Dorian Steinhoff
§ 1666
Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen
gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur
Abwendung der Gefahr erforderlich sind
14. Mai
Als ich das erste Mal zu Kröger in die Wohnung kam, fand ich seine Kinder zwischen
vollen Aschenbechern auf dem Boden. Streichholzschachtelgroße Hände mit Dreck
unter den Fingernägeln, die Nasen ganz nah über dem stinkenden Teppich. Zwei
Kleinkinder, das eine gerade dem Säuglingsalter entwachsen, auf dem Bauch liegend, das andere auf seiner vollen Windel sitzend. Zahnlose Laute des Vergnügens
und verzückter Pupillenglanz. Ich war nicht empört, auch nicht im Geringsten schockiert, als ich die Kinder sah und die Zustände zu Gesicht bekam, die schon im Flur
zu riechen waren. Mich berührte diese Paarung aus Kinderfreude und Schutzbedürfnis. Wie sie mir aus der Verwahrlosung entgegenstrahlte! So viel Mut traf mich mit
diesen Blicken, Mut zu leben.
Kröger bewegte sich nicht, er driftete durch seine vermüllte Wohnung wie von einer
unsichtbaren Strömung erfasst, während ich mein Programm abspulte. Ein Ausgelieferter mit viel zu kurzen Armen, fleischigen Handrücken und einem Doppelkinn, das
bei jedem Schritt sichtbar in Schwingung geriet. Ich erinnere, wie unrettbar verloren
er mir in der Welt vorkam, und seine Augen, seine unglaublich gutmütigen Augen.
Das ist überhaupt nicht übertrieben ausgedrückt. In seinen Augen lag nur Rechtes
und Gutes, nicht eine schlechte Absicht – dieser Mensch. Wütend wurde er erst später. Und die Strömung, die ihn erfasst hatte, die Strömung war ich.
Heute wettete ich mit mir selbst, ob er sich alleine die Schuhe zubinden kann. Das ist
der Kern meiner Ermessensgrundlage. Wenn ich ehrlich zu mir bin, habe ich nicht
viel mehr, um zu entscheiden, ob er seine Kinder behalten darf. Alles andere sind nur
Fakten. Oft habe ich ein bisschen Angst vor mir, wenn ich so denke, aber nie lange.
Ich vertraue mir. Jedenfalls so lange ich schreibe.
23. Mai
Es ist frustrierend, Kröger lernt absolut nichts. Für ihn bin ich ein Eindringling. Ich
kann geradezu sehen, wie alles, was ich sage, durch ihn rinnt, ohne eine Spur zu
hinterlassen. Oder wie er sich ausdrücken würde: „Ins eine Ohr rein, beim anderen
wieder raus.“ Ich habe heute wieder von der Anwesenheitspflicht in der Kita angefangen – und er ging aus dem Zimmer. Es fehlte nur noch, dass er trotzig einen kleinen
Rucksack packt und droht abzuhauen, wie ein Schulkind, das meint, seine Eltern erpressen zu können. Vor ihm und seinen Kindern liegt eine Zukunft, von der ich mir
wünsche, sie hätten sie schon hinter sich.
Ich sollte heute den Rasen mähen, warte aber schon den ganzen Nachmittag auf
Regen, um einen Grund zu haben, es nicht tun zu können.
24. Mai
Krögers Freundin heißt Janina Kirschner. Wenn ich in der Wohnung bin, sitzt sie
meistens auf dem braunen Sofa mit rosa Überdecke und bebt vor Schüchternheit
und Scham. Sie ist nicht die Mutter der beiden Kinder, die sitzt mit einer schweren
Schizophrenie auf der psychiatrischen Station eines Krankenhauses. Zu meinem eigenen Erschrecken benehme ich mich Frau Kirschner gegenüber wie ein liebevoller
Vater. Ich verliere ganz die Beherrschung und damit die Kontrolle über die Situation,
wenn ich sie so dasitzen sehe. Dabei weiß ich um die Koketterien schüchterner
Frauen. Frau Kirschner selbst wird nichts davon mitbekommen, wie tief sie mich blicken lässt, wenn sie sich mit dem Blick zur Seite eine Haarsträhne hinters Ohr
klemmt. Ob sie bemerkt, dass ich sie in einer anderen Stimmlage anspreche als Kröger, weiß ich nicht. Aber ich muss davon ausgehen. Seit ich sie einmal beim Singen
unter dem offenen Küchenfenster gehört habe, weiß ich nämlich, dass sie keineswegs immer so schüchtern ist.
Ich kann mich gegen Frau Kirschner nicht wehren. Jetzt, wo ich diese Zeilen
schreibe, erkenne ich es, erkenne die Berechnung ihrer Haltung, den Hochmut und
Egoismus der Schüchternheit. Jedes Gespräch, jede Geste mit Frau Kirschner dreht
sich durch ihre passive Abwehr nur um sie, ihre Schüchternheit diktiert mir die Bedingungen. Wie muss diese Frau wütend auf mich sein, wie nervig müssen meine ewigen Unterweisungen für sie sein, und wie selbstbeherrscht ist dann diese ausgestellte Befangenheit.
Sie ist schwanger. Von Kröger. Ihr erstes gemeinsames Kind. Deshalb die Zuspitzung in unserer Beziehung. Heute sagte ich zu ihr: „Aber Sie sind doch schon mit
zwei Kindern überfordert.“ Sie führte mich zu ihrem Computer. „Sie haben recht, deshalb, schauen Sie, ich übe“, sagte sie und zeigte mir das Computerspiel Sims 2.
Ganz romantisch hatte sie sich dort alles eingerichtet. Die Kinder schliefen ruhig in
zwei Schaukelbetten. In dem rosatapezierten Zimmer drehte sich eine Spieldosenfigur auf einer weißen Kommode. Die Erfüllung ihrer Wünsche kostet sie in dieser Welt
ein paar Mausklicks. Das ist noch weniger Aufwand, als sich eine Haarsträhne hinters Ohr zu klemmen.
Wenn sie nicht am Computer sitzt, spielt er Landwirtschafts-Simulator. Er baut Getreide an und verkauft Rinder. Er führt ein Unternehmen, durchaus mit Erfolg. Das ältere der beiden Kinder sitzt ihm währenddessen oft auf dem Schoß und sagt: „Muh.“
Kröger lacht dann und wuschelt dem Kleinen durchs Haar. Er kommentiert das Spiel,
erklärt jeden Vorgang, es ist durchaus komplex, ich habe beim Zuschauen nicht alles
verstanden. Das Kind verfolgt jeden Mausklick, jedes neu angelegte Feld und scheint
mehr strategisches Verständnis für das Spiel zu besitzen als ich. Wenn Kröger das
Geräusch des Mähdreschers imitiert, klatscht es in die Hände. Es könnte sein, dass
er gar nicht so unvermittelbar ist, wie die Agentur für Arbeit behauptet.
Viel weiß ich nicht über die Beziehung von Kröger und Frau Kirschner. Als ich fragte,
wie sie sich kennengelernt haben, antwortete Kirschner mit zwei Worten: „Internet,
privat.“ Ich fragte nicht weiter. Ich nehme an, sie teilen sich ihr Leben wie den Computer. Wenn der eine nicht an der Maus sitzt und den Fortlauf bestimmt, macht es die
andere, ohne große Abstimmung, mit eigenem Programm. Rinder und Wiegebetten.
Die Zusammenführung des Ungleichen auf engem Raum ergibt im Haushalt Kirschner-Kröger dann Streitfälle darüber, dass sich für das gekaufte Klopapier kein Stauraum finden lässt, weil beide nach jedem Einkauf neues mitbringen. Versorgung und
Streit, das sind sie anscheinend füreinander.
4. Juni
Eine Entscheidung gegen die Kinder, für die Inobhutnahme oder die Adoption – für
ihr Wohl – ist meistens eine Entscheidung gegen sich selbst. Sie ist das Eingeständnis des eigenen Versagens, des Überfordertseins mit einer Sache, die alle anderen
bewältigen, nur man selbst eben nicht. Sollten sich Kröger und Kirschner jemals freiwillig dazu entschließen, die Kinder zur Adoption freizugeben, wird der Stolz, sich zu einem selbstlosen Entschluss durchgerungen zu haben, erst später Teil ihres Erlebens werden, wenn überhaupt. Ich bin mir nicht sicher, ob Frau Kirschner zu einem
Gefühl wie Stolz im Stande ist. Kröger wird damit keine Probleme haben. In dieser
Hinsicht erfüllt er ein klassisch männliches Rollenbild. Er würde sich wahrscheinlich
auch mit den Fäusten auf der Brust herumtrommeln, nachdem er seinen eigenen
Hintern fotokopiert hat. Schon wieder Sarkasmus! Ich muss herausfinden, wo meine
Bösartigkeit ihre Quelle hat. So lange ich das nicht weiß, werde ich Kröger nicht helfen können. Ich glaube, Heike ahnt, wie aufgewühlt ich bin, sie hat mein Lieblingsessen gekocht, dabei mag sie es selbst eigentlich nicht.
7. Juni
Ich betreue Kröger und seine Freundin heute genau seit einem halben Jahr – seit
uns am ersten Tag nach den Weihnachtsferien aus der Kita, in die seine Kinder gehen, die Nachricht erreichte, die beiden seien am Morgen mit riesigem Hunger angekommen und hätten das Essen auf eine Art in sich reingeschlungen, die den Verdacht nahelegte, sie würden zu Hause knapp gehalten. Man hatte sie angezogen wie
im Sommer.
Als erstes ging ich mit Kröger durch die Wohnung, protokollierte, was ich sah, und
schrieb ihm eine Liste mit Dingen: „Worauf zu achten und was zu erledigen ist“. In
manchen Ecken der Wohnung war nicht klar zu erkennen, was Einrichtungsgegenstand, Geschirr oder schon Müll war. Ich soufflierte ihm die einfachsten Sachen. Abwaschen, Putzen, Müll rausbringen. Keine Essensreste auf dem Boden liegen lassen. Es war eine Demütigung. Wir schauten einander immer wieder in die Augen, so
viel Gutmütigkeit auf beiden Seiten, der reinste Wettkampf. Kröger setzte ständig an,
etwas Rechtfertigendes zu sagen, er öffnete seinen Mund und bevor er einen Gedanken aussprechen konnte, hatte ich ihm schon geraten, erst einmal nur zuzuhören. Er folgte meiner Anweisung, auch wenn es ihm einige Beherrschung abverlangte. Ich gehe bei jedem Erstbesuch so vor. Während ich die Eltern damit konfrontiere, dass sie die Mindesterwartungen an eine kindesgerechte Haushaltsführung
nicht erfüllen, entsteht durch die einhergehende Erniedrigung und das Hilfsangebot
im Erfolgsfall etwas Bindendes zwischen uns. Sie beginnen mich als jemanden zu
achten, der sie unterstützen will. Nicht so bei Kröger. Je länger ich ihm vorhielt, was
zu tun sei, desto mehr begann er, vor Wut zu zittern. Die Kinder bemerkten die Spannung zwischen uns und fingen an zu weinen. Ich hielt inne, beugte mich ganz nah an Kröger heran und sagte dann: „Es ist etwas ganz Besonderes an Ihnen und Ihren
Kindern, Herr Kröger.“ Er fixierte mich, er wollte sehen, wie ich mich zu dem Gesagten verhalte. Ich merkte das, und daher verzog ich nicht einen Gesichtsmuskel, ich
schaute starr, wie gedankenlos, als hätte ich die größte Belanglosigkeit in einem leeren Raum vor mich hingesagt. Er war zufrieden, er nickte das erste Mal und sagte:
„Ich liebe meine Kinder sehr.“
Draußen, im Hausflur, blieb ich gewohnheitsmäßig eine Weile vor der Wohnung stehen und lauschte, ob sich drinnen etwas regte. Ob sich Kröger irgendwie Luft
machte. Ich blieb lange so stehen, denn irgendetwas konnte ich nicht begreifen. Es
blieb still. War es die Liebe zu den Kindern, die ihn überforderte, oder die Liebe zur
Verwahrlosung, mit der er die Kinder überforderte? In vielen meiner bisherigen Fälle
hätte ich begründet auch genau das Gegenteil von dem entscheiden können, was ich
verfügt habe.
10. Juni
Ich habe in der Zeitung etwas über Jugendpflege gelesen – schlimmer Fall in Berlin.
Diese Journalisten und ihr Exemplifizierungsanspruch. Der Einzelfall soll immer für
das Allgemeine stehen, wenn es doch so einfach wäre. Wie oft ich das schon gelesen habe: „Versäumnisse beim Jugendamt“. Wir können machen, was wir wollen, am
Ende sind wir schuld. Wenn wir helfen, sind wir das Amt, das Familien auseinanderreißt. Fällt ein Kind unglücklich aus einem Erdgeschoßfenster und bricht sich an der
Stange des Kellertreppengeländers das Genick, sind wir das Amt, das mit Scheuklappen an den Übeln der Welt vorbeiläuft. Wir sind kein Wachdienst. Auch keine
mobile Eingreiftruppe. Wir können keine Fenster zunageln und auch keine Schaumstoffmatratzen an Treppengeländer binden. Und wir fahren nicht ständig von Problembezirk zu Problembezirk und überlegen uns, welche Kinder man einsammeln
könnte. Selbst wenn das unsere Aufgabe wäre, vor lauter Sitzungen und Formularen,
bliebe dafür überhaupt keine Zeit. Erst heute hing ich den ganzen Vormittag in JourFixe-Sitzungen fest, am Mittwoch ist eine Fachtagung des Bundesverbands (Anreise
Dienstagabend) und was in meinem Mail-Postfach los ist, weiß ich schon gar nicht
mehr. In der ganzen Zeit könnte ich Krögers halbe Wohnung renovieren. Das würde
helfen, ist aber auch nicht meine Aufgabe.
16. Juni
Kröger misshandelt seine Kinder nicht, er missbraucht sie nicht, er liebt seine Kinder
wirklich und seine Kinder lieben ihn. Und trotzdem ist er heillos erdrückt von der Verantwortung, die er für sie trägt. Auch fehlt es ihm am Verständnis für die ganze Situation. Er begreift nicht, warum er seine Kinder in die Ergotherapie bringen muss. Er
kann ja nicht mal das Wort buchstabieren. Deshalb bringt es auch nichts, wenn ich
ihm die Termine an den Kühlschrank pinne. Aus seiner Perspektive mache ich das
Unverständliche zur Pflicht. Das ist die peinliche Hölle, in der er schwitzt und die er
Leben nennen muss. Dafür, dass seine Kinder auch keine bessere Zukunft erwartet,
wenn sie in öffentliche Obhut kommen, ist er das beste Beispiel. Ich habe die Akte
nochmal studiert, Kröger ist selbst Heimkind.
Mittlerweile ist er weniger widerständig, er versucht gar nicht mehr sich zu rechtfertigen, es ist ein einziges „Ja, sie haben recht, Herr Berz. Wir werden uns bemühen,
Herr Berz. Stimmt, das Töpfchen vom Kleinen war wieder nicht ausgeleert, aber haben Sie das Bad gesehen, Herr Berz – schon viel besser als beim letzten Mal, oder
Herr Berz? Und vergessen Sie nicht, Herr Berz, das Altglas habe ich auch weggebracht. Das ist doch was, Herr Berz.“ Und dazu diese gutmütigen Augen! In mir ist
nichts als Misstrauen und Kontrollwille.
22. Juni
Ich traf Kröger zufällig in der Wilhelmstraße. Schon aus einiger Entfernung erkannte
er mich. Er blieb kurz wie vom Donner gerührt stehen und wandte sich schnell einem
Schaufenster zu, in der offensichtlichen Hoffnung, ich hätte ihn noch nicht gesehen
und würde im Gewimmel an ihm vorbeiziehen. Dann, als ich neben ihm stand, höflich
grüßte und die hübschen Gehstöcke in der Auslage des Schaufensters kommentierte, schaute er mich sorgenvoll an, als hätte er sagen wollen: „Was, Sie auch hier?
Herr Berz, das ist doch nichts für Sie.“ Dann verabschiedete er sich rasch wie jemand, der keine Zeit zu verlieren hat. Ich sah ihm nach und fragte mich lange, was er
an einem Samstag alleine in der Stadt macht. Wie er sich fühlt zwischen all den Menschen, den unendlichen Konsumangeboten. Ist da Scham? Wut? Leere? Hoffnung?
Was fühlt Kröger in der Fußgängerzone, wenn sich sein Körper in den Schaufenstern
spiegelt und die Menschen an ihm vorbeiströmen, ohne ihn anzuschauen. Ich weiß
es nicht, ich weiß es einfach nicht, und bis wohin seine Verletzungen, seine Verunsicherung und seine Selbstabwertung tatsächlich reichen, kann ich mir noch nicht einmal ausmalen. Ich hoffe sehr, Frau Kirschner ist ehrlich zu ihm. Die Vorstellung von
Kröger als Mensch mit Gefühlen macht mich traurig. Wahrscheinlich betrachte ich ihn
deshalb meistens als Summe seiner Verfehlungen, Pflichten und Rechte.
24. Juni
Etwas nicht tun zu dürfen, heißt, es irgendwo doppelt zu tun. Ich fertige diese Aufzeichnungen an und bereits nach dieser kurzen Strecke kitzelt es mich wunderbar
dabei, zurückzublättern und in meine selbstgebuddelten Abgründe zu blicken, von
denen ich mir verwehre, sie mit jemand anderem zu teilen als diesem Papier. Vorschriften, auch selbst auferlegte, das merke ich jetzt, lassen die Empfindungen erst
richtig aufglühen. Aber was macht Kröger, wenn ich ihm verbiete, das Waschbecken
als Mülleimer zu benutzen? Fängt er das Mülltrennen an oder sammelt er den Müll in
den Kopfkissenbezügen seiner Kinder? Ich weiß es nicht, ich kann es nicht wissen,
und das macht mir Angst.
Gestern, nachdem Kröger beim Öffnen des Fensters den vollen Aschenbecher von
der Fensterbank geworfen hatte, übermäßig fluchte, ja fast tobte, habe ich versucht,
ihm zu erklären, wie aus Fehlern etwas Neues entstehen kann. Um ihm auch mal
Mut zu machen. Ich erzählte ihm die Geschichte von einem Hilfskoch in der absoluten Spitzengastronomie, der kurz vor Feierabend das letzte Dessert des Abends
durch die Küche trägt. Er bleibt mit der Fußspitze an einer Fliesenfuge hängen, stolpert, und dabei rutscht ihm das letzte Stück Zitronentarte vom Teller und fällt auf den
Boden. Er ärgert und schämt sich, er möchte sich am liebsten ein Küchenmesser in
den Bauch rammen. Da tritt der Chefkoch heran und nimmt einen neuen Teller aus
dem Schrank. Mit einem Löffel und seinem ganzen Geschick sprenkelt er die Soße
so auf den frischen Teller, dass es aussieht, als wäre sie aus großer Höhe hinabgefallen. Dann hockt er sich hin, hebt die zerbrochene Tarte vom Boden auf und legt
sie auf den Teller. Zu seinem Kellner sagt er: „Wir haben das Dessert umbenannt, es
heißt jetzt: ‚Ups, ich habe die Zitronentarte fallengelassen‘.“ Wie Krögers Augen
leuchteten, wie befreit er lachte. Es entstand ein richtig inniger Moment zwischen
uns. Und dann sagte er: „Ich wusste schon immer, dass diese Sternefritzen uns vom
Boden fressen lassen.“ Ich versuchte, ihm seinen Fehlschluss zu erklären, bohrte
aber auf Beton. Er sah in der Geschichte nur die Bestätigung seiner Meinung, nicht
die Neuschöpfung aus dem Kaputten. Das, was Kröger helfen soll, entzieht ihn dem Leben. Meine ganze Arbeit, die Idee, Menschen zur Selbstverantwortung zu erziehen, die ihr bisheriges Leben nur in Abhängigkeiten verbracht haben, erscheint mir
heute wie ein einziger Zynismus. Ich sollte ins Bett gehen.
27. Juni
Das Besuchsrecht beinhaltet die größtmögliche Demütigung für ein Kind, die es erfahren kann. Nicht die Herausnahme aus der Familie, nicht die Heimunterbringung,
nicht der neue Vormund sind der Gipfel der Kränkung, sondern der Verlust des Respekts vor den eigenen Eltern. Ich habe diese Momente oft beobachten können. Sie
vollziehen sich, wenn ein Kind versteht, warum es nicht mehr bei seinen Eltern leben
kann. Im Besuchszimmer redet es sie dann nicht mehr mit Mama oder Papa an, sondern mit ihren Vornamen. Bei den Eltern setzt infolgedessen häufig eine Selbstgeißelung ein. Sie versuchen, ihr Kind zurückzuholen. Auf bürokratischem Weg, bei uns
oder direkt beim Familiengericht. Erfolglos natürlich. Und sie probieren es durch die
Fortführung alter Rituale. Sie sitzen abends weinend an der leeren Wiege und schaukeln die alten Kuscheltiere in den Schlaf. Sie zeichnen weiter kleine Striche an den
Türrahmen in der Küche, um ein Wachstum zu dokumentieren, das sie nicht mehr jeden Tag beobachten können. Und in all der Zeit, in der sie zurückholen wollen, was
ihnen genommen wurde, was sie sich selbst genommen haben, kann nichts wachsen, es verschwindet noch mehr. Irgendwann muss man es abbinden – wie eine Wunde.
2. Juli
Ich glaube, Kröger weiß gar nicht, wie kurz der Verlust seiner Kinder bevorsteht.
Heute waren wir bei der Spielzeughilfe. Der größere, Niklas, begleitete uns. Er ist
schon dreieinhalb und kann kaum sprechen. Er versteht, was man ihm sagt, er antwortet, wenn man ihn anspricht, aber nicht mit Worten. Er bedient sich einer Art Zeichensprache, gepaart mit Geräuschen und einzelnen Silben. Er zeigt auf einen Gegenstand, den er haben will, und gebärdet dazu. Alles mit vier Rädern nennt er
Dodo. Er nahm sich als erstes zwei Spielzeugpistolen aus einer Box, die auf dem Boden stand, zielte auf mich und sagte: „Peng, Peng, Peng!“ Kröger feuerte ihn an. „Ja,
ja, was machen die Indianer mit den Cowboys, Nikki?“ Und Niklas machte: „Peng,
Peng, Peng!“ Das Kinderbuch, das ich ihm später in die Hand gab, hielt er erst falsch herum. Ich war unfähig mit tausenden Worten zu sagen, was er mit einer Silbe klargemacht hatte: peng! – du bist tot. Meine Hilfestellungen, das letzte halbe Jahr, das
Listen schreiben, das organisierte Babybett, die mitgebrachten Kuscheltiere und
Putzmittel waren der verzweifelte Versuch eines Schwimmers, der versucht gegen
eine Strömung das Ufer zu erreichen und sich nicht eingesteht: Er kommt nicht voran, er wird abgetrieben, er wird es nicht schaffen, die Anstrengung ist sinnlos, und
schöner wär’s, man ließe sich treiben.
Selten ist mir etwas so eindeutig klargeworden: Die Kinder von Kröger werden es zu
nichts bringen, sollten sie bei ihm bleiben. Das heißt, sie werden später etwas sehr
Kleines und Untergeordnetes sein. Auf den Schulen, die sie besuchen werden, lernen sie nur, dass sie von der Bildung, die sie erhalten, wenig zu erwarten haben.
Dass unser Land für Menschen wie sie keine Verwendung mehr hat. Die Lerninhalte
sind dabei nebensächlich. Ihre abwertende Bedeutung bekommen sie durch die
Geste, mit der sie vermittelt werden. Jeder Lehrer wird sie spüren lassen, was es
heißt, kurz vor dem Schulabschluss nicht über das fehlerhafte Konjugieren unregelmäßiger Verben hinausgekommen zu sein. Sie werden hilfsbedürftig bleiben, abhängig davon, Dienste erweisen zu können. Ihr größtes Glück wird darin bestehen, von
jemandem gelobt zu werden, der auf sie herabschaut. Die Seelen dieser Menschen
werden für immer die Gestalt des vernachlässigten Kleinkindes haben, das mit einer
Spielzeugpistole auf mich zielte.
11. Juli
Kröger hat mich rausgeschmissen. Er packte mich am Kragen und zerrte mich vom
Wohnzimmer durch den Flur und vor die Wohnungstür. Die Logopädin hatte vormittags angerufen. Niklas sei nicht zu seinem Termin erschienen. Also fuhr ich direkt bei
Kröger vorbei, um nachzuschauen, ob alles in Ordnung ist und ihn mit dem Versäumnis zu konfrontieren. Ich kam also rein, unangekündigt, und fand ein Chaos vor wie
lange nicht. Kröger saß auf dem Sofa und sah fern. Ich fragte ihn: „Warum war Niklas
denn heute nicht bei der Logopädin?“ Er stand auf, ging an mir vorbei, Richtung Küche und sagte, ohne mich eines Blickes zu würdigen: „Warum, er war doch da, hab‘
ihn selbst hingebracht.“ Ich folgte ihm und sagte: „Er war nicht da, die Logopädin hat
uns angerufen. Diese Termine sind wichtig für Niklas.“ Kröger, jetzt mit dem Rücken
zu mir, stampfte kurz auf. „Gehen Sie jetzt, Herr Berz. Es fehlt uns nichts.“ So über die Schulter sagte er das. Ich lächelte schwach und schwieg. Ich konnte nicht anders, es war ein Verzweiflungslächeln, die pure Resignation. Es vergingen ein paar
Sekunden. Dann ging ich ins Wohnzimmer, nahm Niklas auf den Arm, lief zurück und
stellte mich mit ihm in die Küchentür. „Wie geht es dir, Niklas?“, fragte ich. Er antwortete mit seinem üblichen Gebrabbel und einigem Speichel, der ihm das Kinn herunterlief. „Wie würdest du es denn finden, wenn du nicht mehr bei dem Papa, sondern
auf einem schönen Bauernhof wohnen würdest, mit Pferden und Hühnern und ganz
viel Platz zum Bobby-Car-Fahren?“ Kröger beobachtete die Szene, sein Gesicht fieberte, auf seinen sonst käsigen Wangen glänzte es blassrot, seine Augen waren vor
Schreck etwas entrückt, als wäre ihr ganzer Ausdruck hinter ein dickes Glas gesetzt
worden. Ich entfernte mich mit Niklas auf dem Arm Richtung Wohnzimmer. Seine
Fußsohlen waren dreckschwarz. Jetzt kam Kröger mir hinterher. „Lassen Sie ihn runter“, sagte er. Ich blinzelte ihn listig an. „Wenn ich wollte, könnte ich ihn sofort mitnehmen“, sagte ich. „Ich kann dafür sorgen, dass Sie ihn nie wiedersehen. Wenn ich will,
sehen Sie Niklas nie wieder.“ Der Kleine auf meinem Arm wurde unruhig. Ich setzte
ihn ab. „Sagen Sie mir eine Sache, Kröger, warum sollte man Ihnen Niklas nicht wegnehmen, wenn er es woanders besser hat? Und wenn Sie schon dabei sind, warum
sollte man Sie nicht dazu zwingen, irgendwo für einen Euro die Stunde Handys zusammen zu schrauben? Warum stehe ich stattdessen seit einem halben Jahr immer
wieder hier und lasse mich von Ihnen verarschen? Warum, Kröger? Warum?“
Was ich vorhin als bestürzend empfand, amüsiert mich jetzt schon wieder. Kröger,
dieser kartoffelförmige Mensch – er stand einfach nur da und sagte erstmal nichts.
Ich bezweifle, dass er wirklich nach einer Antwort auf meine Fragen suchte. Er erschien mir einfach nur verdattert, weil ich für ihn unerwartet die Gangart gewechselt
hatte. Dann sagte er knapp: „Nikki ist mein Kind.“ Und damit hat er natürlich vollkommen recht, deshalb sagte ich: „Ja.“ Nichts weiter als ‚ja‘, und dann musste ich auf einmal ziemlich dumm lachen und zeigte mit dem Finger auf Kröger, ich wusste gar
nicht, warum. „Sie kennen weder Gründe noch Gegengründe, Sie sind ein glücklicher
Mann. Ein dummer, glücklicher Mann“, sagte ich.
Es folgte das mit meinem Kragen.
Aber diese Geschehnisse sind an sich viel zu unbedeutend. Wie Kröger zu etwas
bringen? Diese Frage scheint mir wichtig und ich habe endlich eine Antwort. Sie ist
ernüchternd, aber so banal wie wahr: Der einzige Weg, bei Kröger etwas zu erreichen, ist die Erpressung. Machtausübung durch Erpressung, um genauer zu sein.
Die Erpressung besitzt für mich gegenwärtig einen idealen Wert. Wenn ich mir vorstelle, Kröger vor ein Tribunal zu setzen, werde ich beinah euphorisch. Diese ganze
zutrauliche Familienhilfe: pfui! Ich möchte Macht ausüben und nicht länger hoffen,
dass die neuen Kinderbücher zu etwas führen. Manchmal habe ich sogar Lust, Heike
in Konfliktsituationen ähnlich zu begegnen. Dabei sehe ich mich wie von oben und
erschrecke. Morgen fahren wir in den Urlaub. Ich freue mich sehr auf schottische
Höflichkeit und Umsicht. Menschen, die automatisch eine gerade Warteschlange bilden, wenn sie in einen Bus einsteigen möchten – ein Traum.
4. September
Ich habe das Tribunal abgehalten. Macht, Erpressung und Autorität als Ultima Ratio,
Schottland hat daran nichts geändert, meine Schreibpause hat daran nichts geändert. Im Gegenteil, je mehr Zeit verstrich, je weiter der Blick auf den Gipfeln der Highlands in die Ferne reichte, je länger ich den Gestank nach WC-Ente, kaltem Rauch
und schwarzem Schimmel in Krögers Wohnung nicht roch, je länger meine Sohlen
nicht auf seinem Küchenboden kleben blieben, desto klarer wurde mir, was zu tun ist.
Ich ließ diese Zeit ganz bewusst verstreichen, ich las immer wieder, was ich dokumentiert hatte.
Alle Fachkräfte, die an der Betreuung beteiligt sind, kamen und saßen vor Kröger an
einem langen Tisch. Kinderarzt, Kita-Mitarbeiter, drei Betreuer aus der Frühförderstelle, der Jugendamtsleiter. Wir erklärten ihm, was alles in seinem Leben nicht
stimmt. Wir formulierten Auflagen, wir drohten ihm, er würde seine Kinder verlieren.
Wir zogen die berühmte rote Linie. Es dauerte lang. Kröger war ganz alleine. Der
Raum war kahl, das Licht der Neonröhren kalt. Vor Kröger stand ein Glas, jemand
hatte ihm eingeschenkt, aber er rührte es nicht an. Vor allen anderen lagen Aktenordner, Mappen, Schreibblöcke und Notizbücher, aufgereiht zu einem großen U, die
papierne Topografie seines Versagens. Er sah die meiste Zeit auf die Tischplatte,
war nicht fähig, den Blick zu heben, nur einem von uns in die Augen zu schauen. Der
Tonfall meiner Kollegen kam mir merkwürdig vor. Alle waren so beherrscht, sachlich,
distanziert. Die ganze Einfühlsamkeitsansprache, die Suggestionsaussagen – alles
gestrichen. Bei einem Kinderarzt überrascht mich das nicht weiter. Ärzte können
Menschen als binäre Systeme betrachten. Krank oder gesund. Aber dass selbst die
Kita-Mitarbeiter Regelverstöße und Forderungen aufzählten wie Lottozahlen, erstaunte mich schon. Gerade diese Emotionslosigkeit und Ruhe entfaltete eine Härte, die Kröger gar nicht kennen konnte. Zugleich, und das ist weitaus schlimmer, spiegelten wir ihm ein Bild von seinem Leben, das nur aus Fehlern bestand. Eindimensionaler kann man einen Menschen nicht zeichnen. Aus einem Menschen mit großen
Schwächen, Versehrtheiten und Traumata, die wir nur erahnen können, konstruierten
wir eine einzige Unzulänglichkeit. Wir waren ungerecht.
Irgendwann begann Krögers Kinn zu zittern, sein Hals geriet in Bewegung, er zog
Rotz hoch, schniefte, die Hände unter die Oberschenkel geklemmt. Er zerbrach vor
unseren Augen. Und dann ist er nach draußen gelaufen, Tränen auf den Wangen,
die Augen gerötet, er sah ganz wund aus. In diesem Moment tat mir alles schrecklich
leid und zugleich jubelte ich innerlich. Ich war siegesgewiss. Aber zu welchem Preis.
Es ist gar nicht zu beziffern, wie tragisch der Vertrauensverlust ist, den Kröger verkraften muss. Im Raum schwiegen alle, manche notierten sich etwas, andere zuckten
mit den Schultern, jemand biss in einen Keks. Der Jugendamtsleiter sagte: „Gut, das
wäre das, vielen Dank, Herrschaften.“ Als er noch im Sitzen seinen Stuhl zurückschob, ächzten die Filzgleiter über den Boden und es klang als hätte jemand sehr
energisch eine Tafel abgewischt.
16. September
Das Erstaunlichste ist eingetreten. Kröger und Frau Kirschner setzen alles um. Alle
Auflagen, die wir ihnen gemacht haben – alle, ausnahmslos. Die Wohnung ist sauber, die Kinder gehen in die Kita, sie bringen sie zur Logopädin und zur Ergotherapie.
Sogar die vergilbten Vorhänge haben sie in die Reinigung gebracht. Der Mensch
Kröger und die Repression, eine Erfolgsgeschichte. Ich bin heute unendlich traurig,
wenn Kröger Vertrauen verloren hat, so habe ich meinen Glauben verloren. Aber es
ist entschieden, die Kinder bleiben. Der Entbindungstermin von Frau Kirschner ist in
drei Monaten. Auf dem notariellen Dokument, das die Adoption beurkunden würde,
steht: „Ich bin darüber unterrichtet, dass diese Einwilligungserklärung unwiderruflich
ist.“ Es liegt wie eine geladene Waffe in meiner Schreibtischschublade. Ich weiß
nicht, was ich noch schreiben soll.
20. September
Krögers Augen haben sich verändert. Er schaut jetzt nicht mehr gutmütig. Er steht
immer leicht abgewandt, geduckt, als erwarte er einen Angriff. Seine Augen richtet er
meistens nach unten. Beim Einschlafen fühle ich mich, als fiele ich in eine tiefe Grube, und beim Aufwachen, als müsste ich vor dem Aufstehen erst einzelne Teile
von mir im Bett zusammensuchen, die über Nacht abgefallen sind. Heike stellt mir jeden Morgen Kaffee auf den Nachttisch. Bis ich das erste Mal daran nippe, ist er nur
noch lauwarm. Heute, kurz vor Feierabend, kam der Amtsleiter in mein Büro. Er beglückwünschte mich ausführlich zu meinem Erfolg. Ich soll zum nächstmöglichen
Zeitpunkt befördert werden. Abteilungsleitung oder Ähnliches, ich habe gar nicht richtig zugehört.