Deniz Ohde
Vision Board
Es muss etwas sein über das Zeitgeschehen, aber mein Zeitgeschehen war abgekapselt von dem, was sich abgespielt hat. Es war etwas Anderes, als das, was die Leute hören wollen, nämlich das, was um 20 Uhr in den Röhrenfernsehern zu sehen war, die Bilder von Explosionen hinter konvexen Glasschirmen, aber die habe ich nicht mitbekommen. Ich habe damals Nickelodeon geguckt und superRTL, obwohl das Programm da nicht so gut war, und vor der Tür war es still. Ich soll etwas sagen zu diesem Zeitgeschehen, obwohl damals schon niemand darüber sprechen wollte, und obwohl damals so getan wurde, als wären die Leute, die dann auf den Straßen demonstrieren gegangen sind, einfach nur hysterisch. Es soll sich elegant im Hintergrund auftun, dieses Zeitgeschehen, ich soll es miterzählen, aber nicht so dringlich und nicht so konkret. Man will etwas hören über die verschlungenen und komplizierten Psychen explizit ausgewiesener Täter und wie ich darunter gelitten habe, man will eine Betroffenheit über meinen Vater und seine beschwerliche Reise, obwohl er mit einem Flugzeug der Lufthansa gekommen ist. Er war mal obdachlos eine Zeit lang, soviel weiß ich. Er hat es mir als Kind nur lachend nebenher erzählt, wenn ich das ältere Brot nicht essen wollte: „Ich habe früher Brot aus Mülleimern gegessen, hahaha.“ Dass er mal eine Zeit lang in einem Fußballverein in der Umkleide auf den Bänken schlafen durfte und dass er eine Zeit lang in irgendeiner linken WG zur Untermiete gelebt hat. Das sind aber Sachen, die ich mit mir nicht in Verbindung gebracht habe. Die Leute sagen immer, ich würde eher in leisen Tönen schreiben, aber sie sagen das nur, wenn ich etwas Unangenehmes schreibe, als wollten sie mich mit diesem Satz zurück in meine Schranken weisen. Dass es bei mir leise zu sein habe, dass ich mich leise zu beschäftigen habe mit einem ganz bestimmten Zeitgeschehen, einem für sie nachvollziehbaren, einem, das mit dem Gong der Tagesschau eingeleitet werden kann. Man will nichts über sich selbst ausformuliert hören, und wenn doch, dann sagt man: „Das bildest du dir nur ein. Das verstehe ich nicht. Schreib’ etwas Leises über eine Explosion.“ Dabei schweige ich ja schon den Großteil meiner Tage, dabei verlege ich ja schon alles in ein Tippen, das meinen Nachbarn nicht stört. Man will hören, wie ich in der Schule ausgelacht wurde für Baklava, aber das ist mir nicht passiert. Mir wurde mal gesagt, ich sähe aus wie Sibel Kekilli, aber dann hat sie sich die Nase operiert.
In der siebten Klasse habe ich angefangen, mir Mädchenzeitschriften zu kaufen. Eine hatte die Titelstory „Mach deine Träume wahr“ und auf mehreren Seiten wurden einem Multiple-Choice-Tests angeboten, mit denen man herausfinden sollte, was die eigene Leidenschaft ist. Es gab eine Auswahl zwischen A, B oder C. Zum Schluss wurde einem die Aufgabe gestellt, ein Vision Board anzufertigen, um die Energien im Universum anzustoßen. Aus ausgeschnittenen Bildern und Wörtern sollte ich eine Collage erstellen, die meine Zukunftswünsche repräsentierte, ich sollte mir genau vorstellen, wie ich mich fühlen würde, wie ich sein würde, wie sich mein Leben anordnen würde. Ich blätterte in den Zeitschriften auf der Suche nach passendem Material. Noch vor dem Inhaltsverzeichnis erstreckte sich eine Anzeige für eine Körpercreme über eine ganze Seite. Ein aschblondes Mädchen stand in einem weißen Kleid unter weichgezeichneten Bäumen im Regen und die Tropfen fielen ihr auf den gekräuselten Nasenrücken; „sanft wie ein warmer Sommerregen“, stand daneben. Mädchen mit kindlichem Haarschmuck, um die Taille gebundenen Jacken, Sonnenbrillen mit rosa getönten Gläsern, auf die Strasssteine geklebt worden waren, sie lächelten in die Kamera – „Brille: Orsay, 12DM“. Allesamt blond, wie auf den Litfaßsäulen und den großen Werbeplakaten, die nachts von kleinen Laternen beleuchtet wurden; wie auf den endlosen Reihen Fernsehzeitungen im Supermarkt. Sie trugen tief geschnittene Jeans oder Badehosen, deren Verschluss aus dünnen Knötchen an den Hüftknochen bestand. Auf anderen Seiten sah man sie von oben auf einem Wannenrand sitzen mit dicken Schichten weißen Schaums auf den Schienbeinen, daneben kleine Textblöcke, in denen die Rede von „Härchen“ war. Um meinen Bauchnabel wuchsen dicke schwarze Haare, die ich mir einmal die Woche mit einer Pinzette ausriss, hellrotes Blut kam aus den Stellen der Haut. Mit einem Rasierer fuhr ich neben meinen Ohren entlang hinunter bis zum Kiefer, an der Rückseite meiner Oberarme und bis weit über die Mitte meiner Oberschenkel hinaus. Darüber stand nichts auf den Seiten, nur die rosa Griffe verschiedener Rasierermarken waren zu sehen und die Mädchen mit beerigen Lippen, die ihre Füße in azurblaue Schwimmbecken steckten, kein Haar auf ihren Fingerknöcheln und im Klarlack ihrer Nägel spiegelte sich das Sonnenlicht.
Ich dachte, dass ich nicht würdig wäre bei Orsay einzukaufen. Es lag an etwas, das mir von Geburt an mitgegeben worden war und das tief unter allen Hautschichten wie ein Film jede Muskelfaser umschloss. Ich sah es darin, wie sich die Sachen, die ich mir dort heimlich gegen die Brust hielt, von meinem Gesicht abhoben und es noch unförmiger aussehen ließen, egal, wie viele feingliedrige Blumenmuster ich ausprobierte, wie viele Rüschen, wie viele Plüschschriftzüge auf Pyjama-Oberteilen. Ich hatte eine der Sonnenbrillen in der Hand gehalten, als ich mit Lisa zwischen den Kleiderständern gestanden hatte; sie hatte ein T-Shirt mit einem aus Pailletten geformten Playboy-Hasen anprobiert und ich hatte gesagt, dass es süß aussehe, weil süß ein Wort war, das ich mir beigebracht hatte, zu benutzen. Es wurde durch meinen Mund zu etwas Faulem, so oft ich es auch sagte, und immer, wenn ich an einem der großen Spiegel vorbei lief, sah ich, dass süß nichts war, was ich sein konnte, weil meine Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammenwuchsen.
Die Wörter, die ich in den Zeitschriften fand, und die mir vorkamen, als passten sie auf mein Vision Board, waren 'schön' und 'selbstbewusst'. Es waren die Überschriften von Artikeln, die einem Anleitung gaben, wie man klare Haut bekam und wie man flirtete. Ich wollte ein Set gutzuheißender Charaktereigenschaften sein, eine Weichheit an mir haben, die bewirkte, dass die Stimme dieses milchgesichtigen Jungen aus der Parallelklasse, der es sich zur Tradition gemacht hatte, mir im Vorbeigehen „Alienface“ hinterherzurufen, verstummte. Es sollte bis an die Schulpulte dringen, an denen ich täglich saß, ich wollte bunte Fineliner haben, die ich in schillernde Plastiketuis steckte, und chlorgebleichtes Papier, über das sich die Lehrer beugten, um meine Hausaufgaben zu kontrollieren, und die Frage „ist Deutsch deine Muttersprache“ wäre ein Witz in gemeinsamem Einverständnis, wenn ich in einem der Wörter einen Buchstabendreher hatte. Wir würden in Verschwörung lachen. Mein 'Ja' wäre kein Unterwurf. Ich würde etwas sagen und man würde mir glauben. Ich wäre in rosa gekleidet, diese saubere Farbe, die allgegenwärtig war zu der Zeit, die über die schneeweißen Häute der Frauen rutschte, über ihre glitzernden blonden Haare und ihre nassglänzenden Lippen. Die Vorstellung, ich würde mich bis zu meinem sechzehnten Geburtstag in eine dieser Frauen verwandelt haben, würde weiß tragen, würde gebleichte Zähne haben und einer MTV-Sendung entspringen, in der ich das gleiche Gesicht hätte, wie alle anderen, eine akzeptable Kontur, eine dünne Stimme, mit der ich „bye“ in die die Kamera hauchte und dann, nachdem abgeblendet wurde, in einen Seidenkimono gehüllt weiter meinem Tagesgeschäft folgte. Mein Gesicht würde sich mit voranschreitender Pubertät zurückverwandeln, würde sich in ein Kindergesicht morphen wie durch einen Special-Effect in einem Musikvideo, wenn ich mir genug zusammengerührte Masken auf die Haut legte, wenn ich die Rezepte der Zeitschriften befolgte: ein Teil Hafer, ein Teil Honig, ein Teil Zitronensaft. Mein Gesicht würde sich rosig und feucht schimmernd hervortun aus einer dünnen Schicht Kopfhaar, als hätte ich mich gerade ein bisschen angestrengt, die Linie meiner Wangen würde auf ein kleines Grübchen im Kinn zulaufen wie Blütenblätter sich um ihr Staubkissen anordnen. Manchmal würde ich mich für das Grübchen schämen, weil die Leute mich darauf aufmerksam machten, aus Neid, nur aus Neid natürlich, und ich wüsste es. Niemand würde es wirklich glauben, wenn jemand das Grübchen als etwas Unschönes hervorhob. Allerhöchstens entspräche ich vielleicht der Rolle dieser blassen Hollywood-Frauenfiguren, die in Filmen wegen künstlich auftoupiertem Haar und einer Brille ausgelacht wurden, deren Schönheit aber trotzdem in jeder Kameraeinstellung offensichtlich war. Das Grübchen wäre etwas, von dem die Rede als „etwas Besonderes“ wäre und es wäre anders gemeint, als wenn Lisa über mich sprach, wie über etwas Missglücktes, dem sie sich samariterhaft annahm. „Ich finde dein Gesicht gut“, sagte sie, nachdem ich das T-Shirt wieder zurückgehängt hatte. Ich hatte sie nicht danach gefragt, sondern sie hatte mich aus den Augenwinkeln dabei beobachtet, wie ich mir die Oberteile gegen die Brust gehalten und dann wortlos vor dem Spiegel gestanden hatte. Sie sagte es mit heller Stimme und lächelte dabei. „Es ist doch etwas Besonderes!“
Montags trugen die Mädchen ihre Sportsachen über den Schulhof, in türkisen Douglas-Tüten, die sie sich übers Handgelenk gelegt hatten, und auf denen Frauen mit halboffenen Mündern zu sehen waren, in die sich die Mädchen eines Tages unweigerlich verwandeln würden. Sie waren sich sicher. Ein Geruch von wässrigem Parfum zog hinter ihnen her. Sie rieben sich mit nach sanftem Sommerregen duftender Bodylotion ein, die für sie gemacht worden war, nie ein Haar über den Lippen, dichte Augenbrauen nur, wenn sie Teil einer stilisierten Abbildung von Frida Kahlo auf ein Paar Socken waren. Die richtige Intensität von Hautbräune an Wangen und Kinn, die, die bewirkte, dass andere sie fragten, ob sie im Urlaub gewesen waren, nicht die, die schon im April Lisa dazu brachte, meinen Arm zu sich heranzuziehen, ihn hin und her zu drehen und zu sagen: „Warum bist du schon so braun?“ Auf diese Frage gab ich nie eine Antwort.
„Sieht man es denn?“, fragte ich Lisa, als wir den Orsay verlassen hatten und schon auf dem Weg zur Bushaltestelle waren. Ich hatte mir die Zeitschrift so unter den Arm geklemmt, dass man das Titelblatt nicht sehen konnte. „Nein, es fällt gar nicht auf“, sagte sie, in einem Tonfall, der den Satz als beruhigendes Kompliment auswies.
Sie hatte sich das Oberteil gekauft, außerdem eine Jeanshose mit Fransen an den Beinen und einen Schlüsselanhänger aus rosa Plastik in Herzform. „Süß“, sagte ich zu ihr, als wir im Bus saßen und sie den Anhänger aus einer der Plastiktüten holte, um ihn an ihrem Schlüsselbund zu befestigen, und Lisa sagte „Was?“ zu mir, obwohl sie mich verstanden hatte.
Als wir aus dem Bus stiegen, fing es an zu regnen. Wir rannten über die Straße und stellten uns unter einen Baum, um uns zu verabschieden. Ich hielt meinen Schal aufgespannt über den Kopf. „Leg’ mal um“, sagte Lisa und drapierte das Tuch um meine Haare. „Jetzt, so – so sieht man es schon!“, sagte sie. „Es fehlt nur noch ‘ne Aldi-Tüte.“ Sie lachte und ich lachte mit. Den Bruchteil einer Sekunde musterte sie mich, als könne ich sie nicht sehen, als stünde ich hinter einer verspiegelten Glaswand und wisse nicht um ihre Blicke, die an mir auf- und abglitten. Als sie um die Ecke verschwunden war, legte ich mir den Schal wieder um den Hals. Von den Bäumen tropfte mir das Wasser auf den Kopf. Nichts daran war sanft, nichts daran hatte etwas gemein mit dem frischen Duft einer weißen Körpercreme, nichts hatte ich gemein mit den hellgrünen Blattspitzen, von denen der Regen mir ins Gesicht tropfte.
Die Mädchen auf den Seiten verloren Augen und Teile ihrer Wangen, als ich die Wörter 'schön' und 'selbstbewusst' ausschnitt. Ich dachte, dass ich eigentlich genauso aussehen müsste, nichts konnte dagegen sprechen, ich war so gemeint gewesen, irgendwo in mir steckten diese wasserblauen Augen und dieses tiefe Weiß ihrer Dekolletés, irgendwo in mir steckte dieses Aussehen fest und kam nicht hervor und ich versuchte es herauszulocken mit den DIY-Masken, die ich im Badezimmer zusammenrührte, während ich mich ans Waschbecken drückte und sich neben mir in der Badewanne eine Kalkspur vom Stöpselhalter bis zum Ausguss zog. Ich stand auf Zehenspitzen, mit den Händen auf den Rand des Beckens gestützt, damit ich mich im Spiegel sehen konnte, die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen, ein Gemisch aus Haferflocken und Honig das mir von den Wangen tropfte und das süß auf den Lippen schmeckte.
Ich soll sagen: es ist zwanzig Jahre her. Das eine steht nicht in Zusammenhang mit dem anderen. Ich soll sagen, mein Vater spricht sehr gut Deutsch, er ist sehr freundlich, er hat einen südländischen Charme. Ich soll sagen, ich bin eine andere Generation, ich soll das Wort Generation benutzen. Ich soll sagen: für uns ist schon alles anders geworden, unsere Eltern haben viel für uns gearbeitet und dann soll ich sagen, wie genau sie gearbeitet haben, auf dem Bau oder in den Toiletten von McDonalds, ich soll eine Beschreibung über schwarze Haare unter Tüchern einfügen, damit man versteht, was ich meine; in leisen, einfühlsamen Tönen. Ich soll sagen, dass wir heutzutage schon weiter sind, dass es vor kurzem ein Hashtag gab, unter dessen Namen ich meine innere Spaltung habe ausdrücken können, meine Zweigeteiltheit, und das wäre der Bogen vom früheren zum jetzigen Zeitgeschehen gewesen. Es wären Geschichten aus der Vergangenheit gewesen und es wäre der Tag gekommen, an dem ich eine Linie hellen Puders auf meinen Nasenrücken zeichne und nachlässig mit der Pinzette bin, an dem ich nicht darauf achte nur bestimmte Muskeln meines Gesichts zu benutzen und nicht vor dem Spiegel sitze und mein Lachen ausprobiere, nicht vor dem Spiegel sitze und meine Stirn gegen ihn drücke, die Bilder der blonden Frauen an den Innenseiten meiner Schranktüren im Rücken, nicht einen zweiten Spiegel hinzunehme, um mich im Profil anzuschauen, langsam auf einer Weintraube zu kauen, um zu sehen, ob ich ekelhaft aussehe, nicht meine Ohren mit Duschgel auswasche, nicht meine Schläfen rasiere und den Abschnitt zwischen Haaransatz und Augenbraue, sondern mir Haferbrei im Gesicht auftrage, nicht weil ich will, dass es sich verändert, sondern weil es sich gut anfühlt, kühl erst und dann warm, weil meine Haut dann weich wird und ich als letzte Bewegung vor dem Einschlafen über meine eigene Wange streiche.