, Shirts,
kaum Röcke, wenige Kleider, Blusen keine, dafür sehr viel Weißwäsche, Laken und
Decken, Wollschals, Socken, Fingerhandschuhe, Fausthandschuhe, Badeslipper,
Moonboots, alles sortiert nach Funktion, Menge und Größen, Herrenabteilung da,
Damen dort, gegenüber die Ecke für Kinder und Zubehör. Auf einer aktualisierten
Bedarfsliste findet sich „Geldbörse“, auf einer weiteren „Kultur-Tasche“, man kann es
wörtlich nehmen, die Sammlung liest sich wie ein Destillat dessen, was Zivilisation
ausmacht. Also, unsere.
In diesen Tagen treffen am Drehkreuz überwiegend Menschen aus dem Maghreb,
Eritrea, der Region Kurdistan-Irak und Syrien ein. Sie sind entweder auf den Kanari-
schen Inseln oder auf Lesvos, Chios, Kos in Griechenland erstregistriert worden,
über den Landweg haben sie Berlin erreicht, sind dort amtlich erfasst und schließlich
Nordrhein-Westfalen zugewiesen worden, um den Ankunftsnachweis zu erhalten,
der die Voraussetzung für einen Asylantrag bildet. Alle haben binnen weniger Stun-
den Erste Hilfe, Essen und Trinken, ein Bett, unter Umständen etwas Schlaf be-
kommen. Und nun die Kleider. Wobei die Leute gewiss nicht nackt durch den Zoll
laufen. Schlimmer. Zerrissen. „Gequält von meinem eigen Hemd“, schrieb Giorgos
Seferis in seinen Gymnopaedia einmal über die Griechen, er, der Grieche, der selber
noch bei Smyrna geboren worden war. Ähnlich sieht es heute für die aus, die ähnli-
che Wege beschrieben haben. Die Ausstattung der meisten vor dem Drehkreuz ist
durch die wochenlange Reise zu Versehrtenkleidung geworden. Nicht vollkommen
verschmutzt, auch nicht ganz ohne jede Fasson, aber dünn gerieben, vergraut, zer-
knittert, mit aufgebrochenen Säumen, zerschossen. Auf der documenta 14 neulich
gab es im Kasseler Fridericianum einen Raum, in dem „sechs menschliche Gestal-
ten (Maschendraht auf Holzrahmen, Papier- und Kunststofffüllung, Gebrauchtklei-
dung)“ mit „neun Koffern, Vogelkäfig aus Metall und Kreide auf Teerpappe“ standen.
Es war eine Arbeit von Vlassis Caniaris (Hopscotch) aus dem letzten Obristenjahr
1974 und der Werkserie Immigrant, mit der auf jene „Gruppe migrantischer Arbei-
ter_innen [gezeigt wurde], die aufgrund von zwischenstaatlichen Übereinkünf-
ten ... durch das westliche Europa wanderte“. Die „kopflosen Attrappen“, die „ein
Hüpfspiel [bevölkern]“, sind andere Flüchtlinge mit anderen Zielen zu einer anderen
Zeit und unter dem Diktat anderer Normen, auch modisch gerechnet. Die Kleidung
jedoch ist die gleiche, im Gestus. Nicht schmutzstarrend, auch nicht ganz ohne Fas-
son, manches sogar daran versteckt bewahrt, aber unter welch Bedingungen – ge-
nauso zuende getragen. Das Elend hat eine Generaluniform, und die steht jetzt in
Köln-Bonn. Längst hat sich das „eigen Hemd“ auf die Haut der Menschen durchge-
brannt und verzehrt, was immer darunter liegen mag. „Getrenntsein ist ein Hemd von
Feuer“, sagt man in der Türkei, und Seferis sprach auch vom Tod des Herakles, der
nicht etwa durch Löwen oder Lanzen starb, sondern an einem selbstentflammbaren
Gewand.
Begreiflich demnach, dass die, die ankommen, ihre eigene gegen fremde Kleidung
eintauschen auf die Gefahr hin, dass die Folge paradox ist, weil die Leute ja selbst
fremd sind. Aber die ehrenamtlichen Kräfte am Drehkreuz sortieren vor, teilen zu,
helfen zu entscheiden, auch gegen die Gefühle. Manche Leute werfen alles hin und
wollen sich um nichts mehr kümmern. Mit den Mänteln wird die Reise weggeworfen.
Andere wirken gleichgültig und tun auf diese Weise, als sei nichts gewesen. Die ei-
nen wie die anderen brauchen trotzdem etwas. Was wäre das sonst, „Flüchtlings-
kleidung“? Kleider von Flüchtlingen? Auch. Aber zunächst Flüchten vor Kleidern. Vie-
le steigen aus ihren Schuhen aus, laufen barfuß durch die Ankunftshalle. Ein paar
Frauen vom Reinigungspersonal warnen sie, was lieb gemeint ist, aber eventuell
doch die falsche Reaktion, denn bei den überwiegend muslimischen Familien könnte
es ein Heimatimpuls sein. Wir hören von einem Mann, der seine Mutter auf dem Rü-
cken aus Afghanistan nach Europa getragen habe, weil diese ohne Schuhe gewesen
sei, vermutlich schon lange nicht mehr laufen konnte. Die Schuhe des Mannes muss
man sich vorstellen. Seltsam genug habe er sie anbehalten wollen. Ein Beamter vom
Lost & Found-Schalter hat über Monate Snapshots all der zertretenen Sneakers und
Latschen gemacht, tatsächlich, Latschen seien dabei gewesen. Menschen in Lat-
schen aus Karbala, Bagdad, Tikrit, Antakya, aus Homs, aus Peschawar, nicht genug
damit aus Dhaka, bald habe er eine Weltkarte hingehängt, um sich das zeigen zu
lassen. Sicher, auch aus Çeşme und İzmir, Rafina, da sei er selbst am Strand gewe-
sen im Urlaub, mit Badelatschen gegen die Seeigel. Aber dann aus Lahore, ein Mädel aus Lahore sei gekommen mit Pumps! Andere in ihrem Alter hätten ein Pferd
oder eine weiße Ratte. Sie Pumps. Erdbeerrot seien die gewesen, mit Discoglimmer.
Irgendwann habe man das Ganze nicht mehr zuordnen können. Die Pics sollten jetzt
ins Netz, er wisse sonst nicht, wohin damit. Die Serie ist erschütternd gut. So viele
Variationen von Kaputtsein. Rachsüchtige, schielende Dämonen springen einen an,
den amputierten Teufeln in der Geisterbahn von früher vergleichbar, aufgespreizt wie
fleischfressende Pflanzen, denen die Insektenbeine noch vom Maul fleddern, zahn-
los, gewürgt vom eigenen Schnürwerk und mit heraushängenden giftgrünen Zungen,
der Swoosh von Nike pulverisiert, der Puma zerfleischt, zentimeterdicke Gummiprofi-
le sind einfach weggebrochen, es ist nichts mehr da als schreiende Form. Vielleicht
noch heruntergetretene Hacken. Die man auch shocking finden mag, die aber Stan-
dard sind gerade bei den Männern. Ein morgenländischer Babouche ohne herunter-
getretene Hacken ist affig, und wenn sie keine Babouches mehr haben, geht es
eben auf die Turnschuhe. Allein es ist unmöglich, auf Hacken zu laufen, wenn keine
Sohlen mehr vorhanden sind. Mit oder ohne Schuhe, die meisten dürften über meh-
rere tausend Kilometer barfuß gegangen sein. Gequält vom „eigen Stiefel“ mit dem
Sporn im „eigen Fleisch“.
Zurück zur Ankunft. Einige kommen und tragen alles übereinander. Menschen, die in
die Flucht gezwungen wurden, suchen Möglichkeiten, auch etwas zu bewahren. Der
Puffer aus Stoff, den sie um sich herum schaffen, ist Umkehrzeichen des Nests, an
das niemand heran darf, und meistens ist das der eigene Körper, denn der geht
überall hin mit. In wie vielen Innentaschen stecken Familienandenken, Streicheltü-
cher, Trostborten, eine Nazar-Perle von Tante Melek. Wie oft wurde etwas ins Futter
eingenäht. Mitunter auf die Haut geklebt. Ihr Hüftgurt? Kopfwerfen, der sei nicht vom
Krankenhaus. Aber möchten Sie ihn dann nicht wechseln, er ist doch ausgeleiert.
Lā.* Hier, ein ganz guter Hüftwärmer aus Mohair, schauen Sie. Lā. Mit Stretch?! Lā.
Eine Situation, die alle nervt. An einer liegengebliebenen Bluse finden wir von links
mit Sicherheitsnadel befestigt ein Stoffsäckchen von der Größe einer Fingerkuppe,
es ist mit geweihtem Weizen gefüllt, ich wusste zufällig, was es bedeutet. Talisman
der orthodoxen Christen. Wenn etwas vergessen wurde, wird einem erst klar, was
verloren ging. Nadeln stecken öfter, wie Fischschwärme, mit Köpfen alle in eine
Richtung, in BH-Trägern, in Unterhemden. Warum? Nun, für die Hidschābs, es sind
Hidschāb Pins, und wohin mit denen, wenn man in ein Schlauchboot muss. Wo kam
der kleine Gebetsteppich her? Einer von den faltbaren, seidenen für die Reise, der
Mann, der ihn zum Mittagsgebet hinten bei den WCs gebraucht hat, muss ihn am
Körper transportiert haben. Eine Tasche hatte er nicht bei sich, und in der Kleider-
kammer gibt es keine. Was, Taschen? Gebetsteppiche. Es gibt in der zentralen Klei-
derkammer Nordrhein-Westfalens keine Spenden mit Gebetsteppichen? Es gibt
auch keine Pardesüler. Das gibt es doch nicht. Sind auch keine Trenchcoats vorrä-
tig, die für Muslimas umzufunktionieren wären? Lā. Schicken die islamischen Ver-
bände nichts? Oder: Ist religiöse Kleidung keine Kleidung? Das ist keine rhetorische
Frage, es könnte sein. Textilien zur Ausübung einer Religion wären selbst religiös
und von daher nicht oder lediglich auf Grundlage bestimmter Gebote übertragbar.
Auf den jüdischen Tallit trifft dies sofort zu. Gleichfalls auf die zwei Baumwolltücher
des Gewands der Wallfahrer nach Mekka. Ist es eben doch. Was? Rhetorisch. Ja.
Als Versuch zu sagen, dass die Bewältigung der ersten Aufgaben nicht die Schall-
grenze unserer Begriffsbildung sein darf.
Faktum ist, dass Geflüchtete nicht alles abgeben, was sie haben, selbst wenn sie
nichts mehr haben, und wir umgekehrt nicht alles dahaben, was sie auch sehr nötig
bräuchten, obwohl wir alles geben. Mitunter kommt es vor, dass Ankommende nichts
abgeben wollen, weil sie nichts annehmen mögen. Sie schimpfen und werden laut.
Sie sind keineswegs undankbar. Nur wollen sie sich nicht für etwas verpflichtet füh-
len müssen, das sie selbst beschämt jenseits der Fluchtsituation. Eine ältere Äthio-
pierin, die am Münchner Hauptbahnhof inmitten ihrer Familie auf dem Beton saß,
war in ein Tuch eingewickelt, das alles, was es in den Läden, Fluren und beleuchte-
ten Auslagen sonst gab, an Glanz übertraf. Der Dritteweltkitschverdacht löste sich
sofort im Schock auf, den der Anblick erzeugte. Das Tuch enthielt eine ganze Le-
bensgeschichte, mit Sicherheit war es Chiffe für eine soziale Position. Auch das ist
„Flüchtlingskleidung“. Nicht, dass die Leute obdachlos waren oder dass ihre Kinder
die vorüberziehenden Polizeihunde streicheln wollten, in diesem Fall brachte das
Textil auf den Punkt, wie kompliziert die Lage ist. Würde die Frau das Tuch in Köln-
Bonn abgeben? Würde sie es abgeben müssen, etwa auf Grund von Quarantäne-
vorschriften? Über Lampedusa berichtete jemand, dass den Neuzugängen dort ei-
gene Kleidung und textiler Schmuck „aus hygienischen Gründen“ abgenommen wer-
de. Ich war kürzlich in der Schnellreinigung, wollte ein Mantelkleid von mir dämpfen
lassen, noch aus dem Fundus, 40er Jahre, natürlich ohne Etikett, keine Waschanlei-
tung, denn das zeichnet Kostüme aus. Die spitzen Finger der Kassiererin, mit denen
sie das Textil begutachtete, es immer wieder weit von sich ab hielt, um mich darüber
zu informieren, dass ihr Geschäft keine Garantie übernehmen könne, empfand ich
bereits als grenzwertig. Es war, als ob sie mich und meine Qualifikation zu leben be-
gutachtete. Was sollen erst die Menschen am Drehkreuz empfinden.
Der bestgekleidete Mensch in Jahren war ein tappriger Barba Jannis in İstanbul. Er
kam von der Bushaltestelle kurz vor Taksim am Ende der İstiklâl, und klar, wollte zur
Aya Triada, eine der alten griechischen Kirchen der Stadt, er hatte sich schick ge-
macht. Der Sache nach ging der Mann in Lumpen, aber darin wie vollständig und
zivilisiert: mehlweißes Oberhemd, Binder, großgemusterter Wollpullunder, Jackett
aus Tweed und Tuchhose mit Bügelfalten, Stiefeletten, Schiebermütze, an Acces-
soires Schnauzer, Goldzahn, eine Selbstgedrehte, hoher Stock, das Perlenkettchen
in der Hand und ein frisches Basilikumbüschel hinterm Ohr. Überhaupt war alles
frisch, sicherlich mit Mottenpulver und dem unverwüstlichen Freund Stockfleck ver-
setzt, aber gehegt, geprüft, von einer Aufmerksamkeit, es würde den Wiener Opern-
ball beschämen. Ich weiß noch, die Ärmelaufschläge waren aufgesetzt, um darunter-
liegende Löcher zu befestigen. Selbst waren diese Aufsätze aber auch lange wieder
fadenscheinig, dasselbe bei den Ellenbogen, am Revers. Alles wirkte durchbrochen,
jedoch auf solch vorsichtige, filigrane Art wie ein Gaze im Gegenlicht, fast schwe-
bend, gleichzeitig festgefügt und saß genau an der Stelle, an die es gehörte wie
auch die ganze Person zu wissen schien, wohin sie gehörte – aus der Zeit gefallen.
Mit der Mode ist es wie mit einem sehr guten Haarschnitt, die Qualität der Form be-
hauptet sich erst, wenn es herauswächst. Kostümtechnisch gesehen war dieser
Mann eine wandelnde Bedarfsliste. Er lieferte die Zusammenschau eines Zeitalters.
In den Winkeln seines Outfits waren die Kleinasiatische Katastrophe, Rebetesrebel-
lion und Zweiter Weltkrieg, das Pogrom von İstanbul, ein Gastarbeiterleben und
Rentnersein zwischen griechischer Finanzkrise und AKP konserviert. Der zärtlichste
Aufmarsch der Weltgeschichte. So ging er, seine Panagia zu küssen.
Was nun? Alte Kleider und Altkleider sind augenscheinlich nicht dasselbe. Ein drittes
Mal stehen wir am Drehkreuz, diesmal, um uns selbst zu sortieren. Was Flüchtlings-
kleidung ist, relativiert sich angesichts unseres eigenen Verhaltens Kleidern gegen-
über. Mehr noch, angesichts unseres Verhaltens eigenen Kleidern gegenüber. Wir
rangieren unsere Mäntel, altgewordene Marken aus, verschnüren sie in Säcke, die
Säcke rotten wir zusammen, werfen sie nächst dem Müll in die Container in gutem
Glauben, es erreiche die, die weder Mäntel noch Marken haben. Doch das Gutsein
verschwindet mit in der Tonne und zerstört in den Zielländern die Mikrostrukturen
eigenverantwortlicher Textilproduktion. Am Drehkreuz wiederholt sich diese Proble-
matik unter den Bedingungen der Konfrontation. Welches Selbstverständnis haben
wir, dass wir Vertriebenen unsere abgetragene, ausgediente, leere Kleidung weiter-
reichen, allzumal im Stil des Kaufmannsladens? Erste Hilfe ist alternativlos. Aber
auch zweite und dritte, vierte, fünfte bis hin zu sechster und siebenter Hilfe ist nötig,
damit es nicht mehr weh tut. Hätten nicht viele die Mittel, eine Stange voll besonders
schöner, mithin neuer Kleidung zu spenden-spendieren, die deshalb nicht gleich un-
praktisch sein muss? Warum sind keine Fachbeauftragten für Fragen rund um über-
regionale, volkskundliche, religiöse Textilien engagiert? Es gibt einen textilen Butter-
berg, fabrikneue Ware bleibt ohne Abnehmer, weil diese sich in der Modebranche
impulsiv abwenden oder ändern. Besser, der Look würde getragen statt verklappt.
Solche Dinge.
Wenn wir auf die anderen wie uns selbst schauen, findet sich in der Kleiderkammer
Kleidung, von der wir denken, dass sie Flüchtlingen zupass kommt – eine Düne ge-
reinigter, aber überholter, sortierter und doch wahlloser Wäsche. Es trifft auch zu, es
mag dem Zeitdruck geschuldet sein, dass die Ankommenden weniger eingekleidet
als durchgekleidet werden, und die Nachteile einer Bundeswehreinrichtung schim-
mern durch. Zwischen karitativer Fürsorge und Funktionalismus ist ein Dilemma ent-
standen. Viele Geflüchtete wollen ihre Kleidung abgeben, schlicht weil wir ihnen
Kleidung anbieten; gleichzeitig vermachen wir ihnen Kleider, die sie nicht tragen mö-
gen. Irgendwo stehen die Leute doch entblößt da. Zugespitzt: Es ist nicht aus-
schließlich so, dass Geflüchtete ihre Kleidung abgeben wollen. Es ist auch so, dass
wir wollen, dass sie wollen, dass ihre Kleidung abgegeben ist. Spätestens an diesem
Punkt lässt sich nur mehr von „Anziehsachen“ sprechen. Der Körper wird selbst zur
Sache. „Anziehsache“ bedeutet, ich habe im politischen, seelischen Sinn keinen
Körper, und der muss nun bedeckt werden. Dass es auch anders herum abläuft, da-
von erzählen die Kleider auf ihre Weise. Anziehsachen ziehen entfremdete Men-
schen nach sich. Auf Bildern aus dem Flüchtlingslager bei Idomeni sind Anoraks und
Regencapes zu sehen, die die Insassen so zum Trocknen in die Zäune gehangen
haben, als schrien die Kleider selbst, mit hochgerissenen Kapuzen und abgespreiz-
ten Ärmeln, die in dieser Form notwendig das Kreuz bilden. Save Our Souls. Save
Our Clothes. So schmerzhaft es in sich sein mag, man muss einräumen, dass im
Zeichen unserer Hilfeleistung eine neue Uniformierung entstanden ist. Wir geben
Second-Hand-Kleidung ab und kriegen den Second-Hand-Menschen zurück.
Drehen wir das Ganze zur Probe um. Eine Situation, bei der uns Westlern Kleidung
aus dem Osten zugewiesen wird. Wie sind wir, wer sind wir da? Ortstermin Παναγία
της Λίνδου, Marienkirche von Lindos auf Rhodos, eine der wichtigsten Kreuzkuppel-
kirchen der südlichen Ägäis. Im Vorhof Körbe voll großer Tücher, Unisex, die bereit-
gestellt sind, um Gästen, die nicht entsprechend der orthodoxen Kleiderordnung an-
gezogen sind, einen Besuch zu ermöglichen. Das ist entspannt. Streng genommen
ließe sich erwarten, dass die, die kommen, wissen, dass in Griechenland wie auch
überall sonst in der christlich orthodoxen Welt beim Betreten sakraler Räume Schul-
tern und Beine bedeckt sein müssen. „Im Mindesten. Eigentlich auch Hals und Arme
und bei den Frauen zusätzlich die Haare, aber okay,“ am Eingang sitzt ein junger
Papas, der fließend deutsch spricht, „einige unserer Gäste sind überrascht, dass es
sowas bei uns gibt“. Andere scheinen noch nie etwas davon gehört zu haben, Kör-
perbedecken gleich Verschleiern gleich Islam, und der ist woanders. Er heiße übri-
gens Konstantinos, seine Eltern lebten in Köln, nai**, seit neunundsiebzig, die ortho-
doxe Kapelle in Deutz, die werde ebenfalls von einem Konstantin geführt, nächstes
Mal an Ostern wolle er hin. Bis dahin jedoch sitzt er hier: "No shorts, please", "No, no
shorts", "No shorts inside", "Please, no shorts allowed", "Please, Sir, take off your
baseball cap", "What?", "Your baseball cap, Sir", "Then why?", "Please, Sir, no caps
allowed inside", "No miniskirt, Madame, yes, same for you, thank you". Er lächelt.
Das tue er sieben Monate im Jahr, und vielleicht ist es seine Form, zum Herzens-
gebet zu gelangen. Auch er ist Ehrenamtler an seinem Drehkreuz und die Aufgabe
schwer, manches scheint von außen betrachtet kaum auszuhalten. Ein Besucher
behauptet, es gäbe sowieso nur alte Steine zu sehen, dafür müsse er sich nicht um-
ziehen. Ein zweiter meint, der Daumen geht Richtung Fresken, wer wolle schon so
aussehen. Unzählige Teenies, die das Tuch so knoten, dass Strandkleidung, also in
etwa doch Miniskirt herauskommt. Wieviel Abwehr für einen Zehnminutenbesuch,
dabei geht es „nur um Kleidung“, nicht wahr. Die Folge ist, dass es bis auf wenige
Ausnahmen niemandem möglich ist, ein rechteckiges Tuch so umzulegen, dass es
nicht als Lappen endet und die Meute selbst als Schar heillos hässlicher Vögel. Man
reibt sich die Augen. Merkt das keiner? Merkt sich keiner? Oder ist zuerst die Klei-
dung da, die man nicht versteht, und dann die Abwehr? Mal so gesagt, Unwohlsein
und schlechte Kleidung beinflussen einander.
Und wer hat nicht als Kind eine schlimme Erfahrung mit weitergereichten Kleidern
gemacht, Kleidern der größeren Geschwister, anderer Kinder, die man hasste, die
Kinder, aber vor allem deren Kleider, weil sie ätzend, peinlich waren, wehtaten, Fle-
cken auf der Haut hinterließen. Zwicken und Zwacken fremder Bauchknöpfe und
Reißverschlüsse, die sich gegen einen verbündeten. Gab das eine nach, wurde das
andere mächtig. Oder dieses Ding aus harter quittengelber Wolle, das sie „Nieren-
schutz" nannten. Beim Umziehen für Sport wurde es zur Tortur, die anderen hatten
Unterwäsche mit Pailletten, es war das Gegenteil eines Reisebegleiterundherz-
gestaltermäntelchens. Die Schmachbereiterundseelenverwüsterhose. Das Schlimm-
ste an dieser Kleidung war, dass sie in allen Fällen so praktisch daherkam, einen
aber zugleich aufs Kleinsein reduzierte. Je praktischer, desto kleiner. Man war nur
schon eine Winzigkeit, dann wurde einem etwas übergestülpt, alle applaudierten,
ach ist das niedlich, und die Winzigkeit verschwand gegen Null. Später dann die
Kleidung von Müttern, Vätern, Tanten, Paten, Großeltern, noch später die von
Schwiegermüttern. „Du kannst doch meinen Bademantel aus dem Krankenhaus
nehmen, der ist fast nicht getragen.“ Reden wir nicht von der Kleidung Verstorbener,
in der man wiedererkannt wurde. „Du hast wirklich ihre Figur.“ Im Grunde ist es nie
nur eine Sache der Kindheit gewesen, sondern des Kleinseins als solchem, das in
einem verbleibt, man kann groß werden wie man will. Effektiv grausam war es
schon, einem die eigene Entwicklung einem guten Zweck zuliebe abzuschneiden.
Dass einem dieses Abgeschnittensein aber ausgerechnet durch Kleider, die einem
naherücken wie weniges sonst, „angetan“ wurde, das ist die Wunde. Als ob man
selbst als guter Zweck versagte, wenn man sich weigerte, sie anzuziehen. Zurück
zum Drehkreuz: Wir geben Flüchtlingen mit unseren gebrauchten Kleidern implizit
die Erfahrung des Verlusts von Freiraum weiter.
Seit kurzem ist ein Spiegel da. Eine Mitarbeiterin führt neue Kollegen herum, bei der
Ankleidekabine bleibt sie stehen: „Seht mal, das ist auch neu, das hatten wir am An-
fang nicht. Aber Ihr glaubt nicht, wie oft der jetzt benutzt wird.“ Wer? Sie macht einen
Hüpfer und wirft sich in Pose wie Models am Rand des Laufstegs, nun steht sie
zweimal da, einmal von vorne, einmal von hinten: „Na, Mr. Wonderland!“ In der Tat,
Ihr glaubt es spontan nicht, dass Geflüchtetsein und Aussehenwollen, Vertreibung
und modisches Begehren, Not und Stil sich nicht ausschließen. Dass Leute, die Hilfe
benötigen, auch etwas von einem Dernier Cri gehört haben. Sind Flüchtlinge wähle-
risch, etwa? Vielleicht stammen sie aus einem Paris des Ostens, Beirut, Odessa,
Tiflis. Allein die Vorstellung, dass Boatpeople bei der Auswahl ihrer Rettungswesten
geschmäcklerisch vorgehen, ist nahezu unerträglich. Weil es auf Euch obszön wirkt,
dass Mode bleibt, wenn Menschen fliehen? Dieselbe Mode, die man das Flüchtigste
auf Erden genannt hat. Doch gehört es zum Alltag in der Kleiderkammer, dass Jungs
anfangen zu weinen, wenn sie auf die Schnelle Mädchenpullis mit Daisy-Küsschen
abkriegen. Die Größeren halten Ausschau nach Baggy-Jeans, im Schuhlager gehen
am schnellsten die Damenstiefel mit Absatz weg, nicht die ohne, und Schmuck ist
als allererstes aus. Es gibt zwei Seiten, eine schlechte und eine gute, und dass man
selbst dies im Affekt nur als Widerspruch begreifen kann, bedeutet nicht, dass es
einer ist. Die den Spiegel ans Drehkreuz gebracht haben, sind auch Lebensretter.
Retter für jenen fragilen Moment, da das Leben in Sicherheit, aber noch lange nicht
gesichert ist. Wer die Gelegenheit bekommt, sich selbst im Spiegel zu sehen, sieht
zuallernächst: „Ich – ist noch da“. Der Spiegel funktioniert wie eine Rückversicherung
ohne Zins. Und dann gibt es die Chance, sich wieder zu wehren, sagen zu können
„Nee, der da bin ich nicht mehr“, indessen „dieser hier will ich sein“. Es ist die Chan-
ce zur Auswahl, ein Spielraum entsteht, über die Zeit kann man sich möglicherweise
zur eigenen Geschichte ins Verhältnis setzen. Natürlich lügt der Spiegel auch. Soll
er. Er ist es, der an die Schokoladenseite denkt, wenn diese noch unter einer Narbe
begraben liegt. Er macht, dass man größer und stärker wird. Man wächst. Sogar die
Erwachsenen wachsen nochmal, selbstverständlich nicht in Zentimetern. Mr. Won-
derland steht dafür, dass es beim Kleidertausch wie in den Märchen für dieses Mal
gut ausgeht. Das Bäumlein auf dem Grab der Mutter „rüttel und schüttel dich, wirf
schöne Kleider herab für mich!“, da werden die Aschesäcke gegen extra, extra
schöne Kleider, Strümpfe und Pantoffeln aus Silber und Gold und Perlen und Glas
und Edelsteinen ersetzt. Aus der Kabine plötzlich –
„Als ich, Aisha ...“ – eine Melodie, leise, aber auf Hip-Hop gemacht gemixt mit Litanei
und immer wieder von Kleiderrascheln unterbrochen:
... Tochter von Ahmed, zu Euch stieß,
Ein rotes Tuch bei mir, o, noch aus den Städten, Ihr meintet: Blut,
Da gabt Ihr mir Jod, das Blut zu stillen. Ummm, das braucht' ich nicht. Aber dann,
Dann nahm ich das Jod doch, ätzte das Tuch, bis Flammen darin loderten, so machte ich mir eine
gute Hölle zurecht. Hey,
Ich meine: Jeder braucht ein Tuch aus Hölle, um komplett zu sein.
Als ich, Aisha, Tochter von Ahmed, zu Euch stieß,
Ein schwarzes Tuch bei mir, o, noch aus den Schulen, Ihr meintet: Trauer,
Da gabt Ihr mir Steine, die Trauer zu bestatten. Ummm, die braucht' ich nicht. Aber dann
Dann nahm ich die Steine doch, beschwerte das Tuch, bis sich Falten darin kräuselten, so machte ich
mir ein gutes Meer zurecht. Hey,
Ich meine: Jeder braucht ein Tuch aus Meer, um komplett zu sein.
Als ich, Aisha, Tochter von Ahmed, zu Euch stieß,
Ein blaues Tuch bei mir, o, noch aus den Läden, Ihr meintet: Traum,
Da gabt Ihr mir eine Nadel, den Traum zu zerplatzen. Leute, die braucht' ich auch nicht. Aber dann,
Dann nahm ich die Nadel doch, durchbohrte das Tuch, bis Sterne darin funkelten, so machte ich mir
einen guten Himmel zurecht.
Ich meine: Jeder, hey, braucht ein Tuch aus Himmel, um komplett zu sein.
Als ich, Aisha, Tochter von Ahmed, zu Euch stieß,
Selbst ein weißes Tuch bei mir, o, noch von den Böden, Ihr meintet: Nichts,
Da gabt Ihr mir ein Messer, das Nichts abzuschneiden. Ummm, das braucht' ich nicht. Aber dann
Nahm ich das Messer doch, filetierte das Tuch, bis Schleier davonflatterten, so machte ich mir eine
gute Luft zurecht.
Ich meine: Hey, jeder ...
„Hallo! Hallo, kann mir jemand den Reißverschluss aufmachen?“
... und als ich zu Euch stieß,
Ein grünes Tuch bei mir, o, Wiederholender, noch von den Höfen, meintet Ihr: Gott.
Ich auch. Ihr gabt mir nichts. Ich brauchte nichts.
Ich meine: Wer hat kein Tuch aus Gott.
Aisha, Tochter von Ahmed.
Ach, aber das gelbe Tuch, Kinderchen, noch von den Feldern! Ihr meintet: Geld
Und gabt mir einen Topf, das Geld zu verbergen. Ummm ...
Dann aber nahm ich den Topf, doch doch, verquirlte das Tuch mit Ei, Fett, Mandel und Sirup, bis Teig
darin quoll, so machte ich mir einen guten Safrankuchen.
Ich meine: ...
"Please, somebody there who can help me?" Der Vorhang wird von innen geknufft,
wölbt sich, und eine Type lugt heraus, die sich bis auf den Zip längst selbst geholfen
hat. Wir sollten mal über Stil reden.
Eine Zeit lang kursierten im Netz Aufnahmen von LKW-Fahrern, die sich den Jux
gemacht hatten, auf den Zubringern zum Channel Tunnel bei Calais ihre Handyka-
meras mitlaufen zu lassen. Wacklige Filmchen von 7 Minuten, 10 Minuten, ein Take
fast 13, nur Autobahn Autobahn Autobahn, doch das Bild reißt nicht ab, weil an den
Leitplanken ein ebenso wenig abreißender Zug junger Männer zu sehen ist, die alle
dasselbe vorhaben – auf einen Laster springen, um so nach Großbritannien zu ge-
langen, des besseren Asyls wegen. Vor allem aber: alle dasselbe anhaben. Es ist
vollkommen gespenstisch. Jeans und T-Shirt Kurzarm mit Aufdruck, Sprache egal,
Message egal, Jeans und T-Shirt, Jeans, Jeans, Jeans und T-Shirt Kurzarm mit Auf-
druck. Das Drama des Exodus teilt sich über Kleider mit, die ausstellen, dass die
Suche nach Freiheit selbst schabloniert ist, und dabei ist es irrelevant, ob es sich um
eigene oder fremde, gute oder schlechte Kleidung handelt. Diese Leute werden nie-
mals ankommen, glaubt man, weil sie keine Chance haben, sich andere Hosen und
Hemden zu beschaffen. In jedem Fall hat sich die Empfindung eingenistet, Flüchtlin-
ge sehen alle gleich aus, und das ist eben der Flüchtlingsstil.
Jene, die Zulass gefunden haben, nehmen mit dem neuen Platz auch Kleider in Be-
sitz. Und wieder, nicht unbedingt neue, aber in Besitz. Zwischen Behausung und Be-
kleidung besteht ein tiefer Zusammenhang. Gerade die jungen Männer in den
Camps beginnen, mit den gespendeten Kleidungsstücken etwas Eigenes zu colla-
gieren. Dabei wird immer öfter nach Labels, abgelegter Designerware gefragt. Ein
Zeitungsbild aus Agathonisi: Im Hafen schläft eine kleine Gruppe Geflüchteter unter
einem mit der griechischen Flagge bemalten Fels, zwei Worte sind zu erkennen,
ΕΛΛΑΣ und Calvin Klein, und das erinnert auch an die Stunden nach dem Hoch-
hausbrand von London 2017, als spontane Kleiderspenden bei der Feuerwehr ein-
gingen, es hieß, die Säcke seien randvoll gewesen mit Prada und Gucci. Wobei es
den Jungs in den Auffanglagern kaum um Eitelkeit geht, sondern Bewegung. Solan-
ge einem noch gesetzliche Begrenzungen auferlegt sind, macht man Testläufe des
Ichs. Man gestaltet, man darf Zweckfreies tun, das nicht automatisch nutzlos ist. Wer
wäre ich, hätte ich alle Rechte und übrigens auch Pflichten, die umso mehr mit Klei-
dern zu tun haben? Auf dem Weg dahin entsteht ein Dazwischen, man ist nicht mehr
out, aber auch noch nicht in. Dass Mode mithin Politik ist, zeigt sich spätestens, so-
bald es um – solche – Grenzgänge geht. Jedenfalls findet eine Verschiebung statt,
wenn ein Vertriebener Hosen trägt, die aus Trendgründen zerrissen sind.
Viel zu einfach wäre es zu glauben, das Interesse an Marken sei bloß ein Manöver,
sich einer Gesellschaft anzuähneln, von der man Aufnahme erhofft. So in etwa „Mo-
de als Mimikry“, und das Update von „Kleider machen Leute“ lautet „Mode inte-
griert“? Nun ja, Mode-Dummies und Nachmacher gibt es überall. Doch selbst die, die
alte neue Kleidung als Integrationshilfe wollen, bleiben in ihr bis auf Weiteres fremd.
Ein Körper integriert Kleider nicht leicht, solange der Körper selbst nicht integriert ist.
Und auch wenn Geflüchtete „unsere“ Labels tragen, was immer das sein mag, denn
im Nahen Osten und Nordafrika gibt es genauso Flagship-Stores, bleiben es ihre
Labels, weil sie sie eben anders „tragen“. Wie denn? Sie tragen nicht die teure Mar-
ke, sie tragen, dass man teure Marken trägt.
Buchstäblich, Labels werden ab- oder herausgetrennt, manches ausgeschnitten wie
Weihnachtssterne, das Lacoste-Krokodil geht anders nicht ab, und auf 1-€-Hemden
gesteckt. Aus einem Korridor taucht ein Jackett auf, dessen Vorderseite mit Labels
gepflastert ist – ein Schaufenster, das das Ausstellen ausstellt und selbst Schau-
fenster wert ist. Dann natürlich das Abarbeiten an all den Chuck All Star und rund 30
Air Jordan-Modellen von Nike, überhaupt an Retro-Sneakern, deren Fließbandno-
stalgie durch Basteln zu neuartigem Textilschrott, wie soll man nun sagen: runter-
oder hochgekartet wird, und wohlbemerkt alles nur mit Second-Hand-Ware. Kreuze
ein ausgewachsenes Paradox mit einem dominanten Widersinn, so erhälst Du ...
Kombinationen, die ich gesehen habe: Links All Star blau, rechts All Star weiß; links
All Star blau Imitat, rechts All Star blau Original; links All Star blau, circa 1990, noch
aus Damaskus, ohne Zunge und zerfetzt, rechts All Star blau neuwertig; Air Jordan
XXV "Welcome Home" mit heruntergetretenen Hacken; AJ VII Sohle gekappt, alles
aufgeschnitten und halb umgestülpt links wie rechts als Knieschoner; AJ XVIII oder
AJ XIX, der schwärzeste Schuh der Welt, umgesprayt auf lackweiß; apropos, das-
selbe mit „Red October“ Air Yeezy von Kanye West, dem „Red October“, wo immer
dieser herkam; apropos „wo immer dieser herkam“, ein Bursche war da, der sich
seine nackten Füße mit dem milchigen Ahornrot des „Red October“ bis hoch an die
Fesseln zugesprayt hat, die Eltern hätten noch einen Freakout bekommen, doch
stark war es. Was für ein Kommentar auf ein Leben zwischen Unikat und Zitat. Nicht:
Sie werden in unseren alten Marken gut aussehen, sondern: Sie werden unsere gu-
ten Marken alt aussehen lassen.
Es gäbe sogar kleine Modenschauen. Selbst habe ich nichts gesehen, aber gehört
davon. Diese würden von den Mädels organisiert, von denen viele wahrscheinlich
am Instagram-Tropf hängen. Man kann den Catwalk im Wohncamp auch ge-
schmacklos finden. Aber wir wohnen dort nicht, und wenn Leute eine Kopie brau-
chen, um vom Stigma ihrer Lebensgeschichte loszukommen, dann bedeutet Kopie
Befreiungsschlag. Meist rechnet man sowieso nicht mit ein, dass alles Kopierte not-
wendig eine Handschrift enthält. Mit den textilen Mitteln, die Geflüchtete zur Verfü-
gung haben, lässt sich nichts fundamental Neues kreieren, wie auch, aber viele be-tonen das Gegebene auf eine Weise, dass es übers eigene Ziel hinausschießt, um
am Schluss halbfremd dazustehen wie ein Text, in dem jedes zweite Wort aus einer
anderen Sprache herübergeholt ist. Und so der Situation geflüchteter Menschen
exakt entspricht. Aus dem Off zwischen Flughafenterminal und Containerdorf kommt
ein Chor: Ihr habt ankleiden, warum kein mitkleiden, umkleiden, warum nicht abklei-
den? Euer bekleiden könnte vorkleiden sein, einkleiden bitte zukleiden. Über- und
verkleiden? Besser unter- und zerkleiden! Aus entkleiden macht nachkleiden! Das
Auskleiden ist Rauskleiden! Und jetzt lasst immer mal das „k“ weg.
Was anfangs Rotkreuzspende war, dann Flüchtlingsstil, erscheint inzwischen als
Ausdrucksform von Niemandslandbewohnern. Rätselvoll, wieso Leute, die für einige
von uns noch nicht einmal richtig da sind, bereits Kleider besitzen, die über ihr Nicht-
dasein Auskunft geben? Nur, wenn man selbst in Kategorien von „Anziehsache“
denkt. Wir haben den Neuen einen Spiegel in die Anprobe gestellt. In Wahrheit sind
sie unser Spiegel. Über den Umweg unserer alten Marken und Modelle machen
Flüchtlinge aus den Anziehsachen, die wir ihnen gespendet haben, gerade wieder
Kleider, die wir selbst gern hätten. Kleider, die nicht Schale sind, sondern zum Kern
gehören. Wir reichen Hilfsgüter an sie weiter. Sie uns einen Begriff von Kleidung zu-
rück. Welcher wäre das genau? Kleider sind Kern in Form von Schale.
Den Spiegel am Drehkreuz hatte neulich jemand angehaucht, wahrscheinlich, um
ihn sauber zu kriegen, dann aber quer das Wort D E M O hineingeschrieben. Es ist
noch da, weil das Glas nach wie vor staubig ist. Woraufhin jemand Zweites mit Lip-
penstift M O D E daruntergesetzt hat. Wie manchmal alles an seinen Platz fällt. Man
muss es nur, man muss sich nur umstellen: O D E M.
Der Text entstammt dem Band: Johanna Dombois: Rettungswesen. Prosa. Parasitenpresse | Verlag
für neue Literatur. Köln, November 2018 (Reihe Paradosis Bd. 12), S. 49-70.
* „Lā“ (im Orig. S. 56f.): Arab. [transkribiert] für „nein“.
** „nai“ (im Orig. S. 61): Neugriech. [transkribiert] für „ja“.