Isabella Straub
Bis es still ist
Rachid hatte schon bessere Laune. Als er an die Packstation kommt, steht da so
eine Pickelfresse vor seiner Rutsche. Das reinste Clearasil-Testgelände, außerdem
abartig mager.
Hubmann zeigt auf den Kerl: „Das ist – wie heißt du noch mal? Jedenfalls ist er neu,
und du lernst ihn ein.“
Dass das nix wird, sieht Rachid auf den ersten Blick. Körperspannung eines Regenwurms, Arme dünn wie Paketschnüre. Ein Don Lauch, den man maximal zum Markenablecken abstellen kann.
„Jojo“, krächzt der Typ, und Rachid kapiert nicht. Gibt er dem Boss recht, oder heißt
der so schwul? Sicherheitshalber nickt er ihm zu, Hubmann steht immer noch daneben und glotzt. Am Ende der Woche soll Jojo fit sein für sechzig Pakete am Tag, sagt
Hubmann.
Sechzig.
Was ist das bitte für eine Zahl? Dass die Neuen Welpenschutz haben, stößt Rachid
übelst auf. Ihn hat man nicht geschont. Vom ersten Tag an: Gib ihm. Rachid fährt
täglich zweihundert Pakete aus, der Lieferwagen voll bis zum Anschlag. Da kannst
du um sieben in der Früh Tetris spielen, um den ganzen Mist zu verstauen.
Heute ausnahmsweise keine Pakete auf dem Beifahrersitz, weil da sitzt Jojo, stumm
und krumm. Sie fahren in Rachids Rayon. Die Sonne hängt schlapp am Horizont.
„Und? Was hat dich zu den Paketen verschlagen?“
Jojo zuckt mit den Schultern, schaut zum Fenster raus.
Rachid schaltet hoch.
Er hat keine Lust zu palavern, aber er muss ihn gleich einmal aufklären. „Eins sag ich
dir: Vergiss den Stundenlohn. Die ziehen dir jeden Monat was ab. Die sagen: eine
Delle im Kotflügel oder zu viele Benachrichtigungskarten gedruckt oder so einen
Scheiß. Jeden Monat erfinden die was Neues.“
„Weiß ich“, krächzt Jojo.
Der hat doch was mit dem Hals. Und seine Pickel leuchten, Mann, da möchte man
nach dem Stift greifen und die Punkte miteinander verbinden, vielleicht kommt ein
Bild dabei raus.
„Kannst du –“, fängt der Typ an.
„Was.“
„Das Fenster. Kannst du das Fenster?“
„Was ist mit dem Fenster.“
„Zumachen.“
„Warum.“
„Es ist kalt.“
Der hat sie ja nicht mehr alle. Was ist das für eine Pussy?
Rachid fährt rechts ran, so halb auf den Bordstein. Verboten, aber egal. Türen auf,
raus mit der Sackkarre. Zwei Riesenpakete. Ran an die Buletten, wer schuftet, der
friert nicht.
Jojo greift voll verkehrt nach dem Paket, Beine durchgedrückt, da jubeln die Bandscheiben. Wird er schon merken. Auf die großen Pakete kommen sieben kleinere,
wer zwei Mal laufen muss, ist ein Loser.
„Du hast eineinhalb Minuten pro Paket“, sagt Rachid. „Merk dir das.“
Zuerst steuern sie den Optikerladen an, in den Shops flutscht es nur so, keine Challenge, da nimmt immer wer entgegen.
Auf ins nächste Level: Wohnpark Bednarstraße. Rachid zeigt Jojo, wie man richtig
läutet. Mit der flachen Hand einmal fest aufs Klingelbrett. Wenn du anfängst, nach
Namen zu suchen, wächst dir eine Steißbeinfistel. Quaken aus der Gegensprechanlage. Summer, na endlich.
Rachid drückt mit der Schulter gegen die Tür. Rüber zum Lift. Warten, bis der von
oben runterschleicht. Das ist die sinnloseste Zeit ever. Du bist den ganzen Tag in Bewegung, aber die Aufzüge, die hast du nicht unter Kontrolle. Jojo glotzt auf seine
Füße. Im Treppenhaus riecht es nach diesem indischen Räuchermist. Übelstes
Flashback.
Zurück im Wagen wird gleich einmal ausgelistet. Rachid hält den Scanner auf einen
Riesenbrocken. Die Leute sind verrückt. Bestellen halbe Kühe oder so. Rachid zeigt
Jojo das Menü, das auf dem Display aufpoppt.
Empfänger nicht angetroffen
Paket nicht angenommen
Zustellversuch erfolglos
„Na, was nehmen wir?“
Jojo schaut ihn kariert an.
„Wir listen ein paar der Dinger aus, sonst werden wir nie fertig. Jetzt klicke ich auf zweiter Zustellversuch. Siehst du? Dann geht das morgen noch einmal mit den Kollegen mit.“
Wwwt, schon ist der Zettel ausgedruckt und aufgeklebt. Ein blinkendes Fragezeichen
auf Jojos Stirn. Rachid hat Lust, ihn so richtig zu schütteln, bis die Schuppen runterrieseln. Alta, stell dich nicht so an. Dafür jetzt eine Runde lungenbräunen. Im Garten
vom Wohnpark steht einer seiner Lieblings-Pissbäume, den wird er auch noch bewässern. Manchen Kollegen pinkeln im Auto in eine Flasche, aber triff da mal rein.
Wenn’s daneben geht, sitzt du den ganzen Tag in einer Kloake. Geschissen wird im
Hotel Atlantis, ein Null-Sterne-Schuppen in der Hauptallee. Übelst abgefuckt, aber
der Typ an der Rezeption ist sein Buddy, und es gibt sogar das superweiche Arschpapier, mindestens fünflagig.
„Woher bist du“, fragt Jojo, nachdem sie sich eine angeraucht haben.
„Was – woher.“
„Aus welchem Land.“
„Na von hier!“
Was glaubt der Honk? Er könnte genauso gut Köln sagen, weil sie vorher dort gelebt
haben, aber er weiß jetzt schon, dass Jojo damit nicht zufrieden ist.
„Wieso heißt du dann Rachid?“
„Frag meine Mutter. Wieso heißt du Jojo?“
„Johannes.“
„Zockst du?“
Tiefer Lungenzug. Koralliges Gefühl in der Brust. Ist die Welt gut zu dir, bist du gut
zur Welt.
Jojo schüttelt den Kopf. „Keine Zeit. Du?“
„Fortnite.“
Gestern dreitausend Punkte im Arena-Modus. Nach ein paar Let’s play-Folgen kennt
er alle Tricks. Nicht dort rausspringen, wo alle springen. Zuerst allein herumstreunen
und Waffen sammeln, aber nicht übertrieben. Pumpgun, Sturmgewehr, Scharfschützengewehr – und fertig. Den Rest mit Bandagen zum Hochheilen belegen. Und
Schildtränke immer gleich konsumieren, sonst kommst du nie auf einhundert Leben.
Du brauchst was zum Ballern und du brauchst was zum Heilen, das hat er erst mit
der Zeit kapiert.
Er war jedenfalls genial unterwegs, und dann hat das Handy geplingt, und Bassam
wollte mit ihm los. Ach ja, und: Grüße von Daria.
Rachid sofort auf tausend.
„Was soll der Scheiß?“
„Hey, Bruder. Locker bleiben.“
Rachid hatte Lust, was zu zerballern und hat den Controller malträtiert. So gut war er
noch nie. Hat die Gegner reihenweise vernichtet und aus lauter Euphorie gleich mal
ein paar V-Bucks gekauft, Spielgeld mit echtem Geld, was soll’s.
Nächster Stopp: Warchfeldsiedlung. Einfamilienhäuser mit Pools, die nicht größer
sind als ein Teppich, und schwule Autos im Carport. Da drin leben die Mimis, die bei
Hubmann anrufen und herumlamentieren: „Aber ich war den ganzen Tag zu Hause
und habe gewartet! Niemand hat geklingelt!“ Dann gib die Stöpsel aus den Ohren,
Bitch! Kein Wunder, dass die Lauscher im Eimer sind, wenn die den ganzen Tag Michael Wendler hören. Er schickt Jojo vor, gleich einmal Full Contact mit diesen abgedrehten Weibern. Soll nur wissen, worauf er sich einlässt. So lange Plastiknägel,
dass sie mit dem Zeigefingerknöchel ihre Hieroglyphen aufs Display malen müssen.
Sein Haus, ja, das war eine andere Nummer.
Er sagt immer noch mein Haus.
Eigentlich ist es seine Ruine. In Bassams Garten. Tante Adeeba hat im Hintergrund
finanziert. Dafür fährst du nach Azilal deine Großmutter besuchen, hat sie gesagt. Er
hat zu allem ja gesagt. Dabei war er noch nie in Marokko. Was soll er dort? Er kann
kein Arabisch, kein Französisch und kennt kein Schwein. Er hat sich auf Google
Earth in Azilal umgesehen und das hat ihm gereicht. Nur Gebirge, rote Felsen, sonst
nichts. Übelst abturnend. Kein Strand weit und breit, wo du sagen kannst: Fliegen wir
runter zum Chillen. Daria wollte schon, sie hat gesagt: Du musst wissen, wo deine
Wurzeln sind und so weiter. Dummes Gelaber. Dass er keine Wurzeln will, das hat
sie nicht kapiert. Wurzeln halten dich zurück. Die schlingen sich um deinen Hals, bis
du keine Luft mehr kriegst. Dann ist sie schwanger geworden, und Marokko war kein
Thema mehr.
Jojo ist zurück. Ohne ein einziges Paket, eine Nachbarin hat ihm alles abgenommen.
Er grinst das erste Mal, Zähne kreuz und quer. Das muss gleich mit ein paar weiteren
Auslistungen gefeiert werden. Rachid hat übelst Hunger. Ist zwar erst elf, aber fünfzehn Minuten Pause sind heute drin. Im Glutamatpalast an der Siriusstraße bestellen
sie Eiernudeln, die sie mit dem Löffel reinstopfen. Fünf fünfzig, Top-Preis. Jojo sagt,
dass er studiert hat, aber keinen Job findet. Rachid hat gleich geahnt, dass mit dem
was gröber nicht stimmt. Den Hintern auf der Uni plattgesessen, Epic Fail. Das hat er
jetzt davon.
Bei Rachid ist das anders, er fängt ganz unten an, um sich Stufe um Stufe zu verbessern. Vielleicht schon bald selbständig machen als Subunternehmer und selbst Paketfahrer anheuern. Aus dem Osten oder von der Uni, egal, es gibt so viele Loser. Er
hat gehört, dass die Rumänen in übelst abgefuckte Containerdörfer gesteckt werden,
drei pro Container, und für ein Bett vierhundert Euro vom Lohn abgezogen kriegen.
Er glotzt in die Eiernudeln, bis sie verschwimmen. Das ist nicht sein Style. Er wird ein
guter Chef sein. Fair Play. Er hat die Alphagenetik dafür, das Bossblut, die Königsaura. Dem Hubmann wird er vor die Füße spucken. Den Blick und die Moves von
Kollegah hat er vor dem Spiegel trainiert, seine Homies sagen, er schaut ihm abartig
ähnlich. Nur der Klodeckelbart fehlt.
Er fährt sich übers Kinn.
Tausend Freunde, tausend Feinde ist im Endeffekt das Gleiche.
„Was hast du da, Jojo.“
„Die Pickel? Erwachsenenakne. Vom Stress“, sagt Jojo.
Wo hat so einer wie der Stress? Der weiß doch nicht, was das ist. Merke: Mit Typen
wie dem wirst du arbeiten müssen, andere kriegst du nicht. Also vielleicht doch gleich
Drohnen. Die heulen nicht rum.
Sie fahren weiter. Rachid lässt Jojo laufen. Soll der nur auch einmal die Treppen
hoch, wenn da kein Lift ist. Oder Lift im Eimer. Jojos gute Laune ist nicht totzukriegen. Rachid staunt. Wenigstens hat er ein bisschen Zeit, auf Tinder herumzuswipen.
Chantal_23 hat zurückgeschrieben. Enorme Titten, mehr kann er nicht sehen. Aber
er hat sich selbst auch nur halb raufgeladen. Seit er nicht mehr ins FitForever geht,
ist ihm eine Plauze gewachsen. Nicht schlimm, aber er frisst weiter, als würde er jeden Tag pumpen. Die neunzehn Euro waren’s nicht wert, und vom Eiweißpulver haben seine Fürze so abnormal gestunken, Alta. Das hat er nicht einmal selbst ausgehalten.
„Kennst du dich aus mit Drohnen.“
„Nö“, sagt Jojo.
Wozu hat der studiert, bitte?
„Mit was kennst du dich dann aus.“
„Mit fremden Völkern.“
„Was?“
Stau auf der Torfallee. So wird das nix. Rachid steckt den Kopf beim Fenster raus.
Vielleicht kann er links vorbei. Kann er nicht, fuck.
„Mit den Wari´ zum Beispiel.“
„Was?“
„Indianer im brasilianischen Amazonas-Regenwald.“
Amazonas. Da klingelt was.
„Warum heißt Amazon eigentlich Amazon?“
„Der Amazonas ist der längste Fluss der Welt“, sagt Jojo. „Wahrscheinlich deshalb.
Eigentlich sollte der Shop anders heißen. Cadabra. Von Abracadabra. Weil es magisch ist. Du bestellst was im Internet – und zack, schon ist es bei dir.“
„Das ist nicht magisch, das sind wir“, sagt Rachid. „Und Cadabra ist kindisch, damit
hätte es tausendpro nicht funktioniert.“
„Ah ja? Dann denk an Ali Baba. Der arme Holzfäller aus dem Märchen. Ist das auch
kindisch? Alibaba ist an der Börse um einiges mehr wert als Amazon.“
Hupkonzert. Da macht Rachid gleich mit. Ampel auf Dauerrot. Er schlägt aufs Lenkrad ein. Jojo verbindet sein Handy mit dem Soundsystem. Wenn jetzt Sozialarbeitermucke kommt, flippt Rachid aus. Kontra K. Tiefschwarz. Okay, das lässt er grad noch
durchgehen. Dafür ist da wieder dieser Stich in der Brust, verdammt. Eine Szene auf
der inneren Leinwand. Der Tag, an dem er das Paket von Daria bekommen und sich
gefreut hat. Einmal, dass er nichts liefert, sondern was kriegt. Und er hat es aufgeschnitten mit dem Messer, ganz vorsichtig, und da war nichts drin außer die Schlüssel von seiner Bude und der Ring, den er ihr geschenkt hat. Und ein Post-it. Es ist
aus. Noch ein schönes Leben. Sein Kind im Bauch und traut sich, ihm sowas zu schicken. Und er, der durch die Straßen rennt wie in einem crazy Game, wo du nie ins
nächste Level kommst, egal, wie viele Gegner du umnietest. Tiefschwarz und ultralaut. Und du willst nur, dass es still ist.
Endlich bewegt sich was da vorn.
„Warst du schon am Amazonas“, will Rachid später wissen.
Sie sind fast durch. Noch zwei Pakete, dann die Retouren zurück in die Packstation,
und das war’s, Ende Gelände.
Jojo schüttelt den Kopf.
„Und möchtest du da hin?“
„Klar. Und du? Wo möchtest du hin?“
„Ich zeig dir was“, sagt Rachid.
Es gibt Tage, die brennen sich rein in dein Hirn. Nicht totzukriegen. Du willst sie auslisten, hältst mit dem Scanner drauf – sinnlos. Der Tag, an dem Daria mit diesem
Foto angekommen ist, ist so einer. Als sie ihm den Wurm gezeigt hat. Zuerst hat er
nichts erkennen können.
„Und das?“
„Das ist die Hand.“
„Und das?“
„Der Kopf, das sieht man doch.“
„Und das?“
Er hat das Bild in die Hand genommen und herumgedreht, um Zeit zu gewinnen. Zuerst wollte er sagen: Ist es nicht zu früh für Familie, was man halt so sagt. Aber dann
war’s eigentlich ganz okay, also hat er gesagt: Heiraten wir, Prinzessin, ich bau dir
ein Haus. Also nicht genau so, aber ungefähr. Bassam so: Hinter meinem Haus ist
massenhaft Platz, und Tante Adeeba so: Ich gebe euch Geld für den Grund. Und alles war normal, Bro. Alles, wie es sich gehört. Er wollte nicht mehr, er wollte genau
das, was die anderen haben. Und zwei Monate später kam das Paket. Geliefert von
einem Kollegen. In Darias runder Handschrift hat sein Name ganz fremd ausgesehen.
Boutique Chique in der Wertheimerstraße. Lassen sich immer Mist aus China schicken und verticken ihn als Designerware in ihrem Laden weiter. Neue Etiketten drauf,
und los geht´s. Das weiß Rachid von Bassams Schwester, die hat voll den Durchblick. Heute kriegen die wieder drei Riesenpakete mit Tüchern. Ein Eck aufgerissen,
dort stinkt es raus wie aus einem Chemietank. Transportschaden. Die Alte macht ein
Theater und will die Annahme verweigern. Als ob er das Loch reingebissen hätte.
Jojo steht daneben und tritt von einem Bein aufs andere. Rachid weiß zum Glück,
wie man mit diesen Leuten reden muss. Höflich, aber deutlich, sonst bist du am
Arsch. Annahme kannst du schon verweigern, aber dann geht der Dreck zurück nach
China, und deine Auslagen bleiben leer, meine Guteste.
Und dann noch Frau Kröll. Mindestens achtzig, aber so helle, da können viele Vierzigjährige einpacken. Sie bestellt gebrauchte Bücher, weil sie viel Zeit hat zum Lesen. Zum Plaudern auch, und sie checkt mit geschultem Auge, dass sie auf Jojo einquatschen kann und der sich nicht wehrt. Rachid reißt ihn weg, sonst ist der Tag gelaufen.
Sie kaufen an einem Kiosk ein paar Dosen Bier, den ersten Tag gemeinsam muss
man feiern. Läuft alles smooth, also fahren sie raus zur Hasenwiese, zu Bassam. Der
Himmel ist nur noch ein schmutziger Fetzen, aber okay für November.
Die Siedlung sieht aus wie ein ausgeschlagenes Gebiss. Ein Haus, eine Brache, eine
Hütte, Wiese, dann wieder ein Haus und so weiter.
Rachid öffnet die windschiefe Gartentür, er darf hier rein und raus, wann er will, sein
zweites Zuhause. Oder sein erstes, kann man sehen, wie man will. Bassams Mutter
war immer wie eine Mutter für ihn, und sie nennt ihn Sohn. Sie gehen am Haus entlang, ganz dunkel liegt es da, keiner daheim. Hohe, braune Grasbüschel, niemand,
der mäht, ist doch auch egal. Dahinter ein Obstgarten, und dann sein Haus. Rachid
ist jedes Mal erstaunt, dass es immer noch da ist. Bodenplatte check. Mauern check.
Okay, nicht alle, aber die Wichtigsten. Kein Dach. Löcher für die Fenster. Jojo will
von der Seite reinsteigen, aber das lässt Rachid nicht zu. Beim Eingang soll er rein,
wie es sich gehört.
„Da“, sagt Rachid und zeigt in die Luft. „Da klingelst du, wenn du meine Pakete lieferst, klar?“
Rachid führt ihn durchs Haus. Hier der Flur, Badezimmer rechts, Klo daneben,
Wohnküche, Schlafzimmer, Kinderzimmer, okay, das ist klein, aber am Anfang ist so
ein Kind ja auch klein.
Jojo schaut verdutzt und macht erst mal ein Bier auf. Der kennt sich nicht aus, das
riecht man aus einem Kilometer Entfernung.
„Und wann wird weitergebaut?“
„Keine Ahnung.“
„Und wenn’s reinschneit?“
„Dann schneit’s rein.“
„Aber wann ziehst du ein?“
Bei Fortnite gibt’s einen Trick. Du gehst auf maximale Gesundheit und heilst dich
hoch mit einem Schildtrank, noch bevor du angeschossen wirst. Der Schildtrank wirkt
sofort, der Schlürftrank heilt über die Zeit, der ist wertvoller.
Rachid macht ein Bier auf. Er sagt: „Wir gehen ins Wohnzimmer.“
Dort setzt er sich auf den blanken Beton, gibt ja nix anderes. Kopf in den Nacken,
Blick in den Himmel. Da drüben der Schuppen, von dort aus können die Lieferdrohnen starten. Er streckt sich aus auf dem Boden. Jojo neben ihm, er öffnet die zweite
Dose. Gleich stockfinster. Als Jojo eine Tüte baut, leuchtet ihm Rachid mit dem
Handy.
Nebeneinander liegen sie jetzt da, glotzen in den Himmel wie die Idioten. Daria wollte
immer in den Himmel schauen, Rachid hat nie kapiert, warum das romantisch sein
soll. Das ist doch voll depri. Du siehst Sterne und glaubst, die blinken jetzt im Moment, dabei sind die schon ewig tot und verglüht. Der Himmel ist nichts als ein Fake.
Jojo sagt, dass die toten Wari-Indianer noch vor vierzig Jahren von ihren Freunden
aufgegessen wurden. Dinnerparty. Aber nicht, weil sie grausam waren. Oder Hunger hatten.
„Sondern?“ Rachid weiß nicht, ob er die Antwort hören will.
„Um der Familie Schmerz zu ersparen, verstehst du? An die Toten soll nichts erinnern, nichts. Die haben alles verbrannt und zerstört, was denen gehört hat. Die Häuser, ihr ganzes Zeug.“
Das findet Rachid irgendwie gut, aber gerade kann er nicht reden, weil ihm was im
Hals steckt. Nachdem sie ihm das Paket geschickt hatte, hat er Daria verflucht. Und
dann war das Kind in ihrem Bauch plötzlich tot. Das wollte er nicht, ist aber trotzdem
passiert. Kismet. Jojo hat doch gerade gesagt, dass es richtig war, alles zu vernichten. Darias ganzes Zeug, das noch bei ihm rumlag. Räucherstäbchen, Cremezeug,
die Bilder vom Wurm, die sie vom Arzt mitgebracht hatte. Er weiß bis heute nicht,
was es geworden wäre.
„Super Haus“, sagt Jojo, obwohl er bibbert.
„Ich wollte das nicht, Bro. Ehrlich. Ich wollte das nicht.“ Das ist ihm einfach so rausgehüpft. Vom Kopf auf die Zunge.
„Was.“ Jojo setzt sich auf. „Was wolltest du nicht.“
Rachid steht schon, klopft sich die Hose ab.
„Fahren wir“, sagt er.
Morgen um sieben: zweihundert Pakete einschlichten. Jetzt noch eine Runde
zocken. Manchmal hilft nur, alles wegzuballern. Einfach draufhalten. Weitermachen.
Immer weiter. Bis es still ist da draußen.