Bernhard Strobel
Das Fernglas
Eines Tages, es ist noch nicht lange her, fragte er mich nach dem Fernglas. Er saß
auf dem Balkon und rief: „Wo ist das Fernglas!“ Ich brachte es ihm. Ich hielt mich gerade im Haus auf, und weil ich wusste, wo er das Fernglas verstaut hatte, holte ich es
ihm. Aber irgendwas stimmte nicht mit dem Ding, er sah wohl nicht gut damit, dachte
ich mir, vielleicht, weil es so alt war und dreckig, es musste mindestens zehn Jahre
unbenutzt im Schrank verbracht haben, ohne das Tageslicht erblickt zu haben, es lag
ganz hinten, hinter den Jagdhosen und anderem Zeug. Ich brachte es ihm also, und
er drückte es sich sofort an die Augen. Ich ging wieder, aber wie gesagt, irgendwas
war verkehrt, ich hörte ihn seufzen und murren, und dann war die Sache für diesmal
erledigt.
Am nächsten Tag wiederholte es sich. Es war später Vormittag, und er saß auf dem
Balkon. Ich sah ihn vom Garten aus, er hatte die Arme auf die Brüstung gestützt und
schaute durchs Fernglas. Ich wusste nicht, wie lange er schon so saß, bestimmt nicht
sehr lang, sonst hätte ich ihn, vermutlich, gesehen. Und auch sein Ärger wiederholte
sich: Ich sah ihn den Kopf schütteln und verwundert das Fernglas von den Augen
nehmen, dann seufzte und murrte er wieder und fluchte sogar.
Seit längerer Zeit trank er seinen Vormittagskaffee fast immer auf dem Balkon. Mit
seiner großen Tasse, der Tageszeitung und dem Rätselheft saß er in dem einzigen
Stuhl, einem alten, spröde gewordenen Rattanstuhl, der neben einem kleinen Beistelltisch stand. Ich selber hielt mich nur noch selten auf dem Balkon auf. Früher hatte ich oft die Wäsche dort draußen zum Trocknen aufgestellt, jetzt nicht mehr. Seither
ist der Balkon für mich, was er wohl für die meisten Gartenbesitzer ist: eine Platzverschwendung. Wozu auch auf dem Balkon hocken, wenn man Garten und Terrasse
hat? Aber das war natürlich seine Sache.
Was er mit dem Fernglas im Sinn hatte, erfuhr ich, als er mich ein paar Tage später
zu sich auf den Balkon rief. Ich war im Bademantel und hatte nicht sehr große Lust,
mich in diesem Aufzug draußen zu zeigen, aber ich tat ihm den Gefallen und ging zu
ihm hinaus. Ich glaubte, dass ich ihm etwas bringen sollte, und war darauf eingestellt,
ihm diesbezüglich meine Weigerung kundzutun, aber er wollte etwas anderes. Er
fragte, ob ich die beiden Gestalten sehen könne, dort auf der Straße hinter dem
Grundstück. Ich kniff die Augen zusammen. Ich konnte sie sehen, aber nicht gut. Es handelte sich wirklich bloß um Gestalten, die Entfernung war zu groß, es waren keine
Gesichter zu erkennen. Unsere Sehkräfte sind nicht mehr die besten; vermutlich aber
wäre auch mit jüngeren Augen nicht sehr viel mehr zu sehen gewesen. Zwei Gestalten, an denen Arme, Beine und ein Kopf zu erkennen waren. Tatsächlich konnte ich
nicht einmal mit Sicherheit festhalten, in welche Richtung sie blickten, es hätten
ebenso gut ihre Rücken sein können, die zu uns herzeigten. Allerdings war das nicht
besonders wahrscheinlich, denn es befand sich dort nur eine Hausmauer, und sie
würden wohl nicht gerade eine leere Wand anstarren. Ich glaubte zuerst, dass sie
gingen, sich bewegten, aber das taten sie nicht.
„Es ist wie verhext“, erklärte er plötzlich zu meinem Erstaunen. „Sobald ich mir das
Fernglas vor die Augen halte, verschwinden sie. Wirklich, sie verschwinden einfach.
Es ist zum Verrücktwerden. Die ganze letzte Woche geht das schon so. Sie stehen
da und starren zu unserem Haus herüber, aber mit dem Fernglas kann ich sie nicht
sehen. Dann sind sie einfach verschwunden.“
„Wie verschwunden?“
„Verschwunden. So verschwunden, dass ich sie nicht sehen kann. Fort, weg, nicht
mehr da, sie lösen sich in Luft auf, wie Geister. Ich sehe sie mit freiem Auge, aber im
Fernglas verschwinden sie plötzlich. Alles andere ist da, die Mauer, der Zaun, die
Straßenlaterne, wo sie immer stehen. Aber keine Gestalten, sie sind wie ausradiert.
Fast ist es, als könnten sie’s sehen. Als könnten sie das Fernglas sehen und wollten
nicht gesehen werden. Aber das ist unmöglich. Aus der Entfernung können die keinesfalls sehen, dass ich ein Fernglas hier habe. Und niemand kann so schnell verschwinden und wieder auftauchen.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Gestalten beunruhigten ihn offenbar sehr,
aber ich konnte diese Beunruhigung natürlich nicht teilen, ich sah sie zum ersten Mal.
Als ich ihn fragte, was die Gestalten täten, sagte er: „Starren“, als ob das eine Antwort wäre.
Dann schoss ihm eine Idee ein, er hielt mir das Fernglas hin und sagte:
„Probier‘ du es.“
Ich empfand nicht das Bedürfnis, fremde Menschen, noch dazu im Bademantel, mit
dem Fernglas zu beobachten, und das sagte ich ihm. Er entgegnete, ich solle sie
nicht beobachten, sondern nur überprüfen, ob es bei mir funktioniere. Er hielt es mir
hin, aber ich nahm es nicht. Er wurde ärgerlich.
„Das sieht dir ähnlich, immer so moralisch“, sagte er.
„Aha, darum geht es also“, sagte ich.
„Natürlich geht es auch darum.“
„Worum geht es noch?“
„Du und deine Prinzipien“, fauchte er und knallte das Fernglas auf den Tisch. „Ich
habe dich um etwas gebeten, nur eine Kleinigkeit.“
„Gib es schon her«, sagte ich und streckte die Hand aus, er hätte ohnehin keine Ruhe gegeben. Ich hielt es mir vor die Augen. Es dauerte einen Moment, bis ich mich in
dem vergrößerten Weltausschnitt zurechtfand, ich musste mehrmals den Kopf hin
und her schwenken, bis es mir gelang, die Gestalten einzufangen.
„Was siehst du?“, fragte er.
„Einen Mann und eine Frau“, sagte ich.
„Was? Wieso siehst du …? Gib das her.“
In der nächsten Sekunde hatte er es mir aus der Hand gerissen und hielt es sich
selbst vor die Augen. Er schaute, aber nicht lang.
„Da! Da hast du’s! Sie sind weg!“
„Aber sie sind doch gar nicht weg.“
„Das ist es ja gerade! Du kannst sie sehen! Du siehst sie auch im Fernglas. Das ist
doch … Wie kann das … Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn! Wenn du sie
siehst, und sie sind da, dann muss ich sie ja wohl auch sehen können.“
Darauf konnte ich nichts erwidern, ich musste ihm recht geben. Was er erzählte,
ergab keinen Sinn. Wenn ich einen Grund gehabt hätte, ihm nicht zu glauben, ich
hätte ihm nicht geglaubt. Seine Erregung war jedoch überzeugend, er spielte das
nicht bloß, und wozu auch hätte er das tun sollen? Eine solche Geschichte zu erfinden, sah ihm nicht ähnlich, dafür reichte seine Vorstellungskraft nicht aus. Wurde er
langsam verrückt? Spielte seine Sehkraft ihm Streiche? Wenig wahrscheinlich, ich
hatte noch nie von so einer Art Sehschwäche gehört, was allerdings nichts heißen
mochte, nicht einmal die Ärzte können alle Krankheiten erklären. An den Gestalten
selbst konnte es nicht liegen. Das heißt: an den Menschen, denn es waren Menschen. Auch wenn er ihre Gesichter nicht sehen konnte, sie also sozusagen anonym
waren, waren es doch Menschen. Und es konnte nicht am Fernglas liegen, denn ich
sah sie ja. Es war schon sonderbar, sehr sonderbar, dass muss ich sagen.
Ich kam nicht dazu, mir noch weiter Gedanken darüber zu machen, denn plötzlich
wollte er wissen, wie sie ausgesehen hätten. Er wollte, dass ich sie ihm ganz genau
beschrieb: Was sie angehabt hätten, welche Farbe ihre Haare hatten, ihre Haut, ob
sie mir bekannt vorkamen, ob ich sie schon einmal gesehen hätte, ob ich glaubte,
dass sie von hier seien oder ob es sich um Fremde handelte, es kämen immer mehr Fremde ins Land, sogar bis hierher zu uns, und niemand könne wissen, was diese
Leute im Schilde führten. Ich fragte ihn, wieso er glaube, dass es Fremde seien und
dass sie etwas im Schilde führten. Darauf antwortete er nicht; er redete weiter, als ob
er mich nicht gehört hätte. Seit mehreren Tagen, wiederholte er, ginge das jetzt so.
Sie kämen irgendwann vormittags, blieben auf der Straße hinter unserem Grundstück stehen und starrten. Ich erinnere mich gut, dass ich ihn fragte, woher er zu wissen glaubte, dass sie starrten, wo er doch nicht einmal ihre Gesichter gesehen habe.
Darauf reagierte er, wie er immer reagierte, wenn jemand seine Behauptungen infrage stellte: Er wurde wütend.
„Ich weiß es einfach!“, rief er und knallte die flache Hand auf den Tisch, während er
mir einen gehässigen Blick zuwarf; wie es schien, richtete sich sein Ärger nun auch
gegen mich. Weil er den Verursachern seines Ärgers nicht beikommen konnte, ließ
er ihn an mir aus; dieses Verhalten war mir nicht neu, er ist ein Mann, und er ist seit
mehreren Jahrzehnten mein Mann, ich habe damit umzugehen gelernt. Er brauche
sich deshalb nicht aufzuregen, sagte ich also, die Frage sei durchaus berechtigt, gerade eben habe er mir erklärt, er könne sie durchs Fernglas nicht sehen, weshalb er
also auch ihre Gesichter nicht sehen könne und ganz gewiss auch nicht, dass sie
starrten. Wieder war es, als habe er mich nicht gehört, denn er sagte nur, mehr zu
sich selbst:
„Morgen Vormittag erwarte ich sie schon mit dem Fernglas am Auge. Dann werden
wir sehen.“
Ihm entging die Absurdität des Satzes, und ich musste mich zurückhalten, um nicht
zu lachen. Was wollte er denn ‚sehen‘, wenn er doch gar nichts sah! Selbstverständlich merkte er, dass ich das Lachen nur unterdrückte. Seine Laune wurde dadurch
nicht besser, meine auch nicht. Ein wenig unstimmig, um es mal so zu nennen, gingen wir auseinander. Das heißt, ich war es, die ging. Er blieb an diesem Tag länger
als sonst auf dem Balkon. Mir schien es, als bliebe er jeden Tag ein bisschen länger,
aber ich wusste es nicht sicher, ich schaute nicht auf die Uhr. Und was auf dem Balkon war, blieb auf dem Balkon: überall sonst war das Fernglas kein Thema.
Am nächsten Tag ging ich zu ihm nach oben, als mir einfiel, welches Versprechen er
sich am Vortag gegeben hatte: Dass er schon mit dem Fernglas vor dem Auge auf
sie warten würde. Ich war unten im Garten und band die Tomaten auf, das einzige
Gemüse, das wir noch anpflanzen. Ich war so vertieft in diese Tätigkeit, dass ich
nicht daran gedacht hatte; als es mir einfiel, war ich doch neugierig und ging zu ihm
hinauf, um ihn zu fragen, wie es gelaufen sei. Er antwortete, sie seien nicht aufgetaucht, heute seien sie gar nicht erst aufgetaucht. Diesmal konnte ich mich nicht zurückhalten, ich lachte. Ich sagte, die Geschichte müssten wir aufschreiben: Die Geschichte von dem verhexten Fernglas. Da wurde er laut:
„Natürlich, dir ist es egal, dass man uns beobachtet. Dir kann das egal sein, du
glaubst an das Gute im Menschen. In deiner Welt stehen die nur da herum und bewundern die Aussicht. Aber was, wenn diese Leute nicht bloß bewundern, was wir
haben, sondern es wollen? Wenn sie uns auskundschaften? Wenn sie unsere Gewohnheiten studieren, damit sie uns ausrauben können? Solche Gedanken kommen
dir nicht.“
„Aber sie haben das Recht, dort zu stehen«, erwiderte ich. „Und sie haben das
Recht, unser Haus anzusehen.“
„Und ich habe das Recht, die Polizei anzurufen“, schnauzte er und ging ins Haus. Ich
hörte ihn durch die offenstehende Terrassentür, und bald darauf saß er wieder auf
dem Balkon. Ob er wirklich die Polizei angerufen hatte?
Er saß jetzt immer länger dort oben. Hatte er früher nie länger als eine Stunde mit
seinem Kaffee und seinem Rätselheft auf dem Balkon verbracht, saß er jetzt oft mehrere Stunden allein. Ich sah ihn mit dem Fernglas hantieren, manchmal hörte ich ihn
fluchen. Natürlich ging er auch nach draußen, auf die Straße hinter dem Grundstück,
drei oder vier Mal, um dort zu warten. Ohne Ergebnis, er kehrte jedes Mal kopfschüttelnd und fluchend zurück und setzte sich wieder auf den Balkon. Wenn es so weitergeht, wird er bald überhaupt nicht mehr herunter in den Garten kommen. Natürlich
sollte ich etwas unternehmen, aber was? Sollte ich einen Arzt rufen? Kann so etwas
geheilt werden? Oder ist das etwas, das von selbst wieder weggeht? Was für eine
Art Krankheit, was für eine Art Blindheit sollte das sein? Obwohl es mich ärgerte, tat
er mir auf eine Weise auch leid; er war so voller Ärger, dass er nichts mit sich anzufangen wusste. Dabei wusste er nicht einmal, gegen wen sein Unmut, und auch seine Angst, gerichtet waren, für ihn waren es bloß Gespenster, gesichtslose Gestalten
aus der Entfernung, die durch Angst und Aggression zu Geistern wurden, Gespenstern, die ihm vor den Augen verschwanden. Vielleicht sollte ich trotzdem den Arzt
kommen lassen. Oder ich könnte das Fernglas verschwinden lassen, das wäre eine
andere Möglichkeit.