Doron Rabinovici

Mitten im Prozess

So wahr ich ihr Sohn bin – sie hätte nicht geschwiegen. Wäre sie gefragt worden,

was sie zum Urteil sage, hätte sie die Brauen leicht gehoben und vielleicht sogar –

aber nur kurz – ihr seidenes Lächeln aufgezogen, ein Augenblick voller Sarkasmus,

um dann ruhig und ernst auszusprechen, was sie denke über das Verfahren, über

den Täter und über jenen Richtspruch. Aber meine Mutter wird nicht mehr um ihre

Meinung gebeten. Sie wird nicht mehr Rede und Antwort stehen.

In seinem Schlussplädoyer zitierte Ernst Freiherr von Münchhausen, einer der

Rechtsvertreter der Nebenanklage, die Worte meiner Mutter: „Vergesst es nicht. Erzählt es weiter“, und auch sein Kollege, der Anwalt Mehmet Daimagüler, wiederholte

diese Sätze in einem Artikel, um eindrücklich und überzeugend darzulegen, wie

wichtig es sei, diese Verbrechen vor Gericht zu bringen. Beide, von Münchhausen

und Daimagüler, betonten, meine Mutter habe sich vorrangig dafür eingesetzt, die

Erinnerung wachzuhalten, doch sei es, so meinten die Anwälte, ihr nie darum gegangen, „einen alten Mann hinter Gitter zu bringen“. So wollten sie die Forderung nach

einer Strafe auf Bewährung rechtfertigen. Aber ob das der Wahrheit entspricht, dazu

wird sich meine Mutter nicht mehr äußern. Schoschana Rabinovici verstarb am 2.

August 2019, wenige Wochen, ehe der Hamburger Prozess gegen den einstigen

SS-Mann Bruno Dey überhaupt begann.

Bruno Dey war von Anfang August 1944 an Mitglied der 1. Kompanie des Totenkopfsturmbanns in Stutthof bei Danzig, jenem Konzentrationslager, in das am 1. Oktober

1944 Suzie Weksler, die spätere Schoschana Rabinovici, gemeinsam mit ihrer Mutter Raja Weksler, meiner Großmutter, verschleppt wurde. Stutthof war vom Juni 1944

bis zur Befreiung im Mai 1945 – so die Zentrale Stelle Ludwigsburg –

ein Vernichtungslager. Mehr als die Hälfte aller Häftlinge überlebte dort nicht. Etwa

65 000 Menschen wurden in Stutthof umgebracht. Sie wurden vergast, mit Phenolinjektionen vergiftet beziehungsweise – wie es damals hieß – „abgespritzt“, sie wurden

in der Genickschussanlage hingerichtet, sie wurden erschlagen oder erhängt, sie

verhungerten, sie verendeten vor Erschöpfung im Schlamm oder starben ohne jegliche medizinische Hilfe an der Typhusepidemie. Meine Mutter schreibt, in Stutthof sei ihr das Konzentrationslager Kaiserwald, in dem sie vorher gewesen war, wie ein Paradies vorgekommen.

Das Urteil über den einstigen SS-Mann Bruno Dey erreichte mich in der Tel Aviver

Wohnung, in der sie, meine Mutter, noch vor einem Jahr gelebt hatte. Ich war im Juli

2020 nach Israel geflogen, um hier alle ihre Habseligkeiten und Papiere zu ordnen,

und musste wegen Corona in Quarantäne. Ich war zwei Wochen lang alleine in ihren

Zimmern. Las ihre Unterlagen. Schlief in ihrem Bett.

Hier fand ich etwa die zwei Hefte aus Bialystok mit ihren jiddischen Gedichten, die

sie im Ghetto und den Lagern auf irgendwelchen Papierfetzen festgehalten und nach

der Befreiung in diese beiden Kladden übertragen hatte. Hier entdeckte ich ein Feuerzeug, das wohl aus einer Patronenhülse angefertigt worden war – eingeritzt ins

Metall die Namen verschiedener Lager, darunter auch Stutthof. Und hier ging ich

auch ihre Alben durch, darin Fotos aus Wilna – die kleine Suzie mit ihrem Vater, der

bereits kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht ermordet werden sollte.

Ich war der Pandemie wegen vollkommen allein, und es war ganz eigen, hier – genau da, wo meine Mutter noch vor Kurzem gelebt hatte – zu sehen, wie sie von den

Anwälten zitiert wurde, um das Strafmaß oder die Strafaussetzung, also die zwei

Jahre Haft auf Bewährung, zu rechtfertigen.

Was sie wohl gesagt hätte … Ich weiß es nicht, doch ich denke, sie hätte für die

„Strafe auf Bewährung“ nur sarkastische Bemerkungen übriggehabt. Was soll denn

„auf Bewährung“ heißen, höre ich sie fragen. Der dreiundneunzigjährige Angeklagte

geht frei, so er im nächsten Tausendjährigen Reich nicht zum Täter wird? Der Richtspruch als ein schlechter Witz …

Aber weshalb dieser Greis von dreiundneunzig Jahren nun überhaupt noch angeklagt und sogar verurteilt wurde, mögen vermutlich viele nicht einmal verstehen.

Warum wurde Dey so spät noch vor Gericht gezerrt, mögen sie fragen, statt darüber

nachzudenken, wieso er nicht schon längst zur Verantwortung gezogen worden war.

Unerträglich ist, wieso es erst jetzt geschah.

Bei einem Kindsmörder wäre die Stimmungslage in Deutschland wohl anders.

Das Mitleid hielte sich in Grenzen. Auf Bewährung könnte so einer kaum hoffen,

selbst wenn er bereits über neunzig wäre und die Tat siebzig Jahre zurückläge. Auch

einer, der als Siebzehnjähriger seine Tante mit ihrer Perlenkette erwürgt hätte, um an

ihren Schmuck zu kommen, würde als Greis kaum freigehen.

Doch der Vergleich zwischen einem gewöhnlichen Gesetzesbrecher und diesem uniformierten Henkershelfer klingt wohl für die meisten, die das lesen, unfair. Bruno

Dey, höre ich nun viele nicht ganz zu Unrecht einwenden, habe die Verbrechen nicht

aus eigenem Antrieb begangen und sei nicht freiwillig in Stutthof gewesen. Knapp 18

Jahre alt sei er gewesen, als er eines Herzfehlers wegen nicht zur Wehrmacht eingezogen, sondern der SS zugeteilt worden sei. Aber – so möchte ich im Gegenzug festhalten – welcher „normale“ Kriminelle ist denn schuldig der Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen?

In ihrem Buch Dank meiner Mutter berichtet Schoschana Rabinovici, wie sie in Stutthof ankam. Die jüdischen Frauen mussten sogleich zum Appell, und ein Offizier habe

geschrien: „Von nun an seid ihr keine Menschen mehr, ihr seid Nummern, so werden

wir euch rufen, und so müsst ihr antworten.“ Er habe gebrüllt: „Eure einzige Möglichkeit, hier wegzukommen, ist, durch den Schornstein zu fliegen.“ Da habe sie den

stinkenden Rauch gesehen und diesen merkwürdig süßlichen Geruch von verbranntem Menschenfleisch erkannt, so meine Mutter, der an ihnen haften geblieben sei

und sie bis zum Schluss nicht verlassen habe.

Der Gestank von Stutthof durchzieht alle Berichte der Überlebenden. Bruno Dey

atmete dort dieselbe Luft wie meine Mutter, aber den Geruch will er dennoch nicht

wahrgenommen haben. Vom Wachturm aus habe er, so Dey, das nahe Krematorium

zwar durchaus überblickt, aber er habe, so wollte er uns glauben machen, nicht gewusst, ob es da in Betrieb gewesen sei. Er habe die Menschen zwar hineingehen gesehen, doch sich nur gewundert, als sie nicht mehr herausgekommen seien.

Die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring legte ihm eine Aussage vor, die er

1982 als Zeuge in einem Verfahren gemacht hatte. Damals hatte er erklärt, nach seinem Wachdienst das Krematorium besichtigt zu haben. Aus Neugier. Ein Häftling

habe ihm einen toten Kapo unter mehreren anderen Leichen gezeigt. 1982 hatte

Bruno Dey nicht geleugnet, zu wissen, was im Krematorium geschah, doch damals

war er deshalb ja auch nicht belangt worden, damals war er ja bloß Zeuge.

Einmal, so sagte Dey, seien „Leute“, ohne sich gewehrt zu haben, in die Gaskammer

geführt und die Türen verschlossen worden; dann habe er ein Geschrei und ein Poltern gehört, nur einige Minuten lang. Eine Vorstellung aber, was da passiert, habe er

nicht gehabt. Er habe schier nicht geahnt, warum die Schreie dann aufgehört hätten.

Er gab den Wachmann, der nichts bemerkt haben will.

Wie meine Mutter und Großmutter einander anschauten, wenn ein Naziverbrecher im

österreichischen Fernsehen wieder einmal leugnete, was sie am eigenen Leib erlitten hatten. Ich erinnere mich, wie die Blicke der beiden Frauen einander kreuzten. Die

Hochspannung in diesem Moment. Der ganze Raum mit einem Schlag elektrisch aufgeladen. Das Surren in meinen Ohren wie unter einer Starkstromleitung. Wie heiser

Mutters Stimme dann wurde. „Wem will er das erzählen?“, fragte sie. Nein, Mutter

hätte nicht geschwiegen.

Auch die Richterin mochte Bruno Dey nicht glauben, was er alles nicht bemerkt haben wollte. Wie sollte ihm nicht aufgefallen sein, wenn 40 000 bis 50 000 ausgemergelte Menschen angekommen waren? Wie sollte er den Hunger und das Elend übersehen haben? Sein gar nicht so hoher Wachturm lag direkt neben dem sogenannten

Judenfrauenlager. Nichts konnte ihm entgehen. Nicht die Prügel, nicht die Schreie,

nicht die Toten. Von dort aus blickte er genau auf jene Baracken, in denen auch

meine Mutter, meine Großmutter und meine Stieftante Dolka, die das Lager nicht

überlebte, zusammengepfercht waren. „Wie die Sardinen“, sagte meine Mutter immer, hätten sie gelegen. Hungrig, voller Ungeziefer lagen sie eng auf den Pritschen

nebeneinander. Auf den Stockbetten, und stets hatten viele Durchfall. Wer Glück

hatte, lag oben …

Erst im Zuge des Verfahrens wollte Bruno Dey von den Schrecklichkeiten Stutthofs

erfahren haben. Er tat, als wäre er an dem, was dort geschehen war, unbeteiligt gewesen. Ein bloßer Zeuge. Er war sich keiner Schuld bewusst, und diese seine Sicht

hatte sich vor 1945 als auch danach mit jener des deutschen Staates gedeckt, mit jener des nationalsozialistischen Reiches und dann mit jener der Bundesrepublik. Kein

Wunder, dass er selbst 2020 nicht versuchte, sich dem Verfahren zu entziehen. Er

sah gar keinen Grund. Er war davon überzeugt, nichts Unrechtes getan zu haben. Er

war vor Gericht erschienen, um sich seiner Unschuld zu stellen.

Doch leugnete er nicht nur seine persönliche Verstrickung ins Verbrechen. Er behauptete gar, es wären unter der SS-Wachmannschaft keine echten Nazis gewesen.

Aber über Stutthof herrschten, wie bekannt ist, erbarmungslose Überzeugungstäter

und Nationalsozialisten. Genannt seien nur Deys Kompanieführer Richard Reddig

sowie die SS-Unterführer Johann Herrmann und Willi Makowski, beide an sogenannten Säuberungsaktionen im besetzten Polen beteiligt. Von der Lager-SS ganz zu

schweigen. Was sagt das wohl aus über Dey, wenn er unter seinen Kollegen keine

schlimmen Nazis auszumachen wusste? Es ist bekannt, wie die SS-Männer jener 1.

Kompanie des Totenkopfsturmbanns von den verlausten und verdreckten Gefangenen redeten, wie sie die Opfer in ihrem Elend und Gestank verhöhnten … Doch auch ohne die SS-Wachmänner, so erklärte der Verteidiger von Bruno Dey, der Rechtsanwalt Stefan Waterkamp, hätte die Vernichtung durchgeführt werden können.

Indes, die SS-Wachmänner waren notwendig, um das System des Terrors aufrechtzuerhalten. Sie standen keineswegs nur auf den Türmen. Sie beaufsichtigten Häftlinge bei Arbeiten in Außenlagern. Bruno Dey selbst berichtete von solchen Einsätzen. Und auch später trieben SS-Wachmänner die Opfer auf den Todesmärschen

vorwärts. Mein Stiefgroßvater Julek Rauch starb während eines solchen Todesmarschs, nachdem er in Stutthof zu einer ausgemergelten, wandelnden Leiche, zu

einem, wie es im Häftlingsjargon hieß, Muselmann gemacht worden war. Sein Tod

war nicht Teil des Verfahrens. Auf den Punkt gebracht: Bruno Dey sah nicht nur zu,

wie die Opfer, sondern vor allem, dass die Opfer ihrer Vernichtung nicht entgingen.

Im Dezember 1944 hörte das systematische Morden in Stutthof auf. Es mussten die

Juden nicht mehr vergast werden. Mittlerweile starben die Menschen an den

schrecklichen Verhältnissen im Lager selbst. Es war, so erkannte die Lagerleitung,

nicht mehr notwendig, die arbeitsunfähigen Jüdinnen zusätzlich umzubringen. Im Gegenteil: Das vorgegebene Ziel der Vernichtung des, wie es hieß, „unwerten Lebens“

wurde bereits übererfüllt. Und so wurde Stutthof denn auch nicht für seine Tötungsmaschinerie bekannt wie Auschwitz, sondern es wurde zum Vernichtungslager allein

durch die geschaffenen Bedingungen. Die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring

wies in ihrem Urteil darauf hin: Manche Überlebende – wie etwa Halina Strnad –, die

Auschwitz und Stutthof durchlitten hatten, meinten, Stutthof sei deshalb fast noch unmenschlicher gewesen und schlimmer. Wer weiß, ob nicht vor vierzig oder dreißig

Jahren noch mehr Überlebende Konkreteres darüber sowie über den SS-Mann

Bruno Dey zu erzählen gewusst hätten. Heute sind es nur wenige, die überhaupt

noch aussagen können.

Die Krematorien kamen nicht mehr nach. Es mussten eigens Scheiterhaufen errichtet werden, um alle Toten verbrennen zu können. Mutter erzählte davon. Es wurde

Holz aufgestapelt, darauf kamen die Leichen, dann wieder eine Lage Holz und so

weiter – bis zu einer Höhe von etwa fünf Metern –, worauf die SS-Leute Brennstoff

schütteten und dann alles anzündeten. Meine Mutter schreibt: „Der brennende Scheiterhaufen sah aus, als würden Teufel darauf tanzen. Während das Holz brannte, zogen sich die Körper zusammen, und plötzlich bewegten sich die Toten, hoben Hände

und Füße, krümmten sich und setzten sich auf, und manchmal schoss ein Wasserstrahl – Urin – in das Feuer.“

Die Vernichtung in Stutthof war zum Selbstläufer geworden, und hier war der

SS-Wachmann von entscheidender Bedeutung. Es gab, solange er auf seinem Posten stand, kein Entrinnen. Er und seine Kameraden sicherten das Lager ab. Sie gaben den SS-Schergen im Lager Rückendeckung, damit diese morden konnten.

Von der Genickschussanlage wollte Bruno Dey erst im Prozess gehört haben. Die

Richterin glaubte ihm das wohlweislich nicht. Ihr fiel auf, wie genau er sich erinnerte,

dass Häftlinge einmal von Ärzten ins Krematorium geführt worden waren, um untersucht zu werden. Die medizinische Inszenierung war allerdings eine reine Täuschung. Die Häftlinge hatten sich vor eine Messlatte zu stellen, in der eine kleine

Aussparung eingelassen war. Hinter der Wand wartete ein SS-Mann, der die mit

Schalldämpfer versehene Pistole nur noch abfeuern musste.

Dey gab an, Stutthof am 25. April mit Häftlingen verlassen zu haben. Die Historikerin

Brigitta Huhnke wies auf die Endverbrechen im Zuge der Evakuierung aus Stutthof

am 25. und 27. April im 14 Kilometer entfernten Nickelswalde hin. Hier ermordete die

SS noch mindestens vierzig, wenn nicht siebzig Häftlinge. Die zeitliche Übereinstimmung ist auffällig. Aber aus „verfahrensökonomischen Gründen“ – wegen des Alters

des Angeklagten und weil zu befürchten stand, er könne, wenn die Verhandlung ausgeweitet würde, vor dem Urteil sterben – wurde diesem Verdachtsmoment nicht

mehr nachgegangen. Verhandelt wurde nur über jene, die unmittelbar in Stutthof umgebracht wurden.

Erst durch die Aussagen des Überlebenden David Ackermann kam auch das Massaker nahe Neustadt eingehender zur Sprache. Im Zuge der Auflösung von Stutthof

wurden Häftlinge auf Schiffen Richtung Westen gebracht. Die Zustände unter Deck

waren unvorstellbar. Die meisten Gefangenen überlebten die Fahrt nicht. Oben an

Bord die SS, und auch Bruno Dey befand sich auf einem dieser Kähne. Von Toten

wollte er aber nichts gesehen haben. Mehr als 250 aus Stutthof gekommene Juden

wurden am Strand zusammengetrieben und hingerichtet. Bruno Dey gab zwar zu,

dort gewesen zu sein, aber die Erschießungen wollte er nicht gehört haben. Strafrechtlich wurde dafür bis heute niemand zur Rechenschaft gezogen. Und auch Bruno

Dey wird dafür nicht belangt werden: Die Verbrechen in der Neustädter Bucht, Anfang Mai 1945, wurden ebenfalls wegen sogenannter verfahrensökonomischer

Gründe von der Beurteilung ausgeklammert.

Ist es nicht wahrscheinlich, dass Bruno Dey an diesen Massakern beteiligt war? Warum streitet er sonst ab, irgendetwas davon mitbekommen zu haben? Wie glaubwürdig ist einer, der sagt, er habe die ausgemergelten Leichen, die Gaskammern, die Krematorien und die Scheiterhaufen gesehen, doch woran die Menschen gestorben

seien, das will er nicht gewusst haben? Auch von den scharfen Hunden, über deren

Gebell in allen Berichten zu lesen ist, möchte er nichts bemerkt haben.

Er bemitleidete sich, weil er sich dem Prozess stellen musste. Ihm werde sein Lebensabend zerstört, meinte er. Er sagte: „So habe ich mir mein Alter nicht vorgestellt!“ Dey hat seine Schuld noch immer nicht begriffen. Es ist, als habe er die Uniform mit Totenkopf bis heute nicht ausgezogen. Ist nicht jeder seiner Sätze bereits

ein Verstoß gegen etwaige Bewährungsauflagen?

Kurz vor dem Urteilsspruch, da allen klar war, dass eine Entschuldigung gegenüber

den Opfern von ihm erwartet wurde, sagte er bloß: „Heute möchte ich mich bei denen, die durch diese Hölle des Wahnsinns gegangen sind, und deren Angehörigen

entschuldigen – so etwas darf niemals wiederholt werden.“ Er redete, als ginge es

gar nicht um ihn.

Umso wichtiger ist es, solche letzten Täter vor Gericht zu bringen und jemanden wie

Bruno Dey schuldig zu sprechen. Ihn nicht zu verurteilen, hätte bedeutet, das Unrecht fortzuschreiben und zugleich zu verleugnen, was den Opfern widerfuhr. Es galt

darzulegen, wie ganz normale Männer mit unverdrossener Pflichtversessenheit ihren

Beitrag zum Massenverbrechen leisteten. Es galt darzulegen, dass das Ungeheuerliche an ihnen war und ist, wie gewöhnlich sie doch waren. Sie verkörpern die Zweischneidigkeit, die im Deutschen so trefflich durch den Begriff vom gemeinen Menschen verkörpert ist.

Aber klingt es nicht wie ein böser Witz, wenn solche wie Bruno Dey damals, als sie

noch rüstig gewesen wären, von der deutschen Justiz nicht belangt wurden, um sie

jetzt, da sie verurteilt werden, wegen ihres Alters freigehen zu lassen? Bruno Dey ist

kein Einzelfall, sondern zeigt an, wie die deutsche Justiz angesichts der Vernichtung

versagte. Die Massenermordung wurde Jahre hindurch nicht als ein umfassendes

Unternehmen begriffen. Jede einzelne Bluttat musste vor Gericht gesondert erwiesen

werden, als wären etwa die Lagerkommandanten jeden Morgen immer wieder in aller

Frische aufgestanden, um sich dann aufs Neue dafür zu entscheiden, heute Juden

zu morden.

Das Gesamtkonzept dessen, was die Nazis die „Endlösung der Judenfrage“ nannten,

wurde negiert. Die damalige Rechtsprechung erinnert fatal an die Auschwitzleugnung. Der stellvertretende Lagerkommandant von Auschwitz, Robert Mulka, wurde

nicht dafür verurteilt, am verwalteten und arbeitsteiligen Massenmord von über einer Million Menschen beteiligt gewesen zu sein, sondern wegen „gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens vier Fällen an mindestens je 750

Menschen“. Dafür hatte das Gericht schriftliche Befehle von ihm gefunden – einer

betraf die Ausbesserung der Dichtungen in den Gaskammern. Wie viele der Massenmörder kamen glimpflich davon …

Aber das Problem ist grundsätzlicher, denn an der Monstrosität der Vernichtung

scheitert das Bürgerliche Gesetzbuch zwangsläufig; ob es um den Massenmörder

oder einen bloßen Henkershelfer geht. Was kann schließlich angesichts dieser Verbrechen überhaupt als angemessenes Strafmaß gelten? Zwei Jahre Haft für die Beihilfe zum Mord von 5232 Menschen ergäbe für jeden einzelnen Ermordeten nicht

einmal drei Stunden Gefängnis. Unser Recht ist nicht für jene Verbrecher gemacht,

die für die Ermordung von Millionen verantwortlich sind. Was den Opfern widerfuhr,

bleibt uneinlösbar.

Hätte es demnach also je eine gerechte Strafe gegeben für Bruno Dey? Gibt es sie

heute? Wir schrecken davor zurück, mit Menschen, die vom Alter gezeichnet sind

und kaum mehr dem Verbrecher ähneln, der sie einst waren, hart ins Gericht zu gehen. Ein großer Teil der Öffentlichkeit hätte eine Haft für Bruno Dey nicht verstanden,

und dieses allgemeine Mitgefühl für die alten Kämpfer nutzen rechtsrechte Kräfte

gerne aus. Am 17. Oktober 2019 etwa, während der Prozess im Saal 300 des Hamburger Landgerichts tagte, versammelten sich davor Rechtsextreme und Reichsbürger, um für Bruno Dey zu demonstrieren. Als er im Krankenwagen das Gebäude verließ, sangen sie das alte nationalsozialistische Lied Nur der Freiheit gehört unser Leben, 1935 für die Hitlerjugend geschrieben.

Was sich da für Bruno Dey versammelte, war von jenem nazistischen Geist durchdrungen, von dem er in Stutthof schon nichts gemerkt haben wollte. Aber Dey muss

auch heute gar kein überzeugter Nationalsozialist sein. Im Gegenteil. Er ist der nette

Mann von nebenan, in dessen Keller die Leichen gestapelt liegen. In dessen Keller

auch Teile meiner Familie liegen. Und auch der junge Bruno Dey selbst musste gar

kein ausgesprochener Nazi gewesen sein. Er wollte nicht an die Front, sondern versuchte nur, durch die Zeiten zu kommen. Er fügte sich ein. Er passte sich bloß der

SS im Vernichtungslager an. Es genügte, dass er auf Befehl bereit war, Beihilfe zum

Massenmord zu leisten. Das Unheimliche an ihm war, dass er sich gar nicht als Fanatiker oder Dogmatiker sah. In diesem Sinne war er tatsächlich einer von gar nicht

so wenigen. Der Antisemitismus und Rassismus waren zum Grundkonsens des

Staates und der Gesellschaft geworden, weshalb Dey auch unter seinen Kameraden von keinen Nazis wusste. Wer antisemitisch, rassistisch, nazistisch genannt wird,

wurde schließlich in der 1. Kompanie des Totenkopfsturmbanns anders beurteilt, als

es etwa in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad VaShem der Fall wäre.

Die Auffassung, Bruno Dey habe nur die damaligen Befehle befolgt und sei nicht

schuldig, eint den fanatischen Aktivisten im Netzvideo und den Angeklagten im Gerichtssaal, doch nicht bloß sie sind dieser Meinung, sondern es sind viele, die im

Deutschland der Gegenwart davon überzeugt sind, gegen sie und das ganze Volk

würden ungerechte Vorwürfe erhoben. Selbst im Bundestag sitzen Abgeordnete wie

Alexander Gauland von der AfD, der Hitler und die Nazis als Vogelschiss in tausend

Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte abtut. Björn Höcke, ein weiterer Spitzenmann dieser Partei, spricht klardeutsch aus, für Deutschland nicht nur eine tausendjährige Vergangenheit, sondern auch eine tausendjährige Zukunft zu wollen.

Was da aufkommt, findet Anklang verquer durch alle Schichten. Ein Unbehagen in

der offenen Gesellschaft; ein Missfallen an den Andersartigen; ein Murren über das,

was fremd scheint; ein Hass auf Flüchtlinge und auf Muslime; ein Schauer vor dem

Absinken ins Bodenlose; ein Groll gegen liberale Eliten; eine Wut auf die freie Presse

und auf eigensinnige Kunst; ein Argwohn gegen moderne Wissenschaft; eine Querfront aus Hetze und Unmut …

Wie vorgeblich erstaunt waren doch so viele, als die Freiheitlichen in Österreich,

kaum waren sie in der Regierung, sich anschickten, genau das zu tun, was sie immer

gefordert hatten. Zwar scheiterte die Koalition mit den Freiheitlichen letztlich, doch

währenddessen wurden in Ungarn freie Medien größtenteils zum Schweigen gebracht und die Opposition mit antisemitischen Kampagnen diffamiert, und in Polen

wird die unabhängige Justiz attackiert. Mitten in Europa wird die liberale Demokratie

diskreditiert. Wie schnell doch das, was gestern noch gesichert schien, heute schon

ins Wanken gerät.

Meine Mutter dachte nie, was ihr widerfahren war, sei nun aus der Welt und verschwunden. Sie wusste: Genozid ist keine überwundene Kategorie. Die Massenmorde von Ruanda, Dafur oder Srebrenica liegen nicht in ferner Vergangenheit. Alles

kann passieren. Zwar leben wir in einer pluralistischen Demokratie und in einer vielfältigen Gesellschaft, die sicher nicht mehr so autoritätshörig ist, wie sie einst war,

weswegen viele auch gegen autoritäre und rassistische Erscheinungen auftreten,

doch in einer Krise, meinte meine Mutter, würden nicht wenige Menschen schnell

wieder bereit sein, gegen sogenannt Andersartige vorzugehen.

Im Oktober 2019 wollte der Rechtsextremist Stephan Balliet in der Synagoge von

Halle Juden morden. Er wählte dafür eigens Yom Kippur, den höchsten Feiertag, da

er insbesondere hoffte, viele nicht religiöse Juden töten zu können. Der unsichtbare

Jude, die dunkle Horrorgestalt des antisemitischen Verschwörungstheoretikers, sollte

sein besonderes Ziel sein. Zuvor hatte der Attentäter alles im Netz ankündigt: den

Tag, sein Ziel und seine Ideologie. Als es dem Attentäter nicht gelang, ins Gebäude

einzudringen, erschoss er eine Frau, die zufällig vorbeigekommen war und gewagt

hatte, ihn furchtlos anzusprechen. Der selbstbewussten Frau, Jana Lange, schoss er

feige in den Rücken. Danach wollte er in Ermangelung von jüdischen Opfern irgendwelche Menschen, Fremde oder Muslime, umbringen und tötete in einer Dönerbude

den zwanzigjährigen Kevin Schwarze, der zufällig dort sein Mittagessen einnahm.

Über Helmkamera streamte er das Verbrechen live. Ein Massaker als Videospiel. Im

Netz schauten Tausende das Video. Manche waren enttäuscht, weil er nicht mehr

Menschen umgebracht hatte. Zehntausende teilten den Film auf Neonazikanälen, wo

der Mörder als Held verehrt wurde. Auf diesen Seiten werden Erschossene als

achievements aufgelistet, wobei highscores erzielt, wer viele Fremde tötet. Umgebrachte Kinder bringen mehr Punkte. Letztlich schlagen Antisemitismus und Rassismus gegen alle los, gegen die gesamte Zivilgesellschaft. (Bezeichnend übrigens die

Aussage von Roland Ulbrich, einem sächsischen Landtagsabgeordneten der AfD,

der den antisemitischen Charakter des Attentats beschönigte und meinte, es liege

noch nicht einmal der Versuch eines Tötungsdelikts an den Besuchern des Gottesdienstes in der Synagoge vor, um anschließend die Frage zu stellen, was schlimmer

sei, „eine beschädigte Synagogentür oder zwei getötete Deutsche“.)

Der Anschlag in Halle war keine Einzeltat. Dieser rechtsextreme Terrorist ist kein einsamer Wolf, wie manchmal gesagt wird, sondern gehört eher, um im Bild zu bleiben,

zu einem weltweiten Rudel rassistischer Fanatiker. Balliets Konzept folgte anderen

Vorbildern, ob etwa Anders Breivik in Norwegen oder Breton Tarrant im neuseeländischen Christchurch. Das Massaker in Halle reihte sich in eine Kette von antisemitischen, rassistischen und islamophoben Attentaten ein, ob das Massaker in einer Moschee in Christchurch, der Anschlag auf die Synagoge in Pittsburgh oder der Terror

gegen die Shisha-Bars in Hanau.

Der Endzwanziger von Halle und der einstige SS-Mann, der vor 75 Jahren in Stutthof

diente, könnten kaum unterschiedlicher sein. Der Terrorist bekennt sich dazu, Antisemit zu sein. Er leugnet die Vernichtung, bei der dabei gewesen zu sein, der greise Bruno Dey nicht abstreitet. Der biedere Greis, der einst im Vernichtungslager auf seinem Posten stand, gleicht nicht dem fanatischen Terroristen mit Helmkamera. Und

doch geht es in beiden Fällen nicht um einfache Kriminelle, denn der Tatzusammenhang reicht geradewegs in jene Mitte der Gesellschaft hinein, die kaum bemerken

will, was sie mit dem Massenmord damals und mit jenem Massaker heute zu schaffen hat.

Der Rechtsanwalt Onur Özata war in beiden Prozessen eingebunden. Er vertrat Nebenkläger im Prozess gegen Bruno Dey und in jenem gegen Stephan Balliet. Özata

vertritt Opfer rassistischer Gewalt. So etwa in der Verhandlung gegen den Attentäter,

der im Münchner Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen erschossen hatte. Die

rassistische Tat war zunächst von den Behörden als unpolitischer Amoklauf abgetan

worden. Onur Özata kämpfte dagegen an. 2011, so lese ich, habe er im Unterschied

zu vielen seiner Kollegen nicht geglaubt, es handle sich beim Massaker des Norwegers Andreas Breivik oder bei der rassistischen Mordserie der NSU um bloße Einzelfälle.

Onur Özata sorgt dafür, dass im Gerichtssaal auch über das politische Motiv solcher

Täter gesprochen wird. Gemeinsam mit Ernst Freiherr von Münchhausen und

Mehmet Daimagüler war er Anwalt der Nebenklage von Überlebenden – nicht nur im

Prozess gegen Bruno Dey, sondern auch in jenen gegen die ehemaligen SS-Männer

Oskar Gröning und Reinhold Hänning. Ob in den Verfahren gegen rechtsextreme Attentäter oder gegen die SS-Männer – Onur Özata fordert ein, jene politische Dimension anzuerkennen, die in der Gesellschaft von vielen übersehen wird, weil sie die jeweils Schuldigen mit einer großen Masse verbindet. Ein Attentat vernichtet

Menschenleben, doch jener Hass, der den Täter antreibt, wird von allzu vielen offen

oder insgeheim geteilt und bestärkt auch jene Parteien, die Rechtsstaat und Demokratie gefährden. Nicht überwunden ist, was einst in die Vernichtungslager führte.

Aber es gibt auch jene, gar nicht so wenige, die auf die Hetze des Rassismus, der

Islamfeindlichkeit und des Antisemitismus hinweisen und dagegen auftreten. Jene,

die nicht den Scharfmachern und Hetzrednern verfallen, sind die Mehrheit, doch es

kommt darauf an, gegen Angstmache, Vorurteil und Verleumdung die Stimme zu erheben. Onur Özata ist ein Sprachrohr für die Opfer.

Meine Mutter stellte indes immer wieder klar: „Nie war ich ein Opfer!“ Im Rahmen der

Aufführung des Burgtheaters „Die letzten Zeugen“, für die ich gemeinsam mit

Matthias Hartmann verantwortlich zeichnete, war sie gefragt worden, wie es ist, ein Opfer zu sein. Sie blieb dabei: „Nie war ich ein Opfer!“ Sie sagte: „Ich war eine

Kämpferin.“ Sie sagte: „Wir kämpften um unser Leben.“

Sie war noch ein halbes Kind, da wurde sie ins Ghetto Wilna gepfercht, da hatten die

Mörder ihren Vater, meinen Großvater Isaak Weksler, bereits umgebracht, da durchstand sie mithilfe ihrer Mutter die Mordaktionen und die Selektion, da wurden sie

beide in Konzentrationslager verschleppt. Sie war noch ein Mädchen, zu klein, um

am Leben gelassen zu werden. Mit höheren Schuhen und mit einem Kopftuch

machte meine Großmutter sie älter und sagte ihr: „Halt dich gerade. Kopf hoch, du

musst groß aussehen.“ Schon vor Stutthof hatte meine Großmutter ihrer zwölfjährigen Tochter befohlen, sie von nun an „Raja“ zu nennen, nicht mehr „Mama“, zu gefährlich wäre es für beide gewesen. Meine Großmutter, Raja Weksler, gab bei der

Registrierung im Lager meine Mutter mit falschem Namen und falschem Alter an, um

zu verschleiern, wie jung sie noch war und dass sie zusammengehörten. Selbst als

meine Mutter von einem Blitzmädel bewusstlos geknüppelt worden war und danach

auf einem Schemel stundenlang aufrecht ausharren musste, schaute Raja sie nur

stumm aus einiger Entfernung an. Wäre sie ihr zu Hilfe gekommen, hätte es ihrer

beider Tod bedeutet.

Von allen Verwandten aus Wilna, von einer großen Familie, von dreißig Menschen,

waren nach der Befreiung nur drei übriggeblieben. Meine Oma Raja, ihr Bruder

Wolodja und ihre Tochter, meine Mutter. Sie sagte: „Ich war nie ein Opfer!“

Was für eine stolze, starke und hellwache Frau sie war. Voller Ironie und Lebenslust.

Sie liebte Musik, Literatur, Reisen. Aber in den Nächten kam die Erinnerung über sie.

Im Dunkel ihr Schrei.

Als ich sie für „Die letzten Zeugen“ gewinnen konnte, war sie bereits schwächer und

alt, doch für falsche Versöhnlichkeit war sie nicht zu haben. Ich erinnere mich, wie

der Journalist und einstige Chefredakteur der Jerusalem Post Ari Rath, ein alter, kluger und guter Freund der Familie, bei einer Vorstellung in Berlin das Publikum besonders lobte. Das Berliner Publikum sei so gut und so viel besser als jenes in Wien,

schwärmte Ari. In der Garderobe wies ihn meine Mutter zurecht; scharfe, knappe

Worte auf Hebräisch: „Was lobst du sie alle? Was ist mit all den Berlinern, die heute

nicht ins Theater kamen? Was weißt du über die?“

Auf der Bühne – ehe sie abging – sagte sie: „Immer wieder werde ich gefragt, ob

diese Aufführung mir nicht zu schwer ist. Ja, es ist schwer für mich. Nach einer Aufführung kann ich nicht schlafen. Die Erinnerungen kommen nachts. Ich habe Alpträume. Ich leide unter Depressionen. Ehe sie ermordet wurden, forderten unsere

Mithäftlinge: Erzählt, was uns angetan wurde.

Vor 70 Jahren war ich ein gerettetes Kind. Später wurde ich eine Überlebende genannt. Jetzt gehöre ich zu den letzten Zeugen. Wir sind alt geworden. Bald werden

wir nicht mehr sein.

Deswegen gebe ich das Vermächtnis der Erinnerung an euch weiter. Seid von nun

an Zeugen unserer Erinnerung. Ihr habt uns gehört. Erzählt davon. Übernehmt unseren Kampf gegen das Lügen, gegen das Vergessen – und für unsere Erinnerung.“

Das waren ihre Worte. Sie wurde 86 Jahre alt. Am 2. August 2019 starb meine

Mutter Schoschana Rabinovici, aber dieses ihr Vermächtnis klingt in mir nach, es

schweigt nicht, und während ich über das Verfahren gegen den antisemitischen Mörder von Halle lese, sehe ich sie vor mir. Ich trauere um meine Mutter. Mitten im Prozess schreibe ich von ihr. Ich weiß – so wahr ich ihr Sohn bin –, sie hätte uns aufgefordert, gegenüber der Hetze und dem Hass nicht zu schweigen. Sie hätte uns geheißen, die Gefahr zu benennen, denn es geht nicht um den Täter, sondern die offene

Gesellschaft ist es, die seit Stutthof nur frei ist auf Bewährung.