I. V. Nuss
JEDER MENSCH KANN MEIN COUSIN WERDEN UND JEDER COUSIN MEIN FEIND
Ich habe keine Erinnerung an dieses Land. Nicht an den fast zerfallenden Fahrstuhl, mit dem du nur mit etwas Glück zum Stockwerk meiner Tante kamst; nicht an den dunklen Treppenabgang, in dem Schatten hausten und in dem, so hieß es, ein Kind verschwand und nie wieder gefunden wurde; nicht an den Ausläufer der Wolga, in dem die Leute immer gerne baden gingen, weil das Wasser dort gut durch die Kühlung der Reaktorkerne des hiesigen Atomkraftwerks gewärmt wurde; nicht an die zwei streunenden Hunde, mannshoch, deren Besitzer und dessen Haus eines Nachts in einem schrecklichen Feuer verbrannt waren und die jetzt durch den Ort geisterten, und kam man ihnen zu nahe, so sollte man stehen bleiben und vorsichtigen Schrittes anfangen, rückwärts zu laufen, den Blick nicht abgewandt, niemals den Blick abgewandt, schau immer hin. Hätte ich mir mehr Mühe geben müssen, mich zu erinnern, an meine Familie, MEINE COUSINS? Denn wie so viele vergessen: Selbst das Gedächtnis ist erlernt. Und Erinnern ist: ein Denken vor dem Denken selbst (ADNAN).
*
Ich erinnere mich: Mit MEINEM COUSIN floh ich 2013 vor dem Militärdienst in die Wälder. Mit seinen Survivalist-Brüdern bastelten wir uns Zelte aus Ästen und Betten aus Laub. Er pausierte seinen Veganismus hier und erjagte mir Hasen, briet sie für mich über einem Lagerfeuer, brachte mir Pilze und süße Beeren, zeigte mir, wie man sich am Sternenhimmel orientierte und wie man die wilden Energien des Kosmos für sich nutzte. Auch in dieser Fantasie war ich eher schwächlich, weich und eine Schriftstellerin. Wir fliehen über Georgien und die Türkei nach Zypern, wo er sehr viel Geld mit Cyber-Security-Jobs an seinem Laptop verdiente und mich auf seiner Couch schlafen ließ. Das Leben war so einfach und aufregend und leicht und schläfrig. Der kleinste Teil unserer Sprache, sagte MEIN COUSIN an seinem Laptop, sei das Oh! – ein Staunen über die Welt.
Nein, eigentlich sah ich MEINEN COUSIN das letzte Mal auf dem Balkon des Treppenhauses, von wo er alte VHS-Kassetten hinunterschmiss. Es waren Mitschnitte von Fernsehsendungen, aber auch alte Familienaufnahmen auf Magnetfilm, der sich aus den aufgeplatzten Plastikhüllen unten auf dem Parkplatz herauswölbte und im Sonnenlicht schimmerte. Ich weiß nicht mehr, ob ich hinter ihm stand oder ob ich die Situation und den Sturzflug der Kassetten von unten auf dem Parkplatz beobachtete. Die Schreie meiner Tante kann ich nicht vergessen, wie sie an mir vorbeieilte oder ich sie von unten sah und hörte, wie sie MEINEN COUSIN verfluchte und ihn anflehte aufzuhören, sein Vater sei auf diesen Bändern, die letzten Aufnahmen von ihm, seine Seele und seine Güte, gespeichert auf dem Magnetfilm. Und MEIN COUSIN schrie nur, das hattest du uns doch schon erzählt. Das hattest du uns doch schon erzählt, заткнись, блядь! Dann ging ich zum Magnit und kaufte mir ein Bier. Ich war 15 Jahre alt, saß beim Fußballfeld und genoss den Sonnenuntergang. Mir war alles so egal.
Nein, MEIN COUSIN starb relativ schnell 2023, nachdem ihm der Unterleib von einer Mine zerfetzt worden war, als Teil der »human waste tactic« des Verteidigungsministeriums.
Nein, eigentlich verbrachten MEIN COUSIN und ich viel Zeit am Steg unserer Datscha.
Dass die Bolschewiki den Hoden eines gesunden Mannes an den Körper eines Homosexuellen transplantiert haben, 1929, um ihn zu heilen, erzählte MEIN COUSIN mir eines Abends.
Ich wusste nicht, was er mir unterstellte. Wir saßen gerade auf dem Steg und er zog sein Shirt aus, um schwimmen zu gehen. Das Wasser war klar und er sieben Jahre älter als ich.
Bist du etwa schwul, entgegnete ich.
Er verneinte.
Das Wasser hier war sehr seicht. Es ist einer der flachsten Stellen der Wolga, man konnte Kilometer weit bis zum anderen Ufer laufen. Ich kann mich an diese Szene genau erinnern.
Dass man die Schwulen goluboi (hellblau) nennt, sagte er dann, Wasser bis zu den Knien, oder die Menschen aus Mondlicht. Wie man Transsexuelle nennt, weiß ich nicht. Aber sie sind auch aus Mondlicht, vielleicht sogar mehr. Wusstest du das?
Ich zog mein Shirt aus und starrte ihn an und sagte, dass Homosexuelle gar nicht eingezogen werden können. Weil sie schon einen Krieg führen. Den kleinsten Bürgerkrieg der Welt. Und bis dato sterben nur sie. Obwohl sie doch als Terroristen eingestuft werden.
MEIN COUSIN ließ sich ins Wasser gleiten und auf dem Rücken im Wasser treiben.
Dass nur Homosexuelle tatsächlich Gefühle haben, sagte er. Der Rest Russlands fühle gar nichts. Der Russe fühle nichts. Er sei tot. Mein Herz fing an zu rasen. Ich konnte es nicht länger verheimlichen und platzte heraus:
Der Homosexuelle Untergrund Moskau plant eine baldige Operation Dreieck – die Übernahme aller staatlichen Apparate!
Ich weiß, sagte er. Ich leite die Operation als Oberkommandeur. Er kam aus dem Wasser und setzte sich, ganz nass, mit tropfender Unterhose, zu mir. Es war 1998, eines der wenigen Jahre, in denen Russland keinen Krieg gegen irgendwen führte.
Manchmal denke ich, sagte ich dann, das ist doch alles egal. Sollen sie den Staat haben. Das Land. Und wir verstecken uns einfach, bis wir tot sind. Aber dann, doch, sehe ich ein Licht, und eine Schönheit, für die es sich lohnen würde zu sterben. Jeden Tag aufs Neue: bereit zu sterben.
Und als ich das sagte, da näherte er sich mir immer mehr, das Wasser glitzerte; und dann – dann küsste MEIN COUSIN mich! Und ich war nicht mehr allein!
Nein, MEIN COUSIN flüsterte Geheimnisse in das Loch eines Baumes, alleine, während er ihn umarmte. Niemand wusste, wo er war. Im Wald. Niemand verstand ihn. Die ganze Familie war enttäuscht und schüttelte den Kopf. Der kleinste Teil der Sprache ist das Oh-je – ein Wimmern.
Ich google MEINEN COUSIN im Netz, was meine schlechten russischen Sprachkenntnisse erschweren. Ich sehe Bilder von Leuten auf ODNOKLASSNIKI.RU, bei denen ich eine gewisse Familienähnlichkeit ausmachen kann. Sie posten Bilder von ihren hässlichen Gärten, unlustigen Memes und AI-Slob auf ihren Profilen. Wären meine Eltern nie aus diesem Land nach Deutschland migriert, ich hätte mich umgebracht. Das weiß ich einfach, obwohl es nie passiert war und nie passieren wird, und trotzdem kann ich nicht aufhören, zu schreiben, wie es hätte sein können, statt darüber zu schreiben, wie es war; so schreibe ich weiter, als gäbe es die Wahrheit nicht. Wie der an Lykanthropie Erkrankte auch den Mond anheult, weil er denkt, er sei ein Wolf und der Mond sein Liebhaber.
Der Asphalt hier ist so rissig und bröckelig, als wäre ich in Balakowo bei meiner Familie; ich stehe aber 6.000 Meilen ostwärts von dort an der Straße bei einem Amazon Fresh Store in Ballard, Seattle. Aus dem Asphalt wachsen die Mère-des-lépreux und die Rissdiven; ihre gewöhnliche Schönheit auf diesem Parkplatz ist fast nicht zum Aushalten. Die Straße hier und die Straßen 6.000 Meilen entfernt in der Steppe sehen nahezu gleich aus … Mir wird schwindelig; mir vorzustellen, ich wäre jetzt dort. Aber das bin ich nicht. Sich alles andere vorzustellen ist Schwachsinn. Geschichte passiert genauso und nicht anders. Da spucke ich nur auf die Toten und die Gräber, wenn ich ganz zart ins Mikrophon hauche, dass die transsexuelle Ontologie die sei, in der die Dinge nicht so sind, wie sie sind.
Ich bin im Pazifischen Nordwesten, während ich diese Worte schreibe. Ich wollte schon immer so weit weg von dort wie nur möglich. Nichts zieht mich dorthin. Ich bin hier, um Drogen zu nehmen und mich in den Hintern ficken zu lassen und in aller poetischen Klarheit den Himmel zu sehen. Ich mache das, weil ich an die unendliche Freiheit der Menschen glaube (yada yada). Mit der Zeit werde ich verschwinden und niemand aus meiner Familie wird sich an mich erinnern können, weil ich eine andere geworden bin.
Man ruft mich an und sagt mir Bescheid, dass meine Tante verstorben sei. Ich schweige. Auch mein Großvater und meine Großmutter waren gestorben. Und auch deine andere Tante, weißt du noch? Alle an natürlichen Ursachen. Ihre Herzen haben aufgehört zu schlagen, ganz friedlich im Schlaf. Es ist MEIN COUSIN am anderen Ende des Hörers, in Tjumen. MEIN COUSIN besitzt ein Logistik-Unternehmen und drei Häuser mit Pools und hat den hässlichsten Haircut aller Zeiten. Ich sage nichts. Er kann meine Angst hören, durch den Hörer, ich weiß es. Und er weiß, was ich bin: der Feind vom Mond, den es zu besiegen gilt, bevor er seine Invasion mit transsexuellen fliegenden Untertassen beginnt. Mein Talg und mein Schweiß und mein Make-up auf dem Screen meines Phones, ganz fest an mein Gesicht gepresst, fast auch an sein Gesicht gepresst.
Falsche Nummer, sage ich und lege auf.
Die COUSINS können unendlich fortgeführt werden. »Der COUSIN kann nicht definiert werden. Die Regeln des COUSINS erweitern sich in die Unendlichkeit. Er könnte auch gut dein Onkel oder dein Vater oder deine Schwester oder ein Stein oder ein Tier sein« (WITTGENSTEIN, wahrscheinlich an einem klaren Sonntagvormittag). Jede queere Person und jeder Wittgenstein auf Erden weiß das: Familie ist nicht durch den Zwang des Blutes geeint, sondern durch Träume von einer schöneren Welt.
Nein, MEIN COUSIN war eigentlich eine COUSINE und MEINE GROSSE SCHWESTER. Sie zeigte mir, wie ich mir den Pony schneide und die Bartstoppeln mit Foundation abdecke. Ich schaute immer zu ihr auf. Sie war meine große Wolfsschwester, wild und ungezähmt, eine, die ich nie hatte. Ihr konnte ich alles anvertrauen, meine geheimsten Wünsche, wie: ein Kleid tragen und nicht getötet werden.
Wir schnüffelten zusammen Ketamin und sie streichelte meine Wange und sagte:
Jeder COUSIN kann eine COUSINE werden
und jede COUSINE ein COUSIN.
Das ist die Welt. Das ist die Wahrheit.
Nein, MEIN COUSIN wurde nie geboren. Seinen Vater hatte der KGB eines Nachts in den 30ern hinters eigene Haus geführt und erschossen, noch bevor er geheiratet und seine Kinder gezeugt hatte. Schnee fiel auf seinen aufgeplatzten Hinterkopf, auf seinen Schatten, das Dorf und die ganze Wolgadeutsche Republik, ein kahles, weißes Bett, so friedlich, still und nett, ein Totenbett. Das fand MEIN COUSIN erst während der Glasnost heraus, dass er eigentlich nie geboren worden war.
Der Tod schafft ein Loch, eine absolute Stille. Diese Stille formen wir immer neu. Es ist der Beginn der Sprache und ihr Ende. Es ist der Beginn der Berührung und ihr Ende.
Schreib nicht so blöde Sachen, sagte MEIN COUSIN. Den Tod fürchten wir nicht. Auch nicht das Leben. Dafür leiden wir. Hinter dem Vorhang. Wir brauchen gar nicht auf der Bühne zu stehen. Das wollen nur die педерасты im Westen. Wir machen die Geschichte und alle anderen hinken ihr nur hinterher, ihr Menschen vom Himmel, aus Mondlicht! Versteckt euch, denn die Sonne wird alles verbrennen!
Nein, MEIN COUSIN war der Mond, riesig und voll, strahlend, fast blendend. Ich bewunderte ihn in jeder sternklaren Nacht. Die Decke der Wohnung schwand und der Mond sank herein, ganz nahe, ganz dicht an mein Bett ... »Die Himmelsdecke mit ihren Lichtern hatte sich gesenkt, ich stieß daran« (BÜCHNER), betastete das karge, raue Mondgesicht und küsste es.
»Der COUSIN ist die Grenze meiner Welt. Da, wo ich aufhöre, fängt er an. Dort, wo er an mir reibt, fühle ich. Das sind die Gefühle.« (WITTGENSTEIN, in seinen Träumen)
Die Sonne stand tief am Himmel, als ich mit MEINEM COUSIN das letzte Feld pflügte. Der hölzerne Pflug, gezogen von einem alten Pferd, schob die Erde beiseite und hinterließ gerade Furchen, Linien, die sich überall in der Landschaft ins Endlose erstreckten, und folgte man einer, man käme nirgendwo an. MEIN COUSIN, sein Gesicht, wettergegerbt und rau, hielt die Zügel des Pferdes fest in der Hand, während ich das Pflugblatt kontrollierte. Die Erde war seltsam schwarz. Wir sprachen nicht miteinander, wir hatten uns auch nichts zu erzählen. In einer Furche sah ich etwas glitzern und im Wind wehen, ich sah die Landschaft reflektiert in dem Schwarz eines Magnetbands, welches aus der Erde zu wachsen schien. Hatte hier jemand Kassetten vergraben? Was wohl auf dem Film war?
Trödel nicht, du Idiot, du Fettsack, sagte MEIN COUSIN und gab mir eine Schelle auf den Hinterkopf. Dass ich mit dem Verstreuen der Saat beginnen soll. Die Sonne begann hinter den Bäumen zu ver-schwinden und das Licht wurde schwächer. Ich verstreute die Saat, schweigend und konzentriert, während die Schatten länger wurden.
Oh je. Und plötzlich begriff ich, dass dieser Mann auf dem Pferd nicht nur MEIN COUSIN war, sondern dass auch ich SEIN COUSIN war und dass in meinem »Leben nur allem Anschein nach etwas Neues begann, etwas, das gewiss nicht leicht, nein, das vermutlich sehr hart und schwierig werden würde« (SOROKIN).
Ich bin nicht EUER COUSIN.
Ich bin EURE COUSINE.
Und außerdem werde ich niemals sterben!
Nein,
er sieht hübsch aus, MEIN COUSIN. Seine kurzen blonden Haare und sein Hundegesicht. Ich bin mir kurz nicht sicher, ob es morgen früh oder spätabends ist, als wir uns in einem Diner in San Francisco gegenübersitzen, aber mein Phone sagt mir, es ist früh am Morgen. Ich bin so froh, dass er es hierher geschafft hat, und halte mit meinen beiden Händen seine auf dem Tisch liegende eine Hand fest. Wir bestellen Spiegeleier und Toast mit Grape Jelly. Wir sprechen über alles, außer über die Familie: über die Adnan-Ausstellung im SFMOMA, die Furry Kink Party in der Leather-Bar Eagle, UFO-Sichtungen und den neuen norwegischen Brunchplace bei Twin Pikes.
In Amerika sei man so weit weg von Europa und dem Krieg, sagt er, es könnte einem egal sein.
Ich traue mich nicht, ihm zu sagen, dass es noch Mitglieder unserer Familie in Kalifornien gibt. Sie sind in den 90er hierher ausgewandert und betreiben im Napa Valley Weinanbau. Ich bin sogar einmal hin-gefahren, um mir ihr Haus aus sicherer Distanz anzuschauen, und konnte im Fernglas sogar einige von ihnen beobachten, wie sie ihren Alltag so verbrachten, wie sie aussahen und wie sie durch die Welt liefen. Und wie bei einer Naturdoku interagierte ich nicht mit ihnen – sie wissen nichts von meiner oder unserer Existenz. Trotzdem würde ihn das Wissen über die Familie belasten. Was auch sonst?
Wenn wir sie nicht kennen, die Familie – MEIN COUSIN und ich, ich und MEIN COUSIN –, sind wir weniger allein.
ZITATE / PFADE
Etel Adnan – Night. Poems.
Georg Büchner – Dantons Tod. Drama.
Vladimir Sorokin – Der Schneesturm. Roman.
Wittgensteins Träume. Träume.