Dana von Suffrin

Sieben Geschichten über uns, in denen nichts passiert und die vielleicht auch gar nicht stimmen

1
Meine jüngste Schwester (ich habe drei oder vier) war schon mit elf größer als unser Vater, sie war mindestens eins fünfundachtzig, und wir haben sie natürlich noch größer gemacht, indem wir sie immer tratzten und sie bei jeder Gelegenheit daran erinnerten, den Kopf einzuziehen. Dies hatte zur Folge, dass sie sich nur noch äußerst langsam und vorsichtig bewegte, dabei zog sie die Schultern nach oben und den Kopf ein, man kann sagen, dass sie gewissermaßen alles in sich aufnahm, nicht nur den Kopf, und mir fiel auf, dass sie immer mehr wie eine dieser dreihundert Jahre alten Schildkröten von den Galapagosinseln aussah, über deren Leben immer in Tiersendungen berichtet wurde. Unser Vater freute sich, wenn wir Tiersendungen guckten, und er blinzelte interessiert zum Fernseher. Ich beschloss, meiner Schwester keinen passenden Spitznamen zu geben. Ich war auch nicht viel zuhause, ich verbrachte die Nachmittage bei meiner Freundin Franka. Franka hatte schon mit zehn begonnen, sich zu schminken, und obwohl sie mich im Kinderzimmer zurückließ, während sie sich die Wimpern tuschte, rote Backen aufmalte und Lipgloss auftrug, liebte ich es bei ihr. Ich spielte Gameboy. Frankas Vater wurde sehr, sehr böse, wenn er sie so geschminkt sah. Er fand zum Glück nie heraus, dass sie schon damals begann, sich mit Sechzehnjährigen am Biotop zu treffen, einem schauerlichen kleinen Teich mit toten Goldfischen. Franka schlich sich abends aus dem Haus, während ihre Eltern Quizshows sahen. Uns erzählte sie auch nichts, aber mein Vater traf sie manchmal beim Gassigehen eng umschlungen mit irgendwelchen Teenagern aus der Nachbarschaft, denen sie erzählt hatte, dass sie schon vierzehn war.
Aber zurück zu meiner Schwester, die eine solche Freundin natürlich nicht hatte: Sie war auch ziemlich dick, außerdem trug sie eine Brille und färbte sich die Locken mit Henna, obwohl unsere Eltern ihr das verboten. Meistens sperrte sie sich in ihr Zimmer ein und las, später rauchte sie dauernd Gras. Sie war in der Schule natürlich nicht sehr beliebt. Ich habe einmal gehört, dass beinahe täglich durch das ganze Klassenzimmer Zettel, auf denen irgendetwas Gemeines stand, durch 22 hämische Händepaare gereicht wurden, und einmal hatte sogar ein Junge versucht, ihr eine Ohrfeige zu geben, aber meine Schwester hob ihn einfach an der Hüfte hoch, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun soll. Dann ließ sie ihn wieder herunter und alle starrten sie für ein paar Momente an. Heute geht es ihr gut, sie ist eine erfolgreiche Frau, ihr Mann hat drei Monitore im Arbeitszimmer, und sie bringt die Kinder morgens in eine bilinguale Kita, damit sie mehr Zeit hat, in ihrer Agentur auf den Angestellten herumzuhacken, und alle fünf fahren einmal im Jahr auf eine Insel in der Karibik (nicht auf die Galapagosinseln).
Aber früher war es schlimm: Sie begann, sich vor der Schule zu fürchten, wurde morgens noch langsamer und noch trauriger, sprach mit leiser Stimme und zog sich immer mehr in ihren Schildkrötenpanzer zurück, aber meinen Eltern sagte sie natürlich nichts. Ich begriff alles, aber auch mir verbot sie, darüber zu sprechen, und mein Vater wurde immer ärgerlicher, weil er dachte, dass meine Schwester nur aus Faulheit und Gemeinheit so viel trödelte. Übrigens trödelt sie bis heute, weil sie sich nie entschließen kann, wirklich das Haus zu verlassen. Sie schläft morgens manchmal einfach weiter, wenn der Wecker klingelt, dann schreckt sie plötzlich hoch, und dann fallen ihr tausend Dinge ein, die sie erledigen kann, bevor sie das Haus verlässt, aber sie macht nichts davon richtig, und bevor sie wirklich geht, ist das Waschbecken nur halb geputzt, ist nur ein Teil des Geschirrs gespült und sie hat zwar Rechnungen bezahlt, aber sich bei den Beträgen vertippt. Danach fährt sie in die Agentur und gibt den Angestellten die Schuld. All das weiß aber nur ich.

2
Eine andere Schwester ist vielleicht das Gegenteil. Wir haben uns viel zu erzählen. Wir reden oft über unseren Vater, und es kann vorkommen, dass mitten im Gespräch eine von uns nachhause muss, denn wir haben beide schon Kinder. Unsere Kinder machen zuhause Lärm, während wir im Café sitzen und im Tee rühren und über früher sprechen, sie schlagen mit Löffeln auf dem Parkett herum und jagen den Fliegen nach. Jedenfalls, wir können uns schwer trennen: Meine Schwester muss den 183er zum Goetheplatz nehmen und ich die Linie 41 zum Giesinger Bahnhof. Ich begleite meine Schwester zu ihrer Bushaltestelle, damit wir noch ein wenig reden können. Dort sehen wir an der elektronischen Anzeigetafel, dass meine Schwester den Bus gerade verpasst hat. Deswegen schlägt sie vor, dass sie mich nun zu meiner Haltestelle begleitet, dort erfahren wir aber, dass der 41er heute nur selten fährt, weil die Busfahrer krank sind oder auf den Malediven, deswegen kehren wir natürlich zurück, glücklich, ohne unser Zutun noch mehr Gelegenheit für ein Gespräch zu haben. So kann es lange gehen, wir haben eigentlich nie genug geredet.
Letztes Mal ging es um unseren Vater, genauer gesagt um seine dummen Reisen. Unser Vater nahm zweimal im Jahr Urlaub im Labor (aber vielleicht war er auch schon in Rente) und fuhr zu seinen Cousinen nach Israel. Unsere Mutter hatte sich scheiden lassen, war gestorben oder selbst verreist. Seit wir erwachsen waren, fuhren wir nicht mehr mit, und keiner vermisste uns, obwohl wir uns eingebildet hatten, dass wir der Kern der Familie seien. Bestimmt fragte ab und zu in Israel jemand nach uns.
Unser Vater hatte einen Koffer, ein altes, graues Ding aus Stoff, das er also im Frühjahr vor den niedrigen und im Herbst vor den hohen Feiertagen zum Flughafen schleppte. Der Koffer hatte einen Griff an der Seite und an einer Kante Rollen, deren Kugellager aber immer von den kleinen Kieselsteinen, die in unserer Straße zu jeder Jahreszeit auf dem Trottoir lagen, blockiert wurden. Um die Kugellager zu schonen, trug unser Vater den Koffer. Jetzt fällt mir auch ein, dass mein Vater immer zu mir sagte: Und ich bin ein Kugellager!, wenn ich ihn anlog. Es tut nichts zur Sache, aber mein Vater war ein Kugellager, wenn ich ihm erzählte, dass ich eine Fünf bekommen hatte, nur weil der Lehrer mich hasste, er war auch ein Kugellager, wenn ich ein paar Mark stibitzte oder wenn ich behauptete, krank zu sein, weil ich Angst vor der Schule hatte.
Wir sagten zu ihm: Aber du schleppst dich ja zu Tode! In deinem Alter! Du bist schon 105! Muss ein alter Mann so schleppen? Kannst du dir keinen mit vier Rollen kaufen wie die Geschäftsleute am Bahnhof?
Mein Vater fluchte zwar, als er das Ding zur S-Bahn schleppte. Er hätte nie ein Taxi genommen, und zwar, weil er nicht recht wusste, wie man Taxis anhielt, er wollte sich dabei nicht blamieren, außerdem kam es ihm obszön vor, sich von einem erwachsenen Mann herumfahren zu lassen; er wusste nicht, ob es unhöflicher war, neben oder hinter dem Fahrer zu sitzen, und natürlich reute ihn die unnötige Ausgabe. Er lief also mit dem Koffer zum S-Bahnhof. Der Plastikgriff schnitt ihm in die Hand; erst in seine gute rechte Hand, die er fast nie gegen uns erhoben hatte. Dann, auf Höhe der Annette-Kolb-Straße schon, stellte mein Vater seinen Koffer ab und wechselte in die linke, in der er natürlich viel weniger Kraft hatte. Mein Vater ärgerte sich aber nicht über den Koffer, sondern über seine fetten, launischen Töchter, die zu faul waren, ihn um sechs in der Früh, wenn die billigen Arkia-Flüge gingen, zum Flughafen zu fahren. Er dachte sich: Vier ist eine gute Zeit, aufzustehen, vor allem, wenn man faul und fett ist! Mein Vater mochte den Morgen immer sehr, er stand früh auf, weil er schlecht schlief, dann zog er seinen Morgenmantel an, und so lief er barfuß zur Tür, öffnete sie und studierte das Barometer.
Wir Schwestern waren wirklich faul und fett, wir aßen spätabends noch im Stehen aus dem Kühlschrank, eine meiner Schwestern drückte sich manchmal in ihrer Schwabinger Sechszimmerwohnung eine Tube Mayonnaise direkt in den Mund. Als wir noch Teenager waren, legten wir uns nach Mitternacht ins Bett und lasen unsere anzüglichen Romane oder taten Schlimmeres mit den christlichen Männern.
Unser Vater hätte uns natürlich gefahren! Wir aber ließen ihn alleine mit seinem Koffer: Lauter dumme Sachen waren da drin, Sachen, von denen er dachte, dass man sie in Israel nicht kaufen könne: Marzipan, Milchweißer, billige Schokolade von Lidl. Er schenkte sie seinen Cousinen Olga und Nomi, deren Kindern und Ehemännern. Alle waren gerührt davon, dass er diese sinnlosen Dinge in den hässlichen, schweren Koffer gelegt und nach Israel geschleppt hatte, deswegen verdrehten sie die Augen genießerisch und mein Vater war kurz glücklich und hatte sich schon entschieden, aus Dankbarkeit in ein paar Monaten wieder Schokolade und Milchpulver in seinen Koffer zu packen, in eine Plastiktüte, so dass die sauberen und ordentlich gebügelten Unterhemden und Feinripphosen und Socken rein blieben.

3
Mein Vater hatte viele schreckliche Wörter für uns, als wir erwachsen wurden. Einmal, da werden wir zwölf oder dreizehn gewesen sein, sah er uns an und sagte: Ihr kriegt Figuren wie eure Mutter! Keinen Busen, aber das macht nichts. Es sind keine sehr guten Figuren, aber auch keine schlechten! Wir erschraken und blieben vor ihm stehen. Es ist sowieso egal, rief er dann fröhlich, viel wichtiger ist es, dass ihr gescheit seid und gut lernt! Das war natürlich gelogen. Unser Vater wusste viel von den Geheimnissen der Frauen, denn als er noch jung gewesen war, liefen ihm die deutschen Frauen hinterher und zeigten ihm alles, was sie hatten. Sie zeigten ihm ihre kleinen deutschen Seelen, die sich immer nach düsteren Orten sehnten; sie zeigten ihm Kaffeebecher, Strumpfhosen, Thermoskannen und wasserabweisende Kleidung. Das Beste aber, was die deutschen Mädchen ihm gezeigt hatten, waren die langen, rosa-farbenen Körper und das dunkle Gewirr, das unser Vater Schmeusch nannte. Schmeusch, sagte unsere Mutter, ist ein ganz hässliches jiddisches Wort, denn damit bezeichnete man Felle oder Pelze oder auch die überfahrenen Füchse und Hasen am Straßenrand. Sagt das nicht, mahnte unsere Mutter. Wir sagten häufig Schmeusch, bis uns selbst Schmeusche wuchsen, danach schwiegen wir. Unsere Mutter war manchmal eifersüchtig, wenn sie an seine früheren Erfolge dachte, aber unser Vater machte sich nicht viel daraus. Es war ihm eigentlich egal, dass er graue Haare und ein bisschen Bauch bekommen hatte. Er hatte, angeblich von seiner bucharischen Seite, riesige, blaue Augen, die in tiefen Schatten hausten wie im Märchen eine Hütte im dunklen Wald.

4
Mein Vater hat immer versucht, uns zu überreden, Dinge zu sammeln. Meist waren das völlig nutzlose, aber dafür kostenlose Dinge. Er sagte: Es wäre sehr schön, wenn ihr Servietten sammeln würdet! Dann hättet ihr eines Tages eine kleine Kollektion und könntet euch an die Orte erinnern, an denen ihr gegessen habt! Wir begannen lustlos, Servietten zu sammeln. In Israel aßen wir immer nur in billigen Lokalen, und dort gab es immer die gleichen Serviettenständer, in denen ganz kleine, bedruckte Servietten steckten. Auf allen stand „Guten Appetit!“ in kursiver Schrift. Jedes Mal, wenn wir Falafel essen gingen, rupften wir zwei oder drei aus dem Spender und gaben sie unserem Vater, der sie in die Jackentasche steckte und dort unsere Sammlung anlegte.
Unser Vater selbst sammelte die irrsten Dinge: In einem Plastik-kästchen verwahrte er rote, kleine Fische, die aus seinem Aquarium gesprungen waren und deren Körper grässlich verrenkt, während des letzten Herumzappelns, erstarrt waren. Diese roten Fische vermehrten sich sehr schnell, und sie waren, obwohl sie plump und sanft an-muteten, wild und zankhaft. Manchmal sprangen sie aus Übermut aus dem Wasser, wenn man sie fütterte, so wie die Menschen sich manchmal zum Spaß anrempeln. Wenn wir danebenstanden, konnten wir sie in der hohlen Hand sammeln und wieder zurück in das Becken werfen. Ich verstand, dass mein Vater an ihnen hing, und auch ich hatte ein paarmal schon geweint, wenn eines der wenigen ganz alten Exemplare leblos und aufgequollen an der Wasseroberfläche getrieben hatte – die Fische wurden übrigens im Alter, auch hier ganz den Menschen gleich, krumm und verwachsen, und anstelle eines Stocks wuchs ihnen ein Schwert am unteren Leib, mit dem sie sich langsam und zuckend durch das Wasser kämpften.
In der anderen Plastikbox sammelte mein Vater tote Spinnen. Das war noch merkwürdiger, denn mein Vater war überhaupt kein morbider Mensch. Wenn jemand starb (Menschen), sagte er: Oh Gott!, und dann vergaß er denjenigen und sprach nie wieder über ihn. Die Spinnen interessierten ihn also überhaupt nicht als Symbole für den Tod oder die Vergänglichkeit oder irgendwelche anderen traurigen Dinge, über die wir lieber nicht nachdenken.
Die Servietten haben wir später irgendwann im Klo runtergespült.


5
Mein Vater hatte einen alten ungarischen Zahnarzt, Doktor Fonth, der am ganz anderen Ende der Stadt eine Praxis hatte. Mein Vater betrachtete Herrn Fonth als Landsmann, weil seine Mutter auch Ungarin gewesen war, und so ließ er es ihm durchgehen, dass er kein Jude war. Herr Fonth hielt es für richtig und notwendig, meinem Vater, während ich mit auf-gesperrtem Mund auf dem uralten, stählernen Behandlungsstuhl saß und vor Angst fast starb, seine Sicht auf das Leben und den Westen kundzutun. Herr Fonth sprach mit Rücksicht auf mich deutsch, und nur selten, das heißt, während ich den Mund mit warmem Wasser aus einem Plastik-becher spülte und zusah, wie schleimiges, rotes Wasser im Waschbecken verschwand, wechselte er für einen oder zwei Sätze ins Ungarische. Meine Schwestern und ich liebten Doktor Fonth nur für seine Tochter Vanessa, deren Namen er Ä-vänäsä aussprach, während unser Vater sagte: Wo-ne-sso! Aber leider interessierte sich unser Vater gar nicht für Vanessa, so dass wir den wunderbaren Namen nur selten zu hören bekamen und wir manchmal im Auto meinen Vater fragten: Wie heißt Doktor Fonths Tochter gleich wieder? Er sagte: Hm, Erika? Zsuzsana? Mein Vater vergaß sofort alles über Doktor Fonth, weiß Gott, aus welchem Grund er sich keinen anderen Zahnarzt suchte. Er fand Doktor Fonth eitel, ungebildet und langweilig. Außerdem war er neidisch, weil Doktor Fonths Zeugnisse und Zertifikate in Deutschland anerkannt worden waren, seine aber nicht. Herr Fonth verdiente auch mehr Geld und seine Frau war jünger.
Ich hatte zum Entsetzen meines Vaters keine guten Zähne, ständig blutete das Zahnfleisch. Einmal erzählte Doktor Fonth, während ich wie ein Vogeljunges mit aufgerissenem Schnabel auf dem Behandlungsstuhl saß, dass er ein Buch über seine Reise um die Welt (die uns ganz entgangen war, weil sie nur die Sommerferien über gedauert hatte) geschrieben hatte. Mein Vater hörte sich gleichgültig alles an. Wir waren, sagte Doktor Fonth, das heißt meine Frau und ich, in allen Metropolen dieser Welt. Wir waren auch auf sechs verschiedenen Schiffen und sind siebzehnmal geflogen! Doktor Fonth streckte sein langes, spitzes Gesicht fast in meinen Mund hinein und inspizierte mit seinen skeptischen, hellblauen Augen meine Backenzähne. Er gab dem Mädchen, das bei ihm arbeitete, irgendwelche Nummern durch, dann unterbrach er wieder, ich schmeckte seinen Gummihandschuh und er lachte plötzlich auf: Haha, so etwas hätte es in Ungarn nicht gegeben und auch nicht geben dürfen! Die würden schauen, wenn sie wüssten, was ich jetzt mit meiner Reisefreiheit so anstelle! Mein Vater wurde ungeduldig. Er saß auf einem Stuhl, hatte die Beine überschlagen und sah mich ausdruckslos an. Ssssrrr, sagte ich. Das kann schon sein, sagte mein Vater, aber von dieser Art Reisefreiheit halte ich sowieso nichts, was sollen diese dummen, teuren, überhaupt nicht erholsamen Reisen? Doktor Fonth drückte mit dem Daumen auf einen meiner Zähne und ließ sich dann von dem Mädchen ein scharfes Instrument geben, mit dem er an meinem Zahnhals herumkratzte. Was soll das!, rief Doktor Fonth ärgerlich. Sie sind ein Ignorant! Unsere Welt ist wunderbar, also vor allem die westliche! Ich stand vor sechs Wochen noch auf dem Empire State Building und habe die prächtigste Stadt der Welt im Sonnenuntergang gesehen! Mein Lieber, das ist ein Durch-einander von Menschen, Hunden, Buden, Geschäften, und alle eilen, eilen, eilen sich! Sie sollten auch verreisen! Und dann fügte er hinzu: Wieso sind Sie überhaupt gekommen, Sie hätten genauso gut in Ungarn verrotten können, Sie wissen nicht, wie man Privilegien genießt! Mein Vater schwieg, er war übrigens schon einige Male in den Vereinigten Staaten gewesen, weil er dort noch weitere Cousinen hatte, deren Väter und Vorväter eines der großen, rissigen Schiffe bestiegen und die im Sweatshop genäht hatten, damit die Cousinen sich jetzt künstliche Fingernägel aufkleben und in Yoga-Leggings zum Friseur gehen konnten, und nie hatte er uns davon auch nur eine Kleinigkeit erzählt, und dann sagte er bloß: Wie kann man auf diesen Schwindel reinfallen? Und bald hatte Doktor Fonth mich fertig malträtiert und ich durfte spülen und ausspucken. So ein Schmock, sagte mein Vater beim Rausgehen, wie kann man für eine so dumme Reise, auf der man nur frisst und schläft, so viel Geld ausgeben?

6
Früher habe ich mir immer einen Platz im Ruheabteil gebucht. Man muss wissen, dass es in jedem Ruheabteil mindestens einen Geschäftsmann, der bei einem sogenannten mittelständischen Unternehmen in Mannheim arbeitet. Der Geschäftsmann telefoniert: Entweder flüstert er leise und kichert, dann telefoniert er heimlich mit einer Frau, oder er spricht sehr laut, und dann ruft er:
– eigentlich so angelegt! Verschiedene Accounts wechseln! Die Leute schreiben einfach in diesen Chat irgendwie.
Dann setzt sich eine Frau dazu, eine Kollegin, und der Mann redet fünfundvierzig Minuten ununterbrochen. Ich drehe mich um und glotze die beiden durch die Spalte, die meinen Sitz vom Nachbarsitz trennt, an. Ich reiße die Augen auf. Die Frau zwinkert besorgt, der Mann bemerkt mich gar nicht. Ich flüstere:
– Ruheabteil, ich bitte Sie, bitte seien Sie endlich ruhig.
Und der Mann bemerkt mich jetzt doch, und dann fragt er mich, wie ich dazu komme, ihn anzusprechen, obwohl man gar nicht sprechen darf im Ruheabteil. Ich sage, ich darf sehr wohl sprechen, bitte denken Sie an meinen Vater und an all das, was er durchgemacht hat von 1939 bis 1944, und dann 1945, 1951, 1962, 1967 usw. usf., man könne, ergänze ich, eigentlich jedes beliebige Jahr hinzufügen, denn in jedem Jahr seines Lebens musste mein Vater tiefes Unglück ertragen. Die beiden schütteln den Kopf, ich setze meine Kopfhörer auf, dann höre ich:
– Je nach Commitment der einzelnen Leute, hier kannst du Bilder oder Avatare einfügen, vorausgesetzt, die Leute sind bereit, transparent zu sein.
Und ich packe endlich meine Sachen und laufe zum Speisewagen, dort bestelle ich mir einen Kaffee und verbrenne mir die Speiseröhre.

7
Eine kleine Damenhand zieht an den dünnen, grauen Haaren meines Vaters, die sich sofort ergeben und freiwillig ausfallen. Eine Gruppe von Jugendlichen kommt näher, sie machen sich gegenseitig Mut, und dann schneiden sie mit einer kleinen Schere das Hemd meines Vaters auf, als wäre er der Überlebende eines schweren Unfalls. Er schließt angestrengt die Augen. Ich sehe immer mehr Menschen und alle möchten sie etwas von meinem Vater. Keiner spricht, aber da sehe ich schon, wie zwischen den Händen eines dicken Mannes mit Koteletten eine kleine Knochen-säge blitzt. Ich schließe jetzt auch lieber die Augen, ich verstehe genau, was man von meinem Vater will, und er, er versteht das auch, deswegen wendet er den Kopf ja ab. Sie, ruft eine Frau, das ist doch Ihr Vater, oder? Hallo, Sie sind doch dieser interessante Jude! Erzählen Sie uns alles! Das ist ja höchst bedeutend! Wer wird sich sonst an all das erinnern? Und dann mache ich wieder die Augen auf und sehe, wie sie sich an der Zunge meines Vaters zu schaffen macht.