Clemens J. Setz
AUF UND AB BEDEUTET NICKEN
Die berühmteste Regieanweisung der englischen Literatur lautet: „Exit, pursued by a bear.“ Wir begegnen ihr in William Shakespeares The Winter’s Tale, am Ende einer sehr ernsten, dramatischen Szene, die überhaupt nichts mit Bären zu tun hat. Ein Handlanger des Königs Leontes setzt ein kleines Mädchen, weil dieses für ein illegitimes Kind seiner der Untreue verdächtigten Frau Hermione gehalten wird, in der Wildnis an der „Küste Böhmens“ aus. Dann zieht ein Sturm auf, und der Handlanger flieht vor den Elementen, verfolgt von einem in letzter Sekunde plötzlich erscheinenden Bären. Diese Regieanweisung, die zunächst nur aufgrund ihrer Kuriosität auffällt, ist auch deshalb berühmt, weil man an ihr, wie es ja häufig auf lautlos oder nebenbei gesprochene Sätze zutrifft, nicht nur die Absurdität einer konkreten Situation, sondern auch die Grausamkeit einer ganzen Epoche ablesen kann. Manche halten es für wahrscheinlich, dass Shakespeare für die Szene die Verwendung eines echten Bären aus den Londoner bear baiting pits vorsah, obwohl ein Schauspieler im Bärenkostüm etwas plausibler scheint. Vielleicht ist, wie einige Gelehrte vorschlagen, diese Regieanweisung gar nicht von Shakespeare selbst, sondern von einem seiner Schauspieler später eingefügt worden. Wir wissen es nicht. Auf jeden Fall findet sich in den Merry Wives of Windsor die Erwähnung eines damals sehr berühmten Kampfbären namens Sackerson, den es wirklich gab und dessen Name dem damaligen Publikum ein Begriff war. Bear-Baiting war eine allgemein beliebte Freizeitgestaltung für große Teile der europäischen Bevölkerung. Ein Bär wurde in der Mitte einer Arena an einen Pfahl gebunden, woraufhin Hunde oder andere Tiere auf ihn gehetzt wurden. Auf den Ausgang des Überlebenskampfes der Tiere wurden Wetten abgeschlossen. Am 13. Januar 1583 brach die Bear-Baiting-Schaubühne, die am Südufer der Themse gestanden hatte, in sich zusammen. Sieben Menschen wurden getötet und viele andere verwundet. Aus Berichten über dieses Unglück erfährt man, dass die Bauart dieser Bühne durchaus ähnlich war wie die von Shakespeares Globe Theatre. Auch über dieses wissen wir viel aus Berichten über einen Brand, im Jahr 1613. Die Bear-Baiting-Arena („Bear Garden“) befand sich in der Nähe des Globe und beide standen in direkter Konkurrenz um Publikum. In Henry V vergleicht sich die titelgebende Figur an einer Stelle mit einem „Jackanape“, einem Affen, der zur Freude des Publikums auf den Rücken eines Pferdes gebunden und dann von Hunden gejagt wird.
Wir können also sagen, dass hier in gewisser Weise „das Medium selbst“ oder sogar die architektonische Nähe zur Bear-Baiting-Arena direkt nebenan, ja vielleicht sogar die wirtschaftliche Konkurrenzsituation der theatralischen Unterhaltungsstätten am Ufer der Themse diese Regieanweisung verfasst hat. Die kurze, sinnlos angehängte Slapstickszene beim Abgang der Figur scheint viel weniger das Produkt der freien Fantasie eines einzelnen Menschen als das einer gemeinsam gelebten räumlichen und sozialen Atmosphäre.
Wann immer man nun in ähnlich unmotiviert wirkende Regieanweisungen wie die vom Bären hineinzoomt, zeigen sich erstaunliche Dinge unter der Lupe. In Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit etwa findet sich die merkwürdige Anweisung „Das österreichische Antlitz erscheint“. Dieses gehört, wie man sofort erfährt, einem Fahrkartenschalterbeamten. Ein Zug, auf den viele Menschen ungeduldig warten, hat Verspätung, und als er endlich kommt, ist der Schalter absurderweise geschlossen. Rufe werden laut:
Rufe: Was is denn?! – Aufmachen! – (Der Nörgler schlägt mit dem Stock auf den Schalter.) So is recht!
(Der Schalter geht in die Höhe. Das österreichische Antlitz erscheint. Es ist von außerordentlicher Unterernährtheit, jedoch von teuflischem Behagen gesättigt. Ein dürrer Zeigefinger scheint hin- und herfahrend alle Hoffnung zu nehmen.)
Das österreichische Antlitz: Wird kane Koaten ausgeben! Wird kane Koaten ausgeben!
(Murren, das sich zum Tumult steigert. Es bilden sich Gruppen.)
Ein Eingeweihter: Kummts, i zeig enk ein Hintertürl! Da brauch 'mr überhaupt kane Koaten! (Alle ab durch das Hintertürl.)
Woher kam dieses „österreichische Antlitz“? In diesem Fall hat uns Karl Kraus in einem Aufsatz die Antwort sehr genau gegeben. Das Antlitz ist, so schreibt er, entlehnt von Josef Lang, dem letzten Henker von Wien. Sein Antlitz ist auf einer 1916 gemachten Fotografie verewigt, die ihn mit einem eben eigenhändig von ihm erdrosselten Menschen zeigt. Lang sieht aus wie ein stolzer, pausbäckiger, breit lachender Jahrmarktsausrufer. Und eine Gruppe von Soldaten steht, ebenfalls lachend, um den Henker herum. Dieses stolzpralle Heurigenlächeln suchte Karl Kraus über viele Jahre heim. Er beschrieb es immer wieder und wählte das Bild sogar als Frontispiz für die Erstausgabe der Letzten Tage der Menschheit aus. Das Bild ist eines aus einer Serie und zeigt den wegen Hochverrats hingerichteten österreichischen Reichstagsageordneten Cesare Battisti, der von Lang garottiert worden war. Er war einer der sogenannten Irredentisten, die für die Unabhängigkeit Triests eintraten. Er wurde 1916 nach Kämpfen von der österreichischen Armee gefangen. Zu seiner Hinrichtung reiste Josef Lang extra aus Wien an. Wie eine Aufnahme zeigt, waren in dem fast ausschließlich aus Soldaten bestehenden Publikum der Hinrichtung Battistis auffallend viele mit Fotokamera.
Die Leute können bekanntlich nichts dafür, wie sie aussehen. Aber sie können sehr wohl was dafür, wie sie blicken. Karl Kraus’ Beschäftigung mit dem österreichischen Antlitz ist keine physiognomische Studie, sondern die Untersuchung eines bestimmten Blicks. Dieser ist treuherzig, kindlich und zugleich abgeklärt-erwachsen. Wer ihm begegnet, darf mit gutem Recht annehmen, dass es „aus ist“, dass keine Gesuche, Einwände oder Verteidigungsreden mehr angehört werden. Josef Lang, der als Assistent des vor ihm wirkenden Wiener Scharfrichters begann, ließ sich selbst eines Tages von seinem eigenen Assistenten garottieren, um zu sehen, ob diese Hinrichtungsart angenehm oder qualvoll sei. Sein Urteil lautete hinterher: sehr angenehm. Denn im Moment, da ihm die Luft durch die enggedrehte Schlinge abgeschnitten wurde, hörte er „Orgelklänge und Gesang“. Auch soll sich ein Selbstmörder, den Lang vom Strick abgeschnitten hatte, hinterher bei ihm beklagt haben, ihm angenehme Visionen geraubt zu haben. Wie immer man zu solchen Behauptungen stehen mag, klar ist, dass Lang sein Henkershandwerk gern und mit herzlichem Interesse und Freude ausführte[1]. Er wusste auch um die enorme Faszination, die sein Beruf auf das Volk ausübte. In seinen 1920 erschienenen Memoiren lesen wir: „Es gibt eine große Menge Menschen – mehr, als man füglich meinen sollte –, die schon erotische Triebe erwachen fühlen, wenn sie Bilder betrachten, die Grausamkeiten darstellen, und die sich sexuell angeregt fühlen, wenn sie nur Schilderungen und Abbildungen von Justifikationen und grausamen Lustmorden vorgesetzt bekommen. Diese Leute versprechen sich gesteigerte Befriedigung vom tatsächlichen Anblick einer leibhaftigen Hinrichtung, und so war der Andrang von Leuten, die einem Justifikationsakt beiwohnen wollten, stets ein horrender.“ Für Karl Kraus war das Foto vom glänzend schnurrbärtigen Henker, der seinen Delinquenten am Garottierbrett wie eine feine Tuchware anzupreisen scheint, das „Gruppenbild des k.k. Menschentums“ bzw. „der Skalp der österreichischen Kultur“. Und ihn wunderten die sich so bereitwillig vor dem Auge einer Kamera darstellenden Schaulustigen und Soldaten, die so selbstverständlich lächelten. Sie ergaben einfach keinen Sinn, denn jeder musste doch wissen, dass dies durchaus vom Feind als Propaganda, als Beweis für die Unmenschlichkeit und Seelenkälte der Österreicher, gebraucht werden konnte. Etwas in den Schaulustigen musste stärker gewesen sein als jede vorausdenkende Vernunft.
Auch hier können wir vermuten, dass dieses Stärkere wohl das Medium selbst war. Die Fotografie war ja noch ganz neu, noch mysteriös und unverankert in der kollektiven Erfahrung der Bevölkerung Europas. Man wusste nur eines mit Sicherheit darüber: dass sie lächelnde Menschen hervorbrachte, immerzu und mühelos, wie durch Zauber. Also wusste man auf die Situation des Fotografiert-Werdens vielleicht nicht anders zu reagieren als mit einem Lächeln. Noch ahnte man ja nicht, was genau einem da entzogen oder abgesaugt wurde, wenn der Fotograf auf den Auslöser drückte und der Blitz erschien. Das „Gruppenbild des k.k. Menschentums“ ist also vielleicht, so zumindest sage ich es mir heute, viel weniger ein Beweis für Grausamkeit und Kälte, sondern eher ein Augenblick vollkommener Uneingeweihtheit in ein bestimmtes Medium, oder, noch anders formuliert, ein düsteres Kapitel aus der Autobiografie des Fotoapparats selbst.
Soweit zumindest mein Wunschdenken. Ich hatte es mir über längere Zeit in Bezug auf ein bestimmtes neues Phänomen zurechtgelegt, das ich zuerst an mir selbst und dann auch an einer Handvoll meiner Bekannten bemerkte. Wir alle, lauter erwachsene Männer um die vierzig, schauen jeden Tag wie besessen Drohnenvideos aus dem Krieg in der Ukraine. Wir haben sogar eigene passive Accounts auf X oder TikTok angelegt – zwei Plattformen, über die wir uns im alltäglichen Gespräch sonst eher abfällig äußern –, nur um diesen Irrsinn zu studieren. Wir schauen die Videos inzwischen mit einer gewissen kühlen Kennerschaft und empfinden bei ihnen längst nicht mehr dasselbe wie bei anderen grausamen Bildern. Keiner von uns würde sich freiwillig Folter- oder Hinrichtungsvideos anschauen, nein, aber bei den kurzen Videos von fliegenden Sprengsätzen mit eingebauter Kamera, die immerzu mit Soldaten kollidieren, schalten wir alle paar Stunden freiwillig ein, so wie andere das Wetter oder die neuesten Nachrichten kontrollieren.
Neulich verpasste ich im Bus sitzend meine Haltestelle, weil ich, wie so oft, unaufweckbar tief in das Studium der Drohnenvideos versunken war. Diese neue Gewohnheit gerät mir ein wenig außer Kontrolle in letzter Zeit, überall ertappe ich mich dabei, wie ich diese immer bloß wenige Sekunden langen Dokumentationen einer gespenstischen, vollkommen neuen Art zu sterben anklicke und durch mein Bewusstsein gehen lasse, meist heimlich, in mönchisch vorgebeugter Haltung in Bussen und Straßenbahnen, aber auch beim Spazierengehen im Freien oder abends im Bett – zwar niemals, natürlich, auf Kinderspielplätzen oder an ähnlichen Orten, aber selbst dort denke ich oft an sie, nage innerlich an ihnen herum, an ihrem grellen, unverdaubaren Rätsel. Ich verpasse ihretwegen nicht nur Haltestellen, sondern manchmal auch an mich gerichtete Worte zuhause, oder ich lege ein spannendes Buch beiseite, nur um schnell einen weiteren Clip anzuschauen. Es ist schwer zu erklären, schwer zu entschuldigen, aber ich teile diese bizarre Sucht bestimmt nicht nur mit vier oder fünf meiner (männlichen) Bekannten, sondern mit Hunderttausenden anderen Menschen. Suchen muss man uns nicht, denn die Videos sind ja auch überall, auf Hunderten Accounts. Wir, die Zuschauer, sehen dabei alles aus der Sicht der Drohne selbst. Sie filmt alles aus ihrer Perspektive, bis kurz vor der Detonation, wenn das Bild auf weißes Rauschen schaltet.
Erst nach etwa einem Jahr oder so fiel mir zum ersten Mal auf, dass ich diese Videos nicht mehr mit Ekel oder Entsetzen anschaute, sondern in einem Zustand angeregter Grübelei. Als würde man mir komplizierte Gleichungen zur Lösung vorlegen. Ich kenne natürlich das Phänomen der Abstumpfung, aber hier scheint es eine besonders merkwürdige Spielart zu sein, da mein inneres Beteiligtsein sich über die Zeit stetig steigert, allerdings auf einer immer abstrakter werdenden Ebene. Dabei verschafft eine rein verbale Nacherzählung des Inhalts eines Drohnenvideos sehr wohl noch die übliche emotionale Reaktion: Abscheu und Mitleid. Zwei auf dem Rücken liegende Soldaten bitten um Verschonung, indem sie vor den sie anfliegenden Drohnen irgendwelche Gebärden (etwa „Husch-Husch„-Verscheuchgesten oder ein zeigefingerwedelndes „Nein, bitte nicht“) versuchen, woraufhin ihnen der fliegende Sprengsatz am Ende doch in den Bauch oder ins Gesicht rast. Oder verletzte Soldaten, die versuchen, mit Maschinengewehren Selbstmord zu verüben, aber daran scheitern, weil ihnen die Drohnen zuvorkommen. Ein offenbar nur noch aus Oberkörper bestehender Mann schleppt sich in ein Gebüsch, wo ihn eine weitere Drohne erwischt, und kurz bevor er getroffen wird, winkt er „uns“ noch zu. Ein verletzter, nach einem Angriff schwer desorientierter russischer Soldat tastet über eine halbe Minute lang auf seinem auf ihn selbst gerichteten Gewehr herum, auf der Suche nach dem Abzug, und endlich schafft er es, sich in den Kopf zu schießen, und da zoomt die Drohne heraus und „verbeugt“ sich, vor ihm, vor uns, durch ein entsprechendes Flugmanöver. Alle diese Clips (zumindest die auf Social-Media-Kanälen) werden untermalt von Liedern im Stil von The Prodigy oder Rammstein, rhythmisch geschnitten und nachbearbeitet, mit eingeblendetem Logo und End Credits, aber die meisten, glaube ich, schauen, so wie ich, diese Videos immer ohne Sound. Ein Mann flieht vor einer ihn umschwirrenden Drohne, also „vor uns“, und stolpert dabei. Er blickt zu uns zurück und wirft nach uns mit Steinen und mit Stöcken, aber die Drohne nähert sich ihm, in immer enger werdenden Kreisen. Schließlich gibt der erschöpfte Mann auf, stellt sich kerzengerade hin und – führt eine zu einer Pistole geformte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger an seine eigene Schläfe und „drückt ab“. Sein Mund imitiert dabei gut erkennbar den Knall der Pistole. Er deutet noch irgendeine andere Pantomime an, aber da rast die Drohne bereits in ihn: weißes Rauschen. – Ein anderer Soldat läuft ebenfalls vor einer Drohne davon, wirft im Gehen seinen Rucksack ab, scheint aber diese Entscheidung schon nach wenigen Schritten zu bereuen und kehrt um, um den Rucksack zu holen – vielleicht befand sich darin seine Waffe, die er noch gebrauchen will, um sich zu verteidigen? –, aber da rasen wir auf ihn zu, und er begreift in einer einzigen Sekunde, dass er den Rucksack nicht mehr rechtzeitig erreichen wird, und macht eine ironisch wirkende Violinspielgeste, auf freiem Feld. Dem folgt sein Tod, das weiße Rauschen, und ich sitze vollkommen verwirrt da, ein Idiot vor einem Geheimnis. – In einem Acker liegt ein Soldat schwerstverletzt, aber noch lebend auf dem Rücken und winkt lange spöttisch hoch zu der mit seinen letzten Augenblicken befassten Drohne. Ein anderer, ähnlich schwer Verletzter zeigt uns mit zornig verzerrtem Gesicht beide Mittelfinger. Ein dritter Soldat wird vom Schrapnell einer neben ihm detonierenden Drohne erfasst und umgeworfen, aber als er zur Seite und auf den Rücken rollt, zoomt die zweite über ihm kreisende Drohne ganz nahe an sein Gesicht. Da blickt er zu uns und schneidet Gesichter, zeigt uns die Zunge, macht „Bababababa“, zwinkert übertrieben mit den Augen. Ein vierter Soldat steht im Fenster eines bereits völlig zerstörten Hauses, wir fliegen näher, und er, wie so viele seiner Kameraden, winkt uns zu, aber dann, kurz vor der Explosion, macht er eine Fotografier-Pantomime: beide Hände kastenförmig vorm Gesicht und ein Zeigefinger drückt den unsichtbaren Auslöser.
Es müssen wohl in erster Linie diese letzten ultrakurzen Schauspielszenen sein, die uns, die Männer im Bus mit den Smartphones, so gefangen nehmen und an diese Videos fesseln. Wir betrachten sie nicht mehr als Beweise für das zwei Länder von uns entfernt waltende Entsetzen, sondern eher mit der quälenden Gewissheit, dass wir sie einfach nicht verstehen. Ja, was bei der rein verbalen Nacherzählung der Filmbilder verloren geht, ist genau dieses Gefühl: etwas zu sehen, das man noch nicht begreifen kann, wie eine Mitteilung in einer Sprache aus der Zukunft.
Am 9. September 2024 zeigte ein Account auf X („Albina Fella“) einen Clip von einem Soldaten, der zuerst lange humpelnd vor einer Drohne flüchtete und zwischendurch, wenn sie ihm ganz nahe kam, eine Time-out-Geste mit der Hand machte, aber dann – ein Wunder – die Drohne einfach so aus der Luft pflückte, stehen blieb und sie dann, augenscheinlich beruhigt, in langsamem Schritt mit sich davontrug. Es dauerte ewig lange, fast fünfzehn Sekunden, bis die Drohne explodierte und ihn in Stücke riss. Ein normaler Betrachter würde vermutlich die grausame Ironie des ganzen Vorgangs beklagen, den tödlichen Irrtum dieses Mannes. Aber in uns anderen, die wir diese Videos schon viel zu lange studieren, öffnen sich ungeheure Räume der Interpretation. Wir können einen ganzen Abend darüber diskutieren. Für uns liegt etwas äußerst Rätselhaftes, stark Zukunftsweisendes in dem vertrauensvoll ruhigen Weitergehen des Mannes, kurz nach diesem wundersamen Aus-der-Luft-Pflücken. Unsere, oder zumindest meine, angeregte Träumerei angesichts einer solchen Sequenz ist auf jeden Fall nichts Gutes oder Gesundes, aber stellt vielleicht eine Entwicklung des gegenwärtigen Bewusstseins dar, von dem es sich zumindest ausführlich zu erzählen lohnt und in das man, bevor es irgendwann gnädigerweise wieder erlischt, ein wenig Struktur und gedankliche Ordnung zu bringen versuchen muss.
1) Die Perspektive. Wir sehen die Tötungen aus der Sicht der Drohne. Wir selbst fliegen auf die Soldaten zu, und wir selbst verschwinden sozusagen, lösen uns auf, wenn es zum Treffer kommt. Dabei fällt auf, wie unwahrscheinlich schnell man sich an diese mediale Perspektive gewöhnt, ja, man findet sie selbst am Anfang keineswegs anstößig oder übertrieben, man verschmilzt sofort mit ihr, als verfügte man bereits über jahrelange Vorübung. Allerdings will mir nichts einfallen, was im Alltag der letzten zehn oder zwanzig Jahre, abgesehen von archetypischen Flug- und Geschwindigkeitsträumen, diese Rolle übernommen haben könnte.
2) Die Soldaten werden in der letzten Sekunde der Aufnahme zu unfreiwilligen Akteuren in einem bizarren Videokunstuniversum. Bevor sie getroffen werden, bleibt ihnen, wie es scheint, nur eine bestimmte Art von paroxysmaler gestischer Flucht ins Slapstickhafte, Pantomimische, Sarkastische, in eine „Fuck you!“ fauchende Widerständigkeit. Außerdem wissen sie sich gefilmt (und, projiziert in die Zukunft, auch gepostet, also öffentlich von einer größeren Anzahl Zuschauern begutachtet), was eine neue Art von Demütigung darstellen könnte, ein immer sofort vor ein breites Publikum gerissener Tod, der nichts mehr von der Privatheit übrig lässt, die Kriegstode üblicherweise zu besitzen scheinen.
3) Da die Soldaten wissen, dass sie gefilmt werden, existiert, neben der primären physischen Bedrohung durch die Drohne, auch eine Dimension der physischen Anwesenheit eines Publikums direkt bei ihnen. Wir, die ja bloß durch eine dünne Zeitmembran weniger Stunden von dem tatsächlichen Ereignis getrennt sind, verfolgen also beinahe buchstäblich, auf jeden Fall aber mehr als rein symbolisch, die Tötung auf freiem Feld. Das heißt, nicht ganz, wir sind ja nicht einmal die Einzigen, sondern teilen uns die geisterhafte Anwesenheit mit einer leicht übersehenen Instanz: den Fernlenkern der Drohnen, also den entsprechend ausgebildeten Soldaten vor Bildschirmen. Ihnen gelten ja zunächst alle Gesten, von „Fuck you“ bis „Bitte verschone mich“.
Im Gespräch mit einem guten Freund, den erleichternderweise genau dieselbe ungesunde Faszination für Drohnenvideos umtreibt, bekannte dieser, er müsse immer an alte Flugsimulatoren aus den Neunzigern denken, solche aus seiner Kindheit, die aufgrund mangelhaften Spieldesigns nicht spannend genug waren und bei denen er deshalb ständig nur versucht habe, in alle möglichen Oberflächen und Objekte zu rasen, also sozusagen Selbstmord zu begehen. Das brachte mir eine allgemeine Erinnerung an die Darstellungen des Sterbens in den Computerspielen meiner Jugend. Speicherplatz war damals noch kostbar, also gab es keinen Raum für ausführliche, vielgestaltige, individuelle Tode. Jeder Figur wurde für ihr Sterben immer nur eine einzige charakteristische Geste zugeteilt, und nur diese durfte sie ausführen. Als Vierzehnjähriger verbrachte ich die meiste Zeit meines Wachzustandes in Spielen wie Doom und Wolfenstein 3D. Gerade letzteres hielt mich lange gefangen, da es den Reiz des Verbotenen besaß: Das ganze Spiel war voller hakenkreuztragender Nazis, auf die man schießen musste. Wenn man diese Gegner traf, fielen sie um, in einem immer gleichen Bewegungsablauf, und schrien dabei „deutsche“ Sätze, das heißt, man verstand sie kaum, da sie von Amerikanern mit eingesprochen worden waren, die gar kein Deutsch konnten. Die einfachen Soldaten schrien „Mein Leben!“ („mine layben!“) und fielen auf den Rücken. Eine andere Kategorie von Gegnern rief etwas, das wie „Mein Bussard“ klang und als „meine Buße“ („my repentance“) gedacht war. Diese extrem verfremdeten deutschen Sätze zeigten uns österreichischen Jugendlichen, dass das, was wir ganz normal im Alltag sprachen, von anderen Nationen selbst heute noch als außerordentlich groteskes Dämonen-Idiom gehört wurde, es klang für sie offenbar cartoonhaft und bedrohlich zugleich. Der Endgegner des Spiels, ein Roboter-Hitler, schreit im Tod: „Eva auf Wiedersehn.“ Wenn man von einfachen Soldaten entdeckt wird, rufen sie „Kein Durchgang“, das allerdings wie „Kein Deutschland“ („Dörtsch-ahng“) klingt. Diese irrdeutschen Sätze beschäftigten mich lange. Ich schrieb sie mir alle auf und verglich und besprach sie, wenn ich einmal aus meinem Computerzimmer hinaus in den hellen Tag trat, mit anderen Wolfenstein-3D-Spielern. Wir wiederholten sie, begrüßten uns sogar mit ihnen. Sie erschienen uns endlos ausdeutbar, wie Nachrichten aus der Zukunft, und sie wirkten, zumindest nach einer Weile, extrem beleidigend auf uns. Wir fühlten uns vom Spiel bevormundet, weil wir unsere Gegner immer nur dasselbe Wort schreien, dieselbe Geste ausführen lassen konnten. Keiner der Gegner in Wolf3D durfte je ohne schrille Selbstparodie sterben. Und nicht einmal die größte Speedrun- oder Cheat-Virtuosität eines Spielers konnte an diesem Gesetz auch nur das geringste ändern.
Man sagt, dass der Krieg alle Dinge in Fremdes, alle Landschaften in Sperrzonen verwandelt. Sartre beschreibt diesen Effekt sehr anschaulich in seinen Kriegstagebüchern: „Der Sinn der Dinge ist verändert. Eine Herberge steht nach wie vor an ihrem Platz, sie ist immer noch herausgeputzt und wirkt empfangsfreudig, doch sie empfängt ins Leere, das heißt, diese Möglichkeit zerstört sich von selbst und wird absurd. Das schmucke Zimmer, das den Reisenden entzücken soll, dient den Soldaten, die es besetzen, nur noch als Quartier. So wird, lange bevor die Bombe den vom Menschen hergestellten Gegenstand zerstört, der menschliche Sinn des Gegenstandes zerstört. [...] Fünfzig Meter von der Straße befand sich ein Eichenwald auf rotem Felsen. Wir lagen am Straßenrand, erdrückt von unseren Gewehren, Gepäckstücken, Umhängen, wie Maikäfer auf dem Rücken. Ich wollte – nein, nicht in diesen Wald gehen, aber denken, daß ich in ihn gehen könnte. Es war jedoch unmöglich, es auch nur zu denken. Es lag nicht in meinen Möglichkeiten. Fünfzig Meter genügen, um einen Ort außer Reichweite zu setzen. Er wird dann reine Staffage.“
Die mitfilmenden Kamikaze-Drohnen aber scheinen etwas von diesem alten Gesetz umzukehren, denn sie generieren keine vollkommen tote, vom Menschen abgewandte Staffage-Welt mehr, sondern eine überbelichtete und absurd gut besuchte Theaterbühne, auf der selbst das ganz Zufällige, Nebensächliche seine eigene schrillkomödiantische Rolle zugedacht bekommt: Stöcke, Steine, Schuhe, Helme, Erdlöcher, Autoreifen. Selbst dichtes Gestrüpp, Unterstände in Hausruinen und verwilderte Tunneleingänge erscheinen auf einmal unerhört offen und ausgeleuchtet, rampenhaft und podestartig, mit deutlich spürbarer ‚vierter Wand‘. Fischerleute nahe der ukrainischen Stadt Cherson warfen, wie man in einem berühmt gewordenen Clip sehen kann, von ihrem Boot aus mit ihren Fischen nach einer russischen Aufklärungsdrohne. Die Fische treffen die Linse frontal und die Drohne taumelt in der Luft zur Seite, und ich sitze vollkommen elektrisiert vor der Sequenz, ähnlich wie vor dem Clip eines russischen Soldaten, der versucht, eine ihn verfolgende Drohne mit etwas, das haargenau wie ein zusammengefalteter Regenschirm aussieht, abzuwehren. Dieses Video schaute ich mir mehrmals an, bis mir meine Regenschirm-Deutung absurd vorkam. Was für einen Sinn hätte denn ein Regenschirm in der Ausrüstung eines Soldaten? (Selbst die Kommentarspalten erwähnten nirgends das Wort ‚зонт‘.) Nein, ich musste mich irren. Es wirkte viel zu „erfunden“, zu fiktiv: ein kleiner schnurgerader, zusammengebundener Regenschirm zur Abwehr des Todes. Bestimmt war es bloß ein Teil von einem Gewehr oder, wer weiß, irgendeine Art von Krücke oder Gehstock. Aber warum hatte ich ausgerechnet einen Regenschirm sehen wollen? Woher kam das? In der Welt des erzwungenen Slapsticks beginnt vielleicht nicht nur der von der Drohne verfolgte Mensch selbst, zitierte und sarkastisch gemeinte Gesten zu produzieren, sondern auch der halluzinierende Verstand des Zuschauers.
Ein am 2. März 2024 auf einem TikTok-Kanal namens „W A R“ veröffentlichter Clip mit dem Titel „play with drone :) “ zeigt einen geradezu meisterhaft geflogenen Angriff einer Videodrohne: Das Kameraauge schwebt auf einen während der Flucht stürzenden Soldaten zu, gerade so, dass sie zwischen seinen noch zum Schutz erhobenen Armen hindurchschlüpft, schon ist sie – die Veröffentlicher des Videos zeigen diese letzte Sekunde bereits in extremer Zeitlupe – zwischen seiner Brust und den erhobenen Händen, und da bleibt das Bild für einen Augenblick stehen, um uns zu zeigen, was sich da auf dem Ärmel des todgeweihten Soldaten befindet. Eine Comicfigur? Klein, gremlinartig. Ist das Tscheburaschka? Doch, ja, es sieht genauso aus wie dieses in Russland äußerst populäre, bärenartige Zeichentricktier mit den übergroßen runden Ohren. Aber kann das wirklich sein? Hatte sich dieser inzwischen längst nicht mehr befragbare Mann einen Tscheburaschka auf den Ärmel seiner Uniform nähen lassen? Meine russischsprechenden Bekannten wussten dazu nicht viel zu sagen. Aber dann fand ich im Internet tatsächlich einige „cheburashka russian military morale patches“. Es ist offenbar ganz normal, ganz alltäglich, sich als Soldat ein ironisch oder nostalgisch gemeintes Abzeichen anzunähen, und mir war dieser Brauch bloß deshalb unbekannt, weil ich nie selbst in einem Krieg mitkämpfen musste. (Selbst ein hochrangiger ukrainischer General zeigte vor zwei Jahren, wie das Internet unter begeistertem Gejohle festhielt, einen Baby-Yoda-Aufnäher auf seiner Uniform.) Das in einem letzten Standbild im Kameraauge der Drohne riesenhaft vorgewölbte Zeichentricktier bekam ich lange nicht aus dem Kopf. Die Bearbeiter des Videos hatten es auch extra hervorgehoben für diese von ihnen geschaffene ‚Bühne der letzten Sekunde‘, auf der sich vielleicht mehr und mehr abspielen wird, je weiter wir in die Zukunft drängen. Das Tscheburaschka-Standbild versichert uns, dass an den Rändern unseres Lebens nichts als entsetzlich cartoonhafte, zitierte, imitierte Momente auf uns warten, unfreiwillige Verwandlungen in Fiktion. Ihre Stimmlage ist wie die des Sprechers jenes erschütternden Satzes in Georges Bernanos’ Tagebuch eines Landpfarrers, wo über jemanden behauptet wird: „Er starb, in völliger Unkenntnis der eigenen Würde.“
An dieser Stelle werden manche vielleicht mit dem Namen Artaud angetrottet kommen, mit seinem doofen „Theater der Grausamkeit“, dieser von der Vorsehung ständig als Bauplan unserer Welt missverstandenen Spielanleitung für moderne Schauspielformen. Artaud sah in der Pest das große Vorbild für ein (aus seiner damaligen Sicht) neues Theater, vor allem den während einer Seuche auftretenden Wegfall aller Verhaltensregeln. Manche halten Artauds Einsichten für einleuchtend, andere langweilen sich fürchterlich; ich gehöre eher zu Letzteren. Aber mir fällt ein anderer Mensch ein, dessen Gedanken mir für dieses von mir seit Monaten mehr oder weniger plan- und ratlos angestaunte Mysterium der Verwandlung-durch-Drohne augenöffnend und wegweisend erscheinen. Vilém Flusser, ein heute schon etwas vergessener Philosoph, wies in seinen Aufsätzen immer wieder auf den seltsamen Umstand hin, dass aus allen möglichen Dingen, die uns eindeutig wie Erzeugnisse oder Äußerungen von Menschen vorkommen, doch ganz andere, oft ganz menschenferne Instanzen sprechen. Eine Schreibmaschine klappert laut, wenn man auf ihr schreibt. Muss sie das denn? Gefällt das Geräusch den Kunden so sehr und es wird deshalb absichtlich in die Apparatur eingebaut? Keineswegs. Sie tut es, so Flusser, aus Gründen, die überhaupt nichts mit dem Erdenken oder Erträumen eines idealen Produktdesigns für Schreibinstrumente zu tun haben. Sie klappern, weil dann das, was auf der Schreibmaschine geschrieben wird, auffällig viel von dem mürrischen, harten Geknatter selbst enthält, die Bürohierarchien und undenkbaren Jobalternativen, das unmodulierte Gespräch, den Maschinenlärm des urbanen Alltags. Die Schreibmaschinen produzieren nicht primär Texte, sondern Schreibmaschinenschreibende: Menschen, die klappern. („Wie sehr wir die Autos selbst geworden sind, in denen wir sitzen, sieht man an den Gesichtern“, stellte Werner Herzog auf einem Fußmarsch von München nach Paris im Winter 1974 fest.) Oder sehen wir uns, mit Flusser, die Situation eines Fotoporträts an[2]: Ein Mann sitzt pfeiferauchend auf einem Stuhl, vor ihm ein Fotograf mit Kamera. Beide verhalten sich, obwohl sie vordergründig ganz gewöhnliche Bewegungen ausführen, eigentlich höchst ungewöhnlich, in fast halluzinierender Entrücktheit zu den physischen Realitäten ihrer Zusammenkunft. Sie schweigen unnatürlich viel, der Mann mit der Pfeife raucht nicht um des Pfeiferauchens willen, der Fotograf studiert im Objektiv eine winzig kleine Version der von ihm selbst erlebten Szene, eine briefmarkengroße Live-Übertragung, einen kontinuierlichen Strom aus Vorschlägen für ein späteres Bild, für eine in der Zukunft liegende Entscheidung. Beide verhalten sich also so, als wäre ein dritter, mit der größten Macht über die Szene versehener Mensch anwesend: der spätere Betrachter des Bildes. Dieser aber existiert während ihres Aufenthalts im selben Raum gar nicht, oder allerhöchstens als Verheißung oder Gerücht, und doch ordnen sie ihm alle ihre Bewegungen unter, dem Beurteiler eines von ihnen entweder erreichten oder verfehlten Grades an pantomimisch glaubhaft nachgespielter Fotografieartigkeit. – Tatsächlich bemerke ich bei Videos von extrem präzise geflogenen Drohnenangriffen, die etwa direkt in die Luke eines Panzers oder in schmale Tunnel, wo sich Soldaten versteckt halten, zu tauchen versuchen, wie zuerst etwas von den in meinem Zimmer abwesenden Fernsteuerern auf mich überspringt (und ich mit den Schultern und meinem Kopf mitzusteuern anfange) und erst dann die Präsenz des Publikums, des großen Wir, spürbar wird, ein Zurücklehnen wie im Kino, das Bewusstsein einer gleichzeitig mit anderen gemachten Erfahrung. – Eine Fotokamera hat also, laut Flusser, viel mehr mit einer Art von Live-Telefonverbindung zu einem abwesenden, aber mit gestalterischen Befugnissen ausgestatteten Menschen gemeinsam als etwa mit der Leinwand und den bereitliegenden Farben und Pinseln einer Malerin.
Am 9. Mai 2023 werden drei russische Soldaten, die unter dem Kommando der Wagner-Gruppe stehen, bei Gefechten in Bachmut von Drohnen attackiert. Über Stunden lassen die Drohnen Granaten auf die Männer niederregnen. Zwei werden schwer verletzt und begehen Selbstmord, einer mit einer Granate, ein anderer mit dem Gewehr. Am Ende ist nur noch einer übrig, ein Mann namens Ruslan Anitin. Als ihm klar wird, dass seine Lage vollkommen aussichtslos ist, verbirgt er sich nicht mehr, sondern steht aufrecht da und signalisiert durch seine Körperhaltung etwas, das im Bilduniversum der Droh-nenvideos normalerweise nur in extrem verknappter, krampfhafter Form existiert: den Wunsch nach Kommunikation; ein durch den ganzen Körper ausgedrücktes „Ich möchte bitte etwas sagen“. Verblüffenderweise geht die Drohne darauf ein, schwebt näher, um sich anzuhören, was er sagen will. Seine erste Geste ist eine Art „Stopp“-Geste: zwei zu einem X geformte Arme. Man möge bitte kurz aufhören, Granaten auf ihn zu werfen. Er wolle sich lieber ergeben. Er steht da, erschöpft und vermutlich auch unter Schock, gefilmt in glasklarer 4K-Qualität, in einem Schützengraben. Links und rechts die etwa schulterhohen Wände des Grabens. Wir schweben nun direkt vor ihm. Er weiß, dass die Fernsteuerer ihn sehen können. Und da macht er – etwas vollkommen Neues. Er schlägt durch Gesten ein gemeinsames Zeichensystem vor. Die Drohne verfügt über ein Lichtsignal: ein Mal Blinken bedeutet Ja, zwei Mal Nein. Anitin führt diesen Vorschlag pantomimisch vor: einen Finger hochgehalten, dann eine „Blink“-Geste (eine rasch geöffnete Faust) und ein Nicken mit dem Kopf. Dann noch das entsprechende Zeichen für „Nein“. Anschließend erzählt er, in einer knappen Gestenfolge, dass er bittet oder zumindest hofft, nicht erschossen zu werden, falls er sich ergibt.
Unterschrieben wird diese Sequenz von einer Art Händeschütteln mit sich selbst; es gleicht der in vielen Gebärdensprachen gebräuchlichen Geste für „Freund“. Die Fernsteuerer der Drohne akzeptieren seinen Vorschlag. Aber bleiben wir noch kurz bei diesem Augenblick, als Anitin das Ja-/Nein-System zu etablieren versucht. Er ist, gerade weil die beiden Kampfparteien ja an sich über eine gemeinsame verbale Sprache verfügen würden, besonders erschütternd. Ganz anders als etwa in den militärischen Manövern der USA im Irak oder in Afghanistan, stehen hier einander nicht Leute gegenüber, die, in Ermangelung mehrsprachiger Übersetzer, von vornherein bloß Gesten und Pantomimen zur Verfügung hätten, nein, Ukrainer und Russen sprechen, abhängig vom Gebiet, entweder dieselbe (russische) oder zumindest zwei eng verwandte Sprachen und könnten problemlos ein einfaches Gespräch führen, wäre da nicht dieses ungeheure neue Medium zwischen ihnen, das nur Bilder zulässt und keinerlei Schall überträgt (der Schall kommt erst später hinzu, in der Form moderner Marschmusik). Wie groß dieser Schritt ist, übersieht man auch deshalb leicht, weil er sofort gelingt, nach stundenlanger Zermürbung durch fliegende Granaten, unter freiem Himmel, schon beim ersten Versuch. Um die ungeheure Leistung beider Seiten zu erkennen, kann man sich vergleichbare Wunder aus der dokumentierten Vergangenheit ins Gedächtnis rufen, etwa den Fall des Journalisten Mohamed Barud, der in Somalia zu lebenslanger Einzelhaft verurteilt wurde, weil er einen Beschwerdebrief über die Zustände in einem Krankenhaus verfasst hatte. Im Gefängnis hörte er ein regelmäßiges Klopfen gegen die Mauer. Es dauerte lange, bis Mohamed begriff, dass damit eine Art von Buchstabiervorschrift gemeint sein könnte. In mühevollster Kleinstarbeit erlernte er so ein Alphabet der Klopfzeichen, weitgehend ohne begleitende Belehrung, welches Klopfzeichen nun für welchen Buchstaben stehen mochte. Alles musste man von Grund auf neu erschaffen, aus dem Nichts. Als dies geschafft war, geschah das Wunder: Sein Zellennachbar begann, ihm den Roman Anna Karenina vorzulesen, von dem er zufällig ein geheimgehaltenes Exemplar besaß. Buchstabe für Buchstabe schickte er das umfangreiche Werk an Barud. Der Zellennachbar, ein aus ähnlich absurden Gründen inhaftierter Arzt, musste jeden Tag seine Hand mit Stoff umwickeln, um sich an den Millionen geklopfter Buchstaben des Romans nicht die Fingerknöchel zu zerstören. So überstand Barud die Jahre der Einzelhaft, aus der er schließlich befreit wurde, mit halbwegs intakter Seele. – Auch fallen mir, wann immer ich an das von Anitin vorgeschlagene Blinksystem denke, die Berichte meiner Mutter ein, die in den letzten Jahren vor ihrer Pensionierung als Stationsärztin auf der Wachkoma-Station der Albert-Schweitzer-Klinik in Graz arbeitete. Hin und wieder, leider gar nicht so selten, sei es da vorgekommen, erzählt sie, dass ein zuerst für „apallisch“, also hirntot gehaltener Mensch doch bei Bewusstsein gewesen sei, mitunter schon seit längerer Zeit, aber eben unbemerkt, „locked-in“, ohne physische Möglichkeit der Kommunikation. Irgendwann sei einem Angehörigen oder einer Pflegekraft vielleicht eine ungewöhnliche Regelmäßigkeit in den Augenbewegungen des Patienten aufgefallen oder ein gewisses Blinzelmuster habe sich mehrmals präzise wiederholt, irgendetwas in dieser Art, und erst da habe man sich daranmachen können, ein gemeinsames System für Ja/Nein und, im Anschluss daran, auch eine Buchstabierkonvention zu erarbeiten.[3] – Was übrigens auch im Fall von Ruslan Anitin geschah: Auf das Ja und Nein folgte die Schrift. Die viele Kilometer entfernt sitzenden Fernsteuerer schrieben auf einen Zettel eine Aufforderung in russischer Sprache: „Für Ergeben folge der Drohne“, und ließen eine Drohne den Zettel über ihm abwerfen. Anitin las ihn und fragte noch einmal pantomimisch nach: Ich – Kehle durchschneiden – Kopfschütteln. „Ich werde nicht getötet?“ Und die Drohne antwortet mit „Nein“, indem sie – den Kopf schüttelt. Vielleicht hatte der Fernsteuerer das eben vereinbarte Blink-System in der Aufregung schon wieder vergessen oder es gab irgendeinen technischen Grund, dass es nicht verwendet wurde, wer weiß, jedenfalls ist dieses improvisierte Kopfschütteln ebenfalls auf dem Video festgehalten: Das Bild Anitins schwenkt außer Sicht, nach links, dann nach rechts, aber wir fliegen nicht parallel nach links oder rechts, sondern rotieren tatsächlich, genau wie es ein menschlicher Kopf auf seiner Wirbelsäulenachse täte. Anitin geht also los, folgt der Drohne über eine Stunde lang, wird von eigener Seite beschossen, klettert immer wieder über tote Kameraden und bleibt zwischendurch stehen, um Zigaretten und Trinkwasser an sich zu nehmen. Einmal, auf ungeschützt freiem Gelände, fragt er durch eine Geste, ob er wohl in die richtige Richtung läuft. Die Drohne nickt: Flug nach oben, Flug nach unten, dann noch einmal: nach oben, nach unten.
So überlebte der Mann. Und alle Schlagzeilen schrieben, in schlafwandlerischer Korrektheit: „russian soldier surrendered to a drone“ und „soldier pleaded with a drone for his life“, als hätte das fliegende Bühnenmedium allein alle Entscheidungen getroffen (so wie es ja auch eher Schlagzeilen selbst waren, die hier formulierten, und weniger die Menschen dahinter). Die spontane Erschaffung einer Art von Übereinkunft aus der größtmöglichen Distanz heraus, nicht nur aus einem Zustand tödlicher Verfeindung, sondern auch aus jener Entfernung heraus, die die Drohnen selbst in die Welt zaubern, die lückenlose Überpinselung einer ganzen Landschaft durch ihr eigenes, ständig mitfliegendes Weltbild, ja, ein sogar mit dem ganzen Körper gelingendes Auftauchen aus der totalen Locked-in-Entrücktheit dieser neuen Bühnenverhältnisse, in denen jedem Menschen normalerweise bloß eine Handvoll cartoonhafter Bewegungen und ein vollbesuchtes Geisterkino späterer Betrachter zugestanden werden, erscheint uns eigentlich undenkbar, unmöglich. Bis es plötzlich gefilmt und veröffentlicht wird.
Die auf und ab fliegende und dadurch nickende Drohne ist eines der Ereignisse unseres jungen Jahrhunderts, eines, das man vielleicht sogar in der Schule wird durchnehmen müssen, um die kommenden Generationen nicht vollkommen chancenlos in die Zukunft tapsen zu lassen. Ruslan Anitin befindet sich bis heute in Kriegsgefangenschaft in der Ukraine und wartet auf die Möglichkeit eines Gefangenenaustauschs. In dem einzigen ausführlichen Interview, das er gegeben hat, drückt er seinen Wunsch aus, nach Russland zurückzukehren, wo ihn als Deserteur das Gefängnis erwartet. Er hat eine Frau und eine inzwischen fünfjährige Tochter. Vor seiner Einberufung zum Militär arbeitete er als Gefängnisaufseher in der Strafkolonie Nr.3 nahe seiner Heimatstadt Idriza.
[1] Selbst die wenigen bekannten Selbstmorde von Henkern, die historisch dokumentiert sind, geschahen immer nur aus Gründen, die offenkundig nichts mit schlechtem Gewissen zu tun haben. Lorenz Schwietz, der von 1900 bis 1914 als Königlich Preußischer Scharfrichter auftrat, erschoss sich erst lange nach der Niederlegung seines Amtes aufgrund von Verarmung. Die Breslauer Zeitung Die freie Meinung schreibt über seinen Fall: „Er trat, ein Zeichen der Zeit, mit seinem Henkersbeil in Schaubuden auf, um einige Krumen Brot mehr essen zu können, gleichsam einer derer aus der Art Hinkemann, ein Kastrierter, den Toller schildert als einen, der in einer Schaubude aus Not lebenden Ratten die Köpfe abbeißt.“ Interessanterweise brachte sich auch Schwietz’ Nachfolger, Paul Spaethe, mit dem Revolver um, in seinem Fall aus Trauer über den Tod seiner Frau. Nach seinem Tod schrieb die Breslauer Zeitung: „Welch wunderbare Poesie, man spürt aus Blut Rosen wachsen, das Volk bekreuzigt sich und fühlt eine Gänsehaut.“ Auch John Hulbert, der u.a. als Executioner im New Yorker Gefängnis Sing Sing tätig war, erschoss sich 1929, nachdem seine Frau gestorben war.
[2] Ausführlich beschrieben in seinem Sammelband Gestures.
[3] Eine besonders eindrückliche Anekdote, die mir bis heute stachelig und unverdaulich in der Erinnerung liegt, handelte von einem jungen Mann, der nach einem Stammhirninfarkt nur noch blinzeln konnte. Man einigte sich mit ihm auf das bewährte System: Ein Mal – Ja, zwei Mal – Nein. Eine der wichtigsten Fragen, die man einem Locked-in-Patienten stellen muss, ist die nach seinen Wünschen für Situationen, in denen er selbst durch das System nicht antworten kann. Also fragte man ihn, im Beisein seiner Mutter (die die meisten Pflegearbeiten ausführte), ob er im Falle einer lebensgefährlichen Verschlechterung seines Zustandes künstlich am Leben erhalten werden wolle. Der junge Mann blinzelte langsam zwei Mal. „Zwei Mal Ja“, übersetzte die Mutter.