Marie Lucienne Verse

Aufschlussfiguren

Ein Schild am Ortseingang: Dieser Ort ist Eigentum der MIBRAG mbH.

RWE LEAG MIBRAG
BAGGERARM WEIL
GEWIRR BLAMAGE
BELAG AM IRRWEG

Was übrigbleibt, sieht aus wie eine Kraterlandschaft.

Im Sommer fuhren wir an den Cospudener See, D., S. und ich. Wir wollten bis auf den Grund tauchen. Mit etwas Glück, so dachten wir, würden wir auf den Rand eines Kraters stoßen, seine Form ertasten, die wir uns wie die Windpockennarben auf unserer Haut vorstellten, nur viel größer und tiefer. Wir wechselten uns ab mit der Taucherbrille, verwandelten uns eine nach der anderen in Vogelgesichter, blieben unter Wasser unerkannt. Nach jeder Tauchsession kehrten wir erfolglos, aber nicht entmutigt zu unseren Handtüchern zurück. Auf der Wasseroberfläche spiegelten sich die Schornsteine des Kraftwerks Lippendorf. Die Rauchsäulen zitterten auf dem Wasser, darunter die abgeschnürten Betonhälse.
Als wir am Abend zurückradelten, flogen im Auwald Leuchtkäfer um uns herum.

Ein Aufschluss als Stelle, an der etwas zu Tage tritt. Wo bin ich, während ich auf die Stelle schaue?
Sehe ich von oben: Löcher mit Dörfern dazwischen. Sehe ich von unten: aufgerissenen, braunen Boden, durch dessen Risse Licht dringt.

Der Bagger 288 war zu S. nach Hause gefahren. Nicht in ihre WG nach Anger-Crottendorf, sondern in das Dorf, in dem sie aufgewachsen ist.
An einem Nachmittag im Freibad hatte sie uns von der Überfahrt erzählt. Sie lag in der Mitte auf einem dunkelblauen Handtuch, D. und ich neben ihr auf hellblauen Handtüchern. Dass der Bagger 288 auf dem Weg zum Tagebau den Bagger 259 auf der A61 getroffen hatte. So wurde es in den Nachrichten beschrieben; wie ein Treffen unter Freunden. 40 Mitarbeiter begleiteten den Transport. Passten auf, dass die beiden Bagger sich gut miteinander verstanden.
S. zeigte uns ein Foto, das ihre Mutter über Whatsapp geschickt hatte. Auf dem zersprungenen Display sahen die Stahlseile, die die Schaufelräder des Baggers miteinander verbanden, wie die Nachbilder eines hin- und hergeschwenkten Partylichts aus. Ich stellte mir vor, wie S.s Mutter das Handy aus dem Fenster in die warme Luft gehalten hatte.

Jahre später schaue ich mir im Internet Bilder an, lese, dass der Bagger 288 so hoch ist wie die Freiheitsstatue und so schwer wie 8667 Autos.[1] Dass er durch seine große Auflagefläche einen geringen spezifischen Bodendruck hat, was ihm ermöglicht, über Erde, Schotter und auch Gras zu fahren, ohne eine tiefe Spur zu hinterlassen.[2]

S. erzählte, wie der Tagebau wuchs, seine Form veränderte, auf den Flugbildern eine kaum wahrzunehmende Größenveränderung, aber aus dem Küchenfenster sah ihre Mutter das Loch immer näherkommen. Es grenzte das Dorf von allen Seiten ein, lauerte, ließ am Ende nur noch eine Ausfahrt. Die Richtungsschilder vor dem Kreisverkehr verloren ihre Bedeutung.
Der Energiekonzern zapfte die Wasseradern an, saugte alles ab. Später würde sich das Wasser einen anderen Weg suchen.
Das Dorf wurde zum Grenzgebiet. Es gab diejenigen, die bleiben wollten, und die, die ihre Verträge schon unterschrieben hatten, die den Tag herbeisehnten, an dem sie aus dem Fenster schauen würden, und da wäre nichts mehr, das ihnen über Nacht zu nah gekommen war.
S.s Mutter hatte nur auf die ersten Briefe des Energiekonzerns geantwortet. Sie hatte gefragt, was nach der Umsiedlung mit ihren Obstwiesen passieren, wie die Ernteausfälle gezahlt werden würden. Es kam keine Antwort, irgendwann nicht mal mehr eine Einladung zu den Versammlungen im Gemeindehaus.

Als Kind wollte ich nie mitspielen, wenn auf Kindergeburtstagen Lotti Karotti gespielt wurde. Das Spielbrett ist ein grüner Plastikhügel mit doppeltem Boden. Während des Spiels öffnen sich Löcher im Hügel, und die Spielfiguren, Hasen in verschiedenen Farben, werden vom Erdboden verschluckt. Wo das Loch entsteht, ist Zufall. Trotzdem gibt es einige Zuverlässigkeiten:
1. Ein Loch entsteht nur, wenn zuvor jemand an der Karotte in der Mitte des Hügels gedreht hat.
2. Nur wer vorher eine entsprechende Karte gezogen hat, dreht an der Karotte.
3. Wenn jemand an der Karotte dreht, tut sich auf jeden Fall irgendwo ein Loch auf.
4. Es entstehen nie mehrere Löcher gleichzeitig.
5. Die Figur darf wieder geborgen und zurück auf den Startpunkt gesetzt werden.

Bundesnaturschutzgesetz, §1: Beim Aufsuchen und bei der Gewinnung von Bodenschätzen, bei Abgrabungen und Aufschüttungen sind dauernde Schäden des Naturhaushalts und Zerstörungen wertvoller Landschaftsteile zu vermeiden; unvermeidbare Beeinträchtigungen von Natur und Landschaft sind insbesondere durch Förderung natürlicher Sukzession, Renaturierung, naturnahe Gestaltung, Wiedernutzbarmachung oder Rekultivierung auszugleichen oder zu mindern.[3]

Aus den Rissen soll etwas Schönes entstehen, zum Beispiel ein Freizeitparadies, in dem man rudern, schwimmen, wandern, inlineskaten oder segeln gehen kann. Es ist billiger, die Tagebaurestlöcher zu fluten, als sie forstlich oder landwirtschaftlich zu rekultivieren.

D. und ich saßen auf einem Baumstamm am Ufer und schauten S. zu, wie sie ihre Klamotten auszog. D. und ich trugen schon unsere Übergangsjacken, S. nur einen Pullover. Bevor sie ins eiskalte Wasser rannte, drehte S. sich noch einmal um und schaute uns herausfordernd an.
Es war nicht nur die Kälte, die uns davon abhielt, ihr hinterherzurennen. Wir spürten, dass es Orte gab, an die wir ihr nur blind folgen konnten oder gar nicht. Das Gefühl, aufholen zu müssen, hatte sich in uns ausgebreitet, also blieben wir sitzen, versuchten gar nicht erst, sie einzuholen.

In der Mitte des Störmthaler Sees schwimmt eine Insel, die an die Magdeborner Kirche erinnern soll. Ich lese, dass Magdeborn ein Dorf südlich von Leipzig war.[4] Um die unter Magdeborn liegende Braunkohle zu fördern, wurden ca. 3000 Einwohner umgesiedelt. Ihnen wurden Wohnungen in den neuen Leipziger Plattenbausiedlungen angeboten. Teile der Kirche wurden von anderen Kirchen übernommen. Drei Stahlglocken befinden sich im Glockenturm der Pauluskirche, eine Kirchentür in Störmthal, die Orgel in der Martin-Luther-Kirche.[5]

Ist die Bedeutung der zerstörten Landschaft gleichermaßen abhängig von der Art der Zerstörung und der Form der Wiederherstellung?

An jedem ersten Samstag im September ab ca. 15 Uhr treffen sich ohne vorherige Einladungen ehemalige Magdeborner zu einem Plausch über alte Zeiten und die verlorene Heimat. Treffpunkt ist im „Sportlerheim Störmthal“ in Großpösna, Hauptstraße 17, Telefon-Nummer: 03 42 97 / 4 11 30. [6]

Sich nach der Rekultivierung erinnern: privat, aktiv, öffentlich, erzählend, beiläufig, kollektiv.

Ich denke an Formen der zwischenmenschlichen Rekultivierung. Als D., S. und ich uns zum ersten Mal stritten, warfen wir uns alles an den Kopf, das uns einfiel. In einem direkt anschließenden zweiten Gespräch versuchten wir, das durch Worte Eingestürzte wieder aufzubauen, indem wir vorschlugen, später noch etwas Schönes zu machen, mehrmals wiederholten, wie gut uns das Gespräch getan habe, und betonten, wie froh wir seien, dass wir so offen über alles reden könnten.
Aber ein paar Stunden später, auf der Wiese im Park, fühlte es sich an, als hätte sich ein Schleier über uns gelegt.

Ein Adjektiv, das ich im Zusammenhang mit Rekultivierung immer wieder lese, ist behutsam. Als ob nach den unruhigen Jahren des Verlustes die Wiederherstellung mit extremer Vorsicht und sehr langsam geschehen müsse.

In den Monaten nach der Umsiedlung fuhr S. öfter nach Hause. Sie wollte sich an das neue Haus gewöhnen, sagte sie, und an den Ort, der den gleichen Namen trug, nur mit einem Neu und einem Bindestrich davor. D. und ich nickten, wir glaubten, zu verstehen, so lang kannten wir uns mittlerweile schon, gleichzeitig waren wir traurig, dass wir S. zwei Tage nicht sehen würden und trafen uns extra selten, damit sie nicht das Gefühl hatte, sie würde etwas verpassen.

Jedes Mal, bevor sie am Leipziger Hauptbahnhof ankam, schrieb sie D. und mir eine Nachricht. Dann schwangen wir uns auf unsere Fahrräder und radelten die Rosa-Luxemburg-Straße runter. Im Eingangsbereich vom Hauptbahnhof liefen wir langsamer, nahmen dann wieder Tempo auf, übersprangen zwei Treppenstufen und ließen uns völlig außer Atem bei Ludwig in die Ledersessel fallen. Wir bestellten drei Stück Kuchen, legten die Arme auf die Sessellehnen, saßen extra breitbeinig, weil die Sessel so wuchtig waren. Die Kuchenstücke rührten wir nicht an, bis S. hereinkam.

Zwischen Kuchenbissen erzählte sie in Andeutungen vom Wochenende. Dass sie sich verfahren habe auf dem Weg zum Loch, weil die Häuser in den neuen Dörfern alle so aussehen würden wie das ihrer Mutter. Nur ein Haus hebe sich von den anderen ab, das mit der neongelben Satellitenschüssel, auf die ein lächelnder Smiley gemalt wurde. Als sie das Haus mit dem Smiley nicht mehr entdeckt habe, denn an dem könne man sich gut orientieren, erzählte S., habe sie sich vorgestellt, sie könne einfach vor irgendeiner Einfahrt parken, hineingehen und drinnen würde es genauso aussehen wie in ihrem Haus. Die halb ausgepackten Umzugskartons im Wohnzimmer. Derselbe verkalkte Wasserkocher.
S. sagte in einem Satz das Haus meiner Mutter und in einem anderen unser Haus. Beim Loch gebe es eine Aussichtsplattform. Mit Panorama-Fernrohr, durch das man für einen Euro 15 Minuten die verschiedenfarbigen Gesteinsschichten, das Profil der Schaufelräder anschauen könne.

Ich stelle mir das Braunkohleloch geruchlos vor. An den Kanten bröckelig.

Dort, wo die Schaufelräder des Bagger 288 rotierten, soll nach 2045 eine Seenplatte entstehen. S.s Mutter wäre dann 80 Jahre alt und würde in einem Haus mit Seeblick wohnen.
In ihrem Flyer nennt die RWE AG die bereits entstandenen Rekultivierungsgebiete wertvoll.
Viel Raum für Natur bieten die Rekultivierungsflächen, steht unter einem Bild mit verpixelten gelben Blumen vor blauem Himmel. Durch die Umstellung der Satzglieder liegt die Betonung auf dem Objekt viel Raum für Natur.
Das Adjektiv wertvoll wird in zehn Sätzen dreimal wiederholt, die Natur als sich selbst erhaltende Kraft inszeniert: Das wertvollste Kapital zur Rekultivierung dieser Flächen liefert die Natur selbst: den äußerst fruchtbaren Lössboden, der ausreichend und in hoher Qualität zur Verfügung steht.[7]
Die RWE AG kann sich nach getaner Arbeit also entspannt zurücklehnen und der Natur wohlwollend dabei zuschauen, wie sie sich selbst wiederherstellt.

Die entstehende Bergbaufolgelandschaft erhält einen eigenen Namen. Neuseenland klingt wie ein Wort aus der Zukunft. Verspricht die Verwandlung der Kraterlandschaften: Aus einem Tagebau werden Seen, Diskotheken, Restaurants, Aussichtstürme und ein Freizeitpark.
2003 entstand auf der Fläche des ehemaligen Braunkohlegebiets Zwenkau der erste ostdeutsche Freizeitpark nach Vorbild westdeutscher Freizeitparks wie dem Phantasialand oder dem Heide-Park. Ein Park mit Attraktionen, die schon von weitem zu sehen sind und die verschiedenen Themenbereichen zugeordnet sind. Strand der Götter. Insel der Ritter. Küste der Entdecker.

Versöhnt man sich, so bleibt doch etwas hängen, sagt Alecto zu Megära. 8 Ich denke an das Gefühl im Park, frage mich, ob mit jedem Streit auch etwas irreparabel kaputtgeht, ob sich das, was sich über uns gelegt hat, je wieder ganz auflöst, und aus welcher Perspektive es am wenigsten spürbar ist.

In einem anderen Flyer bezeichnet die RWE AG den Eingriff des Bergbaus in die dichtbesiedelte Kulturlandschaft als vorübergehend. Ein paar Seiten weiter: Der Tagebau hinterlässt mehr Wald, als vorher vorhanden war. [9]
Wer hat die Sätze formuliert, mit denen ich versuche, mir etwas zu erschließen?

S. zeigte uns ein Bild, auf dem zwei braune Hügel zu sehen waren. Sie sahen aus, als wären sie von riesigen Maulwürfen aufgeworfen worden. S. sagte, es seien geschredderte und gerodete Bäume.

Im Radio läuft eine Sendung mit Hintergrundgeräuschen. Vogelzwitschern, dann etwas Metallisches. Der Sprecher sagt, dass selbst große Waldgebiete, die für viele der Inbegriff intakter Natur seien, von Menschen angelegt und kultiviert wurden. Dass auch Pfälzer Wald, Schwarzwald und Eifel vor wenigen Hundert Jahren weitgehend kahlgeschlagen waren, die Wälder, so wie wir sie heute kennen, planvoll von Förstern und Waldarbeitern gepflanzt wurden. Dass sie Kulturlandschaften seien, genauso wie die rekultivierten Tagebaugruben.[10]

S. erzählte von Spaziergängen im angrenzenden Waldstück, dass sie und ihre Mutter in einer Stunde bis zu 20 kreuzende Hirsche zählten.

Als der Himmel hinter den Bahnhofsfenstern längst dunkel geworden war, erzählte sie von den Tagen, an denen drei vom Energiekonzern vorbeikamen und ihren Bestand aufnahmen, alles zählten, sogar die Steckdosen. Zwölf.

Ich stelle mir unsere Freundschaft als Landschaft vor. Eine Landschaft mit Auenwäldern, Eichenwäldern, Siedlungsgebieten, offenen Wasserflächen, Deponien. Nach jedem Streit, je nachdem wie heftig er war, wären Lichtungen verwüstet, Baumstämme abgeknickt, Schaufensterscheiben eingeschlagen, manchmal ganze Wohnblocks eingestürzt, Feldböden bröckelig und zerfurcht wie nach einer langanhaltenden Dürreperiode. Ich stelle mir vor, dass wir die Bäume wieder aufstellen und die Bruchstellen so oft mit Gaffatape umwickeln würden, dass nur eine silberne Beule bliebe.



[1] Bagger 288 – Ein Gigant unter den Schaufelradbaggern, auf: https://www. thyssenkruppindustrial-solutions.com/de/produkte-und-services/mining-systems/schaufelradbagger/bagger288 (Stand Juni 2020)
[2] Bagger 288, Wikipedia, auf: https://de.wikipedia.org/wiki/Bagger_288 (Stand März 2020)
[3] Bundesnaturschutzgesetz §1 Ziele des Naturschutzes und der Landschafts-pflege, auf: https://dejure.org/gesetze/BNatSchG/1.html (Stand Juni 2020)
[4] Magedeborn, Wikipedia, auf: https://de.wikipedia.org/wiki/Magdeborn (Stand Februar 2020)
[5] Dittmar, Brigitte: MAGDEBORN - der Ort, den es nicht mehr gibt-, auf: http://www.brigittedittmar.de/Stationen/Magdeborn/magdebornTEXT.htm (Stand Juni 2020)
[6] ebd.
[7] RWE AG: Flyer Tagebau Garzweiler, auf: https://www.group.rwe › documents › tagebaugarzweiler-standort-flyer (Stand Juni 2020)
[8] Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Stuttgart, 1832, S. 36.
[9] RWE AG: Rekultivierung im Rheinland, auf: https://www.rwe.com/web/cms /mediablob/de/235956/data/0/3/Rekultivierung-im-Rheinland.pdf (Stand Juni 2020)
[10] Langen, Rainer B.: Kohle raus, Wald rein – Die Rückkehr der Natur im Tagebau, auf: https://www.swr.de/swr2/wissen/rueckkehr-der-natur-im tagebau,broadcastcontrib-swr19352.html (Stand Juni 2020)