Dilan Zoe Smida

Der große Hunger

Uff jaa. Den ganzen Tag habe ich nur an meinem Kaffee und Zigaretten genuckelt. Hab keine Lust mehr auf Nikotin und Koffein, also Pizza!, mit einem Berg aus Käse und Zwiebeln, denke ich und mein Mund wässert schon. Ich schlürfe die Sabber hoch und bewege mich, getrieben von, nennen wir es, Foodporn im Kopfkino Richtung Fressmeile. Nichts hält mich jetzt davon ab, mir eine ordentliche Ladung eingetürkte Pizza in den Bauch zu schlagen, nicht mal die ewigen Magermodels, die an den Litfasssäulen kleben und an denen ich im Schnellschritt vorbeiziehe. Diesmal, das schwöre ich, ist nicht der Weg das Ziel. Angekommen an Musas Imbissecke, platze ich durch die angelehnte Türe und schreie ein aufgeregtes Merhaba! hinein. All eyes on me... aber nicht wie beim roten Teppich, oder wie Britney Bitch singt, nein, das sind Blicke der genervten Verwunderung wie ein Mädl wie ich es sich erlaubt, die fast heilige Stätte des türkischen Schnellimbiss’ mit solch einem Geschrei zu betreten. Ich brauche aber jetzt diese Aufmerksamkeit, weil ich keine weitere Minute mit freundlichen Was gibt’s, Was gibt’s nicht? verschleudern kann. Ich habe Hunger und das nicht zu knapp, also bestell ich mir eine Familienpizza, denke ich, als ich die kitschigen Abbildungen von Essen an der Leuchttafel über dem Grill betrachte. Schon immer wollt ich mal fragen, was das eigentlich soll. Wer denkt sich dieses Design aus, wer fotografiert und bearbeitet es in der Postproduktion so, dass die Farben komplett übersättigt sind und der Kontrast so hoch, dass man glaubt der Lahmacun wirbelt wie ein Frisbee auf einen zu? Genug. Diese Gedanken kann ich mir später machen, also steuere ich auf die kurze Schlange zu und wedle heftig mit meinem rechten Arm. Eine große Familienpizza mit Zwiebeln!, rufe ich über den Tresen. Dann zieh ich zum Kühlschrank weiter, hole mir ne Dose Cola und pflanze mich auf einen Stuhl an einem kleinen runden Metalltisch, der Richtung Fernseher ausgerichtet ist. Ich schütte mir das Softgetränk hastig in den Hals und schau dabei zu, wie Baris Manco sich durch die langen Haare fährt und dabei lechzend in die Kamera singt. Anliyorsun degil mi? Er hat gewonnen, meine ganze Aufmerksamkeit gehört jetzt ihm. Doch es war ein kurzes Vergnügen, das er mir bereiten konnte, denn sein letzter Refrain wird abrupt abgeschnitten und plötzlich ist Tarkan, wie er gewollt gefühlvoll an einer Hauswand lehnt, auf dem Bildschirm zu sehen. Genervt schieße ich Blicke durch den Imbiss auf der Suche nach der Fernbedienung. Sie liegt gelassen, als wäre eben nicht ein kultureller Fauxpas passiert, in der Ecke auf einem kleinen Beistelltisch, der mit Plastikrosen geschmückt ist. Ohne zu fragen und mit keinen großen Erwartungen mach ich mich ihrer Kontrolle stark und zappe wild durch Werbung, Dauerwerbesendungen, Soapoperas, Nachrichten und noch mehr Werbung. Plötzlich halte ich inne. 

Zurück, zurück. Was waren die wenigen Worte und Bilder vom Nachrichtensender, die mir ins Gesicht flackerten? Tatsächlich, eine Kurzreportage über die sogenannten Flüchtlingsströme. Mittendrin ein nervöser Reporter, der zwischen den weiß eingecremten Gesichtern erklärt, wie diese sich vor den Tränengasangriffen ungarischer Grenzschutzwächter zu schützen versuchen. Hier rennen zwei Beine, dort wedelt ein Arm und im Hintergrund ziehen Hände hastig an kleinen Körpern. In Starre versetzt, kralle ich mich an meine Cola und quetsche das Blech in eine deformierte Röhre. Die Lautstärke im Imbiss ist die gleiche geblieben, doch es sind nun nicht mehr die angeregten Gespräche, die den Raum füllen, sondern das Schreien und Stampfen der Geflüchteten, noch mehr aber die Erklärungsversuche des Reporters um diesen Umstand. Jetzt bemerke ich, wie sich eine Welle von Blicken auf mich richtet. Als wäre ich nicht nur schuld an der Störung des friedlichen Imbissetablissements sondern auch an der eigentlichen Ursache der Flucht, ergreift ein Mitarbeiter die Frechheit, die Fernbedienung aus meiner Hand zu schnappen und blitzschnell zurück auf den Musikkanal zu switchen. Verdutzt und machtlos sitze ich an dem einsamen Tischlein, als ein leises Graupeln in meinem Bauch einsetzt. Diesmal kann ich aber nicht einordnen, ob es noch der Hunger ist oder schon die Übelkeit über diesen Akt der Anmaßung, die sich in mir breitmacht. Eigentlich will ich jetzt raus und nicht mehr Komplizin in diesem Laden sein, aber ich bin an den Stuhl und somit an den Bildschirm gefesselt. Doch ich schaue durch ihn hindurch. Durch die Pixel, an den Kabeln vorbei bis hinter die weiße Wand. Meine Starre hält noch weitere Minuten an, bis mir der Duft von geschmolzenem Käse in die Nase steigt. Vor mir nun eine Familienpizza mit extra viel politischen Toppings, nach denen ich nicht gefragt hatte. Statt die Pizza runterzuschlingen, sage ich in einem unkontrollierten Ächzen: Zum Mitnehmen!, und lasse sie mir einpacken. Nachdem ich dafür bezahlt habe, stecke ich mir schon im Laden eine Kippe in den Mund und zünde sie an. Ja, das ist alles an Protest, den ich jetzt gerade zeigen kann. Wenn ich könnte, würde ich diesen Imbiss hotboxen, denke ich mir laut und verlasse den Ort, der mir sonst so heimlich war. 

Kaum liegt mir der verdrehte Dönerladen im Rücken, blickt mir der Rest der Welt nicht weniger gereizt ins Gesicht. So wie sie mir entgegenblickt, so schau ich zurück. Ich bin doch kein dämliches Fräulein, das mit Dauergrinsen durchs Leben tackelt, während ihr der Dreck in die Fresse bläst. Also, nochmal zurückspulen. Oder doch lieber vorwärts? Was bringt es, ständig eine Vergangenheitsanalyse durchzuführen?! Das stelle ich mir so unangenehm vor, wie eine Darmspiegelung nach nem Besuch bei BurgerKing. Stattdessen schau ich lieber, nein, nicht in die Zukünfte, die sich da in Jahren vor mir auftürmen, sondern auf den nächsten Schritt und meinetwegen auch den übernächsten. Alles andere wäre Träumerei und das kann ich mir nicht leisten. Also schön auf dem Teppich bleiben, auch wenn man sich manchmal wünscht, er könnte fliegen. Genug Orientalismus! Aber ich zucke mit den Schultern und lass es mir durchgehen. Muss mir die Energie sparen für die Situationen, in denen die Anderen glauben, sie könnten solche Sprüche raushauen, um dann insgeheim einem sprachlich den Popel ins Gesicht zu drücken. „Sie können aber gut Deutsch.“ Soll das etwa ein Kompliment sein?! Jo! Das is' meine Sprache, genauso wie Ihre, gnädige Frau! Mit ihr schütz und attakiere ich, wieg und sehne mich, verarsche und bewundere dich. Mit ihr bin ich gewachsen. Ohne sie wäre ich ein Mensch weniger. Bir dil, bir insan. Also versuch mir nicht mein Ich zu nehmen! Während du noch im Duden blätterst, rap ich schon meine ganz eigenen Neologismen. Willst du's wissen, du Rehkitzler, FKK-Flitzer, Bullenbeschützer?! Hehehe. Da lach ich in mich rein und aus mir raus, während ich wieder etwas lockerer die Straße runter bis über die rote Ampel in die Fußgängerzone baumle - direkt in die Arme der Stadt, die mich schon längst verschlungen hat.