Anna Yeliz Schentke
Annane
Sie sind unterwegs und an jedem Ort der Welt können sie deinen
Namen an sie weitergeben. Wir sind unterwegs, an jedem Ort auf
der Welt und unsere Namen werden an sie weitergegeben. Ein Name
und ein Bild, ein Screenshot und ein Profil, wenn sie können
Telefon Numarasınız, wenn sie wissen Eposta Adresiniz, dann geht
es schneller, dann ist es einfacher.
Im elektronischen Speicher wartet unser Name, um abgerufen zu
werden, wenn wir uns bewegen, wenn wir einreisen, die Falle
schnappt zu. Aber wir wissen nichts davon, wir können nur
erahnen.
Wenn wir die Aktivitäten einer Terrororganisation legitimieren,
in dem wir uns bewegen, indem wir atmen, indem wir sprechen – 5
Jahre. Wenn wir uns online bewegen, indem wir klicken, indem wir
schreiben – die Hälfte der Zeit obendrauf. Wenn sie uns nicht
finden, dann unsere Liebsten. Unsere Familien liegen mit uns in
den Archiven, mit den Dingen über uns, die wir nicht wissen, die
es gibt und die es nicht gibt.
Ein Name ist festgehalten in einem Formular, eine Datei ist
angehängt, ein Screenshot, der sie verrät. Sie weiß nicht, sie
ahnt nur. Sie kann erst wissen, wenn sie festsitzt und wenn es
keinen Ausweg mehr gibt.
Die Mutter der Mutter, ihre Annane muss sterben, sie hat nicht
mehr lange zu leben, sie ist alt, sie ist schwach. Sie haben
sich vier Jahre lang nicht gesehen, sie konnten noch länger nicht
miteinander sprechen.
Aber ihre Annane weiß von nichts, kann nicht verstehen, meine
Kleine, du hast doch nichts gemacht, für was soll man dich
bestrafen? Sie hat nichts gemacht, man kann sie für nichts
bestrafen, sagt sie. Aber ihre Annane weiß von nichts. Es gibt
keinen Grund in dieses Land zu fahren, außer den, die Menschen
zu sehen, die den Ort nicht verlassen können. Wir sind ja frei,
wir können sagen, was wir möchten, sagen sie hier.
Wir sind unterwegs überall in der Welt außer an einem Ort, den
wir nicht betreten können. Wir sind unterwegs und immer bedacht,
wir passen auf und hören zu. Wenn wir nicht sprechen können,
müssen wir schreiben, aber ohne unseren Namen. Unterwegs und an
jedem Ort der Welt können wir schreiben, unterwegs und an jedem
Ort der Welt können sie schreiben.
Ihre Annane, die Großmutter in ihrer Sprache, die Mutter der
Mutter, sie kann nicht schreiben, nicht an diesem Ort. Annane
hat kein Smartphone, kennt das Internet nicht, kennt diese Leute
nicht. Sie kennt nur Kemal von gegenüber, sie kennt nur Nazan
vom Laden, sie kennt nur Handan, ihre Enkelin.
Handan lag als Kind in den Armen ihrer Annane, den Kopf zwischen
ihren großen Brüsten, die in einem weiten Hauskleid lebten. Die
Hauskleider immer mit Blumen, ganz bunt und sie rochen genauso
wie echte. Nach einem langen Sommertag, müde und zu viel in der
Sonne gewesen, frischer Joghurt auf dem Reis. Danach in Annanes
Schoß, da war sie eingeschlafen, roch die Blumen des Kleides.
Zwei Jahre später, im Sommer wieder in Annanes Haus, sagte Handan
ihrer Annane sie wolle ein Kleid, ein ganz bestimmtes. Sie hatte
es die letzten Tage immer wieder auf dem Bazar gesehen, über den
sie mit Annane schlenderte, als Zeit für den Einkauf war. Da
waren Kleider für besondere Anlässe und mit Diamanten bestickte
helle Anzüge für kleine Jungs, die sie trugen, wenn sie
beschnitten wurden. Handan wollte das eine Kleid, ohne
Diamanten, aber mit Tüll-Rock ganz in weiß. Am nächsten Morgen
lag es im Wohnzimmer und Handan zog es direkt an und zog es nicht
mehr aus, auch in der Nacht nicht, bis Annane sagte, sie müsse
es waschen, es war grau geworden vom Spielen im Freien. Einige
Jahre später war Handan noch größer geworden, Mashallah, sie war
für Annane das Wichtigste auf der Welt. Sie konnte lesen und
schreiben, sie kannte Annanes Eposta Adresiniz, sie konnte ihre
Telefon Numarasınız auswendig, sie malte Schwäne mit den
Wachsmalstiften, die Annane ihr gekauft und die sie aufgehoben
hatte bis zu den Ferien, in den Handan sie besuchen würde.
In der Schule malte sie die gleichen Schwäne auf die Ränder des
Papiers und Halbmonde und Sterne. Auf der Schule gab es auch
Onur, der malte nur Halbmonde. Drei von Ihnen waren das
Hintergrundbild auf seinem Smartphone. Alle Schülerinnen und
Schüler hatten ein Smartphone mit Internet und spielten in der
Pause gegeneinander und miteinander Spiele auf ihnen. Manche
prahlten, sie hatten Pornos darauf und zeigten sie und schickten
sie herum. Onur hatte keine, zumindest zeigte er sie nicht. Er
sprach nur immer von seinem Vater, von seinem Onkel, von Allah
und machte ein komisches Symbol mit der Hand. Damit begrüßte er
sie, wartete auf ihre Reaktion. Erst als Handan erwiderte, ließ
sein fordernder Blick nach. Handan wusste nicht, was das
bedeuten, was sie machen sollte. Manchmal versuchte sie das
Symbol lächelnd nachzuahmen, sie mussten vielleicht noch
zusammenhalten, Onur und sie, die einzigen beiden in der Klasse
mit einem anderen Namen. Und dann hieß Erwidern auch noch nicht
zu wissen, erst später fing Handan an zu verstehen.
Sie fing an zu lesen, was manche schrieben, auf Seiten, die es
erlaubten. Handan las, was andere schrieben und was andere
darüber schrieben. Handan war unterwegs, sie schrieb und
widerschrieb, sie likte und blockierte.
Da waren Profile und Bilder von Leuten, die sie kannte und von
anderen, die sie nicht kannte. Sie waren alle unterwegs und lasen
und schrieben. Sie war unterwegs mit vielen Namen, die niemand
kannte, um zu schreiben, was sie wollte. Onur gab es noch immer
und er schrieb sehr wenig, er postete nur Bilder von Halbmonden
und Sternen und Bilder von drei Monden und keinen Sternen in
strahlendem Weiß auf rotem Untergrund.
Handan war erinnert an den Ort, an dem ihre Annane war und an
dem sie bleiben würde, für immer. Wenn das Flugzeug landete, sah
sie direkt die Halbmonde und Sterne und auch auf den Straßen, an
den Mästen, da hingen sie und flatterten im Wind. Und auch auf
der Fähre hin zu Annanes Haus da waren die halben Monde und die
Sterne auf rotem Grund. Dann war sie zuhause, bei ihrer Annane,
ein Himmel, viele Sterne, der Mond aber voll.
Handan ist jetzt erwachsen, ein Treffen mit Onur. Er weiß, dass
Handan nur Handan heißt, sie und wir, sitzen jetzt zusammen.
Handan will wissen, ist Onur noch der gleiche wie früher? Hat er
nicht auch gelesen, geschrieben, verstanden? Der Schulabschluss
ist einige Jahre vorbei, was macht Onur nur? Fährt er noch rüber?
Kann er das denn, muss er nicht etwas fürchten? Vielleicht traut
er sich nicht, seinen wahren Namen zu sagen. Onur, ich bin
Handan, wir sind Handan, wer bist du? Diesmal wissen nicht sie,
sondern wir. Sie hören nicht auf zu reden, Onur hört nicht auf
zu reden.
Das kennst du noch nicht? 7/24 Online Anzeige, du musst nicht
mal anrufen, ist auch schwer von hier, weil du musst ja vor 140
noch die Vorwahl wählen, das funktioniert nicht immer. Aber du
kannst es dir einfach runterladen, dann kannst du auf das Symbol
links oben gehen, mit dem runden Pfeil und dem Telefon in der
Mitte, da kannst du immer Bescheid sagen. Das geht direkt rüber,
dann haben die schonmal den Namen, wenn du den Namen nicht weißt,
geht auch ohne, einfach Screenshot vom Profil, kannst das Bild
einfach anhängen, dann absenden, fertig. Dann musst du nur
warten, bis sie das nächste Mal zu ihren Großeltern fahren und
sie sind weg. Sie werden nicht einmal herausfinden, dass du es
warst, der sie gemeldet hat. Wenn du oft genug Verräter meldest,
dann wirst du bestimmt als guter Bürger registriert, dann kann
dir wahrscheinlich keiner was. Wenn du ihnen Angst machen willst,
mach einen Screenshot von dem ausgefüllten Formular, bevor du es
abschickst, dann mach dir einen anonymen Account, schick es an
sie, dann werden sie zittern.
Handan hat keine Angst vor Onur und will es ihm sagen, will
sprechen, um zu kämpfen und will kämpfen, um zu verändern und
will benennen, will streiten. Sie macht sich bereit, atmet tief
ein. Aber Annane.
Sie wird nicht verstehen, warum Handan nicht kommt. Und Handan
kann ihr nicht erklären, warum sie nicht kommt. Sie müsste sie
sehen und lange mit ihr sprechen und erklären und umarmen. Doch
damals, als das noch möglich war, vor vier Jahren, da wussten
sie nicht wie es werden würde. Wir wussten noch nicht, dass wir
eingesperrt würden und wüssten auch nicht, dass wir nicht
telefonieren könnten und wussten auch nicht, dass wir deswegen
weinen würden. Und wir wussten auch nicht, dass wir hätten reden
müssen und dass wir uns hätten umarmen müssen. Dass es nötig
wäre, eine gemeinsame Geheimsprache zu entwickeln, dass wir
hätten umziehen sollen, dass wir hätten gehen oder bleiben
sollen. Dass es passieren würde, dass wir gezwungen würden,
andere Mittel zu ergreifen.
Und Onur gibt Namen und Bilder und schreibt, er ist unterwegs,
sie sind unterwegs, schreiben und schicken die Namen und Telefon
Numarasınız und Eposta Adresiniz. Er weiß nicht, dass Handan
nicht nur Handan heißt. Aber Handan hat einen Namen, sie weiß
nicht, wer ihn kennt, sie weiß nicht, wo er steht, ob er
gespeichert ist und abrufbar. Onur kann es nicht gewesen sein,
er weiß es nicht, er weiß uns nicht.
Sie will Annane noch sehen und ihren Kopf in ihr Kleid drücken,
das Blumenmuster riechen. Doch Annane ist tot, sie ist jetzt
auch unterwegs, aber ohne den Namen, sie ist nur noch Annane für
Handan. Sie sind unterwegs und an jedem Ort der Welt können sie
deinen Namen an sie weitergeben. Wir sind unterwegs, an jedem
Ort auf der Welt und unsere Namen werden an sie weitergegeben.
Handan darf jetzt Handan heißen, an jedem Ort auf der Welt, sie
können sie nicht mehr finden und Handan wird sprechen, wird
schreiben, sich wehren.