Annina Haab
Wo du bist
Wenn du sie siehst, aus mittlerer Distanz, und denkst, das ist sie, da ist sie doch, und
losrennst, ihr hinterher, weil du sie sehen willst, weil du dich schon gewundert hast,
wo sie so lang bleibt, und jetzt geht sie auch noch in die falsche Richtung, und du
hinterher, rennst und rennst, bis du direkt hinter ihr bist, bis du ihr mit dem Finger auf
die Schulter tippen kannst, damit sie sich umdreht und auch dich sehen kann. Aber
du tippst nicht, weil in dem Moment, als sich schon dein ausgestreckter Zeigefinger
ihrer Schulter nähert, da fällt es dir wieder ein, oder wie Schuppen von den Augen,
die Gewissheit fällt in dich ein und trampelt alles nieder, weil sie es gar nicht sein
kann, weil sie tot ist, und du lässt die Hand und den Zeigefinger sinken, siehst jetzt
plötzlich sehr deutlich, dass die Frau vor dir ganz anders aussieht oder geht oder
riecht, als sie aussah oder ging oder roch. Aber das ist sowieso alles gelogen, das
passiert nur in Filmen, und dann mit so Musik, und wahrscheinlich mit schummriger
Beleuchtung oder gegen den Bildrand hin neblig, damit die Zuschauerinnen und Zu-
schauer sicher merken, dass es sich hierbei um ein Hirngespenst der Protagonistin
oder des Protagonisten handelt, nein, in dem, was das richtige Leben genannt wird,
ohne dass jemand das Wort „richtig“ darin erklären könnte, rennt niemand einfach so
einer verstorbenen Person hinterher und will ihr auf die Schulter tippen, denn hierher
kommen die Toten nicht zurück. Und wenn es den Moment gibt, in dem du schlagar-
tig an sie denken musst, dann weißt du auch im selben Moment, dass sie es nicht ist,
nicht sein kann, nichts also, was das Rennen lohnen würde. Nur ein weiterer Stich,
da, wo die ganze Zeit das Vermissen hineinsticht, irgendwo im Brustkorb, hinter die
Rippen. Du brauchst gar nicht hinterherzurennen, es ist sowieso nicht echt. Über-
haupt all das, was die ganze Zeit so im Fernsehen kommt und in den Büchern steht,
die überwiegende Mehrheit der tragischen Tode junger Geliebter bereits weggelas-
sen. Gesetzt den Fall, wir kriegen es zu Gesicht, das Ableben einer hinfällig
alten Person.
In jener letzten Nacht an ihrem Bett starb mir Ali tausend Mal. Mehr als zweihundert
Mal pro Stunde. Ich rechnete mit allem. Ich dachte, jetzt ist es aus. Dann holte sie
doch noch einmal Luft. Im letzten Moment, pfeifend in die Lungen gesogen, während
ich mit der Hand über die kalte Haut strich, die sich über Alis Backenknochen
spannte. Ich las Ali die Postkarte aus dem Urlaub vor, die ich vorsichtshalber selber
wieder nach Hause gebracht hatte, aus Angst, dass sie hätte zu spät ankommen
können, nachdem Ali schon nicht mehr da gewesen wäre. Ich las sie mehrmals vor,
ungewiss, ob Ali mich hören konnte. Ich hielt ihre Hand. Ich las mit lauter Stimme das
Gedicht von Gottfried Keller, das immer gerahmt bei Ali an der Wand hing und auch
ins Altenheim mitgekommen war; Ein Fischlein steht am kühlen Grund, durchsichtig
fließen die Wogen, und senkrecht ob ihm hat sein Rund ein schwebender Falk
gezogen. Der ist so lerchenklein zu seh'n zuhöchst im Himmelsdome; er sieht das
Fischlein ruhig steh'n, glänzend im tiefen Strome! Und dieses auch hinwieder sieht
ins Blaue durch seine Welle, ich glaube gar, das Sehnen zieht eins an des andern
Stelle! Das Altenheim blieb nächtlich still. Zum ersten Mal fiel mir die himmelschrei-
ende Traurigkeit dieses Gedichts auf, das ich schon unzählige Male gelesen haben
musste. Ali hat es, glaube ich, nie als traurig empfunden.
Ich überlegte, ob ein Gebet angebracht wäre, aber ich wusste nicht, an was ich es
richten könnte. Hielt also weiterhin nur Alis Hand und zählte die Sekunden des Still-
stands zwischen den seltenen Atemzügen, zwischen dem Tod und dem Luftholen.
Fünfzehn, zwanzig Sekunden, lagen zwischen einem Schnauf und dem nächsten,
immer genau so lange, dass ich mir plötzlich sicher war, dass es vorbei ist. Ich
dachte, jetzt ist es aus, da atmete sie noch einmal. Das ging Stunden so und es war
immer nicht vorbei und langsam wünschte ich es für Ali. Ein grauenhaftes Gefühl.
Müde war ich, und wusste nicht, ob Ali merkte, dass ich da war. Ich hielt ihre Hand.
Versuchte, irgendwie auf dem Stuhl sitzen zu bleiben, auf dem ich schon seit zwölf
Stunden saß, noch mindestens sechs bis zum Morgen. Ich legte mich auf den
Boden, um kurz die Augen zu schließen, Ali röchelte, und ich setzte mich sofort wie-
der ans Bett, aus Angst, sie könnte ersticken. Unter meinem Stuhl lag rötliche Erde
aus Kroatien, die aus dem Profil meiner Sohlen herausbröckelte. Ich scharrte sie
herum. Alis Hand war kalt, ich zog ihr mit der linken Hand die Decken bis unters
Kinn, zupfte die ganze Zeit irgendwas zurecht und erzählte, wenn ich sprechen
konnte, von Kroatien, wusste nicht, ob ich es mir oder Ali erzählte. Die Olivenbäume,
der Regen. Ich erzählte auch, jetzt umgekehrt, unsere Geschichte mit den Jungen im
Zug. Begann fast jeden Satz mit Weißt-du-noch. Dachte dabei an Eichendorffs Lied
in allen Dingen, hatte noch immer die Hoffnung, dass es etwas gibt, was Ali noch ein-
mal wecken könnte, ein Wort, einen Geruch, eine Melodie oder eine Geschichte,
aber Ali erwachte nicht. Sie schlief seit nachmittags um zwei. Ich hatte Angst in die-
ser geräuschlosen, dunklen Altersstation mit unserem Erdgeschossfenster auf die
Straße hinaus, ich hatte Angst, mit dem Tod im gleichen Zimmer zu sitzen. Ich hatte
Durst und musste auf die Toilette, aber Alis dünne Finger hielten die Meinen jedes
Mal fester, wenn ich versuchte, mich loszumachen. Manchmal bewegte ich die Hand,
nur damit sie mich spürbarer hielt. Das war das Tröstlichste, was mir blieb. Ich legte
den Kopf zu Ali aufs Bett und hörte zu.
Frühmorgens brachte mir die Nachtschwester einen Kaffee und legte, bevor sie raus-
ging, kurz die Hand auf meine Schulter. Irgendwann wurde es vor dem Fenster wie-
der blau und dann hell und ich blieb einfach sitzen. Hörte auf, die Stunden zu zählen.
Ali schwebte. Ich wartete auf nichts mehr. Gegen zehn kam Lena, um mich abzulö-
sen.
Im Film ist es anders. Das Sterben sogar, im Film sitzt man am Krankenbett und sagt
noch das Allerwichtigste zum Schluss, und bekommt noch das Allerwichtigste ge-
sagt. In der Welt, in der ich lebe, fällt dir nicht ein, was du sagen könntest, weil die
Worte ausgeflogen sind, sie wollen nicht dabei sein, und du weißt, die Zeit würde
ohnehin nicht reichen, abgesehen davon, dass dir nur Schwachsinn einfällt. In der
Welt, in der ich lebe, erkennt dich deine Oma nicht mehr und spricht ganz komisch
mit dir, so übertrieben deutliches Deutsch, sie will nämlich etwas von dir, weil sie sich
nicht mehr so beschissen zusammenkrümmen will, jedes Mal, wenn ein Krampf
kommt, oder was das ist, sie will die Schmerzen nicht mehr, und sie denkt, du könn-
test ihr etwas geben, ich brauche es sofort, sagt sie, und du weißt, dass es stimmt,
also läufst du raus auf den breiten lachsfarbenen Flur und rufst nach einer Pflegerin,
die dich böse anschaut, weil du so schreist, sorry, du bist es vielleicht nicht gewöhnt,
Leute abkratzen zu sehen, an die du dich dein ganzes Leben lang angelehnt hast,
und die dir den Kopf gestreichelt haben. Die Pflegerin bringt eine Schmerztablette,
aber die geht einfach nicht den Hals hinunter, der viel zu trocken ist, weil ja auch er
bald sterben muss, also löst du eine Tablette in Wasser auf, aber trinken geht auch
nicht, klebt alles im rotgestreiften Strohhalm. Wir müssen das nochmal versuchen,
sagst du, aber die Pflegerin sagt, das sei verboten, weil die Gefahr einer letalen Do-
sis bestehe. Das ist zu viel. In der Welt, in der ich lebe, quält sich deine Oma in den
Tod hinein und du kennst genau drei Modalitäten deiner Trauer, die Schockstarre,
die Wut, die so groß ist, dass du die ganze Einrichtung gegen die Wand brettern
willst, die hässlichen Altenheimstühle und dieser beschissene Teewagen und hinter-
her noch dieses krankenhausreife Nachtkästchen, dazu kommt nur noch die Leere,
mehr gibt es nicht, soweit ich weiß. Ich sollte dabei allein von mir sprechen, vielleicht
haben ja andere an solchen duftigen Krankenhausbetten gesessen und die Hand
einer Person getätschelt, die lächelnd ein paar schöne Dinge von sich gab, vom Wie-
dersehen und von der guten Hoffnung im Herrn oder so, bevor sie dann seelenruhig
entschlummerte, alles kein Drama, nur der Lauf der Dinge, aber wie ich das kenne,
ist es doch ein ziemliches Drama, ein ganz verficktes Drama, Entschuldigung. Ich
schreibe so, als wäre sie da. Ich schreibe so, als könnte sie jetzt lesen, jedes Wort,
und mich rügen für das Fluchen und die Flüchtigkeitsfehler, wie sie früher mit mir die
Schuldiktate geübt hat und danach ganz streng durchgelesen und immer nur die
Flüchtigkeitsfehler gerügt hat, weil sie hätten vermieden werden können, weil sie aus
Unvorsicht und so weiter. Man muss genau arbeiten, würde Ali sagen, bei
allem.
Ali starb im Januar an einem Sonntagabend um etwa sieben Uhr, als wir schon fast
nicht mehr daran geglaubt hatten. Oder noch immer nicht daran glauben konnten,
oder, nachdem sie fast zwanzig Tage lang im Sterben lag, wieder weniger daran ge-
glaubt hatten, als zu Beginn, um Weihnachten herum, als wir zum ersten Mal die
Möglichkeit in Betracht zogen, dass Ali tatsächlich sterben könnte. Dazwischen diese
unglaubliche Zeit am Bett. Wie wir da saßen und warteten, immer einzeln und ab-
wechslungsweise, immer am Bett. Ich schrieb so, als wäre sie weg, während sie
noch da war. Ich dachte, dass ich mich vorbereiten könnte, dass ich so viel über die
tote Ali nachdächte und über die Konsequenzen ihres Todes, dass es danach nicht
mehr schlimm würde. Ich dachte, wenn ich jede mögliche Situation schon durchge-
spielt habe, als wäre Ali tot, dann kann mich zumindest nichts mehr überraschen.
Aber dass Ali stirbt, ist trotzdem unvorstellbar geblieben.
Nun geistert sie durch mich hindurch, während ich versuche, einen klaren Gedanken
zu fassen, Ali ist in uns eingewandert, in alle ihre Kinder und Enkelinnen. Um genau
zu bleiben, muss ich wohl eher schreiben, sie hat sich in uns zurückgezogen, weil sie
vorher auch schon da war, aber jetzt nur noch. Wo hätte sie denn sonst hinsollen.
Die Toten können nirgends hin, das Paradies ist passé und bei uns gibt es keinen
Platz, es gibt ja schon für all die Sterbenden keinen Platz, sie liegen beinahe geheim
gehalten in diesen kleinen Zimmern, neben den Kranken, die auch schon ganz an
den Rand gerückt wurden. Es hat den Anschein, dass nahezu alles, was mit ihnen zu
tun hat der Unsichtbarkeit anheimfällt. Sogar die Pflegerinnen und ihre ganze Arbeit.
Wie sie die alten Körper zwischen den Fallpauschalen hindurchmanövrieren. So un-
sichtbar, das alles, dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als Ali unter ihren Strick-
decken hervorzuzerren und mit ihr Huckepack durch die Stadt zu wandern, sie unter
Leute zu bringen, damit sie etwas sähe, damit sie gesehen würde, der ganze deso-
late Zustand, die fortschreitende Hinfälligkeit.
Im Film, wenn alles Wichtige gesagt ist, und die sterbende Person die Augen schließt
und entschläft, hat das alles seine Richtigkeit. Innerhalb der Geschichte. In der Welt,
in der ich lebe, ist gerade niemand da, wenn sie stirbt, denn sie stirbt in der
Lücke zwischen der einen Anwesenheit und der nächsten, und so stelle ich es mir
auch vor, dass sie dahin verschwindet, in eine Lücke zwischen die Anwesenheiten.
Nicht so wiedergeburtmäßig, das nicht, aber halt so ein Dazwischen. In der Welt, in
der ich lebe, stirbt sie ganz allein und ich mache mir Vorwürfe deswegen, und den
andern auch, bis ich von Vorwürfen so voll und aufgewühlt bin, dass es nicht mehr
auszuhalten ist mit mir. Bis mir meine Freundin eine Doku zeigt, in der viele Lebende
über viele Tote und ihre Tode sprechen, und alle Toten starben ihre Tode ganz
allein, so als könnte da gar niemand dabei sein. In der Doku stirbt eine, als die Dane-
bensitzende kurz im Badezimmer ist, oder aber raus, um zu telefonieren, oder als die
Ablösung vonstattengehen sollte, oder oder oder. Starben also, platt gesagt, alle
allein. Mal war auch nur ein Kugelschreiber unters Krankenbett gerollt, das war der
Sterbenden aber schon allein genug, dass sich ihre Dabeisitzende unters Bett
bemüht hat, da ist sie schnell gestorben, ins Dazwischen abgehauen, französischer
Abgang, oder polnischer, wie auch immer, bei uns hieß das früher den Fisch
machen, das ist genau, was Ali gemacht hat. Einfach weg. Die Toten überlassen uns
nicht ihren Platz, weil dort, wo sie fehlen, kein Platz übrigbleibt. Der Platz, der vorher
Alis war, ein Bett in einem kleinen Altenheim am Stadtrand, blieb nur sehr kurz nicht
von ihr besetzt, bevor ein anderer Mensch darin zu liegen kam. So wie in ihrer Woh-
nung, die von dem Altenheimbett nicht weit entfernt liegt, jetzt seit mehreren Jahren
andere alternde Menschen wohnen. Es bleiben nur die Geschichten übrig, und wir,
ratlos, wer sie uns jetzt erzählen sollte.
Im Film wäre der Tod das Ende, alles, was danach kommt, wäre nicht mehr interes-
sant, der Klimax wegen, da ist der Tod eben kaum zu übertrumpfen. Es sei denn, das
ist die andere Möglichkeit, der Film beginnt direkt mit dem Tod, danach gibt es für die
vorzugsweise zerstrittene Erbgemeinschaft eine schier unmögliche Aufgabe zu
lösen. Zum Beispiel den Sarg in einem Personenwagen bis nach Rumänien schmug-
geln müssen, oder so. Was wir natürlich nicht machen mussten, während mir die
Vorstellung, wir hätten Ali in Rumänien begraben, gar nicht so sehr widerstrebt, weil
ich in Rumänien einmal einen Friedhof gesehen habe, mit geschnitzten Holzpfählen
anstatt Grabsteinen. Ich ließ mir sagen, dass sich das Grabmal so langsam zersetzt,
wie die Erinnerung, achtzig Jahre ungefähr, so lange, bis kein lebender Mensch mehr
Erinnerungen an die Tote hat. Das gefiel mir, und jetzt macht es mir doch Angst,
wenn ich mir vorstelle, dass ich Ali noch achtzig Jahre lang vermissen muss, bis ich
über hundert Jahre alt bin. Weil das nicht einfach aufhört, wie im Film, sondern nur
ganz, ganz langsam zerfällt.
Wir vergruben Alis Asche zuhause unter einem Baum. Es stürmte heftig und das war
irgendwie passend. Ein bisschen wie im Film, wir wussten damit umzugehen. So oft
hatten wir das schon gesehen, zusammen mit Ali, die Filme über alles liebte. Ich
schreibe so, als wäre sie da, aber sie ist weg. Ich kann nur noch zuschreiben.
***
Unter Verwendung von Gottfried Kellers „Am fließenden Wasser“ sowie abgeänder-
ten Auszügen aus meinem unveröffentlichten Romanmanuskript „Alitage“.