Anja Gmeinwieser

Die Hecke von verschiedenen Standpunkten in Raum und Zeit

Ich treibe schwerelos im Schwerelosen des Universums und schaue mir die Erde an, von hier, von „oben“ würde man wohl sagen, obwohl es doch genauso von der Seite oder von schräg unten sein könnte und dort in der Schwebe denke ich an die Hecke auf der Erde, unsere Hecke, und an die Küchentischgespräche, die ich innerhalb dieser Hecke immer führe, und frage mich wohin, dabei stellt sich diese Frage hier nicht.  

 

Der Streit um die Hecke verlief, so meine ich mich zu erinnern, weitgehend still, man bemerkte, man deutete an, man missbilligte, vielleicht gab es geheim offenen Streit zwischen der Oma und meinem Vater, das halte ich für möglich, doch meist betrachtete ein jeder von uns die Hecke allein und jeder stritt mit sich allein, fragte nur sich allein, ob die Nachbarn vielleicht etwas merken würden, ob man der Oma sagen solle, dass das so nicht gehe, oder ob dann nicht tatsächlicher Streit ausbräche und ob man die Hecke nicht insgesamt kürzen könnte, um sicherzustellen, dass niemand etwas merkte.  

  

Mein Vater hatte gleich gesehen, dass an der Hecke was anders war, mein Vater hat den Blick für diese Hecke. Die Kernfamilie – in unserem Fall Mutter, Vater und wir zwei Kinder – hatten einen Sonntagsausflug gemacht. Haus, Hof, Hühner und Hecke wurden währenddessen in die Obhut der Oma gegeben, wo sie im Grunde ohnehin immer waren, unter ihren Flügeln, die dasselbe blau-weiß-pink-gestreift-geblümte Muster hatten, wie ihre Kittelschürzen. Die Oma wohnte unten bei uns im Haus, so, wie alle Großmütter im Dorf unten in den Häusern bei ihren Familien wohnten, so, wie auch alle vorausgegangenen Großmütter unserer Familie unten in genau dieser Parterrewohnung gewohnt hatten, so wohnte sie da und schaffte eine Verbindung zu den Großmüttern neben ihr und den Großmüttern vor ihr.  

 

Unser Haus und der das Haus umgebende Hof und die den Hof umgebende Hecke befinden sich in einem Dorf, das gerade noch in keinem richtigen Einzugsgebiet liegt, aber – wegen des neu verlegten DSL-Kabels – auch gerade nicht mehr als strukturschwach bezeichnet werden kann, das gerade noch von der Landflucht betroffen ist, und in das gerade schon auch Menschen zuziehen, die nach München zum Arbeiten pendeln und wo sich gerade jetzt wieder eine Generation Gedanken um Hofnachfolgen macht, vielleicht zum letzten Mal diesmal. Es gibt viele Hecken in diesem Dorf, nicht nur die unsere.  

 

Die Generation meiner Oma, oder zumindest meine Oma, war kaum jemals woanders, die Generation meiner Eltern, das gilt zumindest für meine Eltern, war vielleicht mal in Italien, wir, zumindest mein Bruder und ich, sind jetzt immer woanders, fahren alle paar Wochen aus der Stadt heim und finden uns im Auto in Diskussionen über die Üppigkeit von Raps oder Hopfen wieder. Landkinderreflex.  

 

Die Hecke ist immer so hoch gewesen, wie ich es heute bin, die Form akkurat, meist gestutzt, wenn nicht, stehen oben junge helle Triebe wie Strubbelhaare in die Höhe, ihre Blätter sind kleine dunkel- oder hellgrüne Ovale. Oben bildet die Hecke eine ungefähr perfekt parallele Linie zum Hofboden. Dort auf der geraden Grenze zwischen Hecke und Luft war der Ort der Veränderung: An einer Stelle war die Parallele nicht mehr parallel, an dieser Stelle bog die Heckenlinie sich zu einer Mulde nach unten, zu einem Tiefpunkt. 

Die Mulde, oder wir sagten „das Loch“, das fand meine Mutter bald heraus, erlaubte eine bequeme Blickachse vom Küchenfenster der Oma in den Hof der Nachbarn. 

Wir wussten: Die Oma war eine Feindin der Hecke. Die Hecke verursachte, dass man nicht mehr gescheit aus dem Hof hinausschauen konnte. Mein Vater, Freund der Hecke, hatte selbige gepflanzt, damit nicht ein jeder in den Hof hineinschauen konnte. Daran änderte auch das Loch nichts, am Sichtschutz konnte das Loch nicht rütteln, von der Straße aus war unser Hof dennoch nicht einsehbar, doch als physischer Beweis für die Unverfrorenheit, mit der die Oma die Nachbarn bespitzelte, war das Loch unangenehm, zumal zwischen uns und den Nachbarn generationenlang eine fried- und freundliche Nachbarschaft geherrscht hatte. 

 

Was das Loch nicht geändert hatte: Die Hecke grenzte ein, was zu uns gehörte, das wo wir hingehörten, wir, die Kernfamilie und die Oma, wo wir sein durften, ohne wenn und aber, wo uns Kinder kein Auto überfuhr, wo wir uns am Sommerabend einfach auf das warme Pflaster legen konnten und zuschauen, wie die späten Abendschwalben von den frühen Abendfledermäusen abgelöst wurden und mussten nicht ans Jenseits der Hecke denken, das Dank der Hecke auch von uns nichts wusste. So war das. Das unbesorgte Daheimsein einer Kindheit –  kann jemand später oder jemand ohne Hecke irgendwo so daheim sein? Das frage ich, die heute wohl nirgends mehr daheim sein könnte, selbst mit genau dieser Hecke nicht.  

 

Heute daheim, am heimischen Küchentisch finden wir uns in Diskussionen wieder, die wir nicht führen wollen, oder nicht so, wo wir uns wundern, wie das sein kann, dass da gesagt wird, was wir Parolen nennen, wo wir uns Sorgen machen über das nächste Ergebnis der Kommunalwahl oder Landtagswahl oder Bundestagswahl oder Europaparlamentswahl. Und die Großeltern und Eltern machen sich Sorgen, zu Rinderrouladen oder Gemüsepasta, wegen der Digitalisierung, die bedeutet, dass alle in ihr Smartphone schauen, Sorgen, wegen der genug armen Leute, die es in Deutschland ohnehin schon gibt, wegen des Terrors, der jetzt plötzlich „bei uns“ ist, wie sie sagen, sie meinen nicht den Hof oder das Dorf, wenn sie „bei uns“ sagen, sie meinen plötzlich auch Berlin, wenn sie „bei uns“ sagen, dabei haben sie Berlin nie was abgewinnen können, Berlin war früher nie „bei uns“ aber jetzt, Sorgen, dass wir Kinder nie feste Arbeitsplätze oder Eigentumswohnungen haben werden, Sorgen, ob sie bald nicht mehr sagen dürfen, was sie denken, Sorgen, dass sie gemeint sind, wenn im öffentlich-rechtlichen Fernsehen jemand das Wort „bildungsfern“ sagt, Sicherheit, dass sie gemeint sind mit dem Wort „bildungsfern“ und irgendwie sind diese Sorgen alle eine Gesamtsorge, eine Übersorge, eine Sorgensorge. 

 

Wer sich in der Heckenfrage uneins war, ist sich auf einmal einig, und wir, denen die Heckenfrage am egalsten war, versuchen gegenzuhalten, mit Argumenten, die hier innerhalb der Hecke irgendwie nie genug greifen können, und die Eltern und die Oma blicken durchs Fenster die Hecke an, die ihnen als eine der letzten gültigen Grenzen der Kontrolle scheint, so als wäre jenseits der Hecke schon alles weggewischt, was ihnen wichtig war. Und uns scheint das auch so, nur dass es andere Wichtigkeiten sind, Wichtigkeiten, die innerhalb der Hecke auf einmal nicht mehr gelten.  

 

Die Nachbarn leben jetzt weitgehend unbeobachtet. Woher soll ich wissen, ob auch bei den Nachbarn diese Küchentischgespräche stattfinden? 

 

Ich stelle mir vor, wie die Oma damals heimlich die Hecke stutzt. Die Oma hat riesige Hände, zwei ihrer Finger sind so dick wie mein Handgelenk, die sind so geworden vom Holzmachen und Umgraben und Äpfelklauben und Unkrautausreißen und Hühnerschlachten und Heumachen und Korndreschen und Hopfen hochziehen und Heckenstutzen. In diese Hände nimmt sie in meiner Vorstellung die Heckenschere, so eine für beide Hände mit gutem Hebel. Auf Kopfhöhe kämpft sie gegen die Zweige in meiner Vorstellung, in meiner Vorstellung davonspritzende Blatthäcksel, Zweighäcksel, schnell ein böses Ziehen in den vorgestellten Schultermuskeln und Schweißtropfen auf der vorgestellten sich rötenden Stirn. Ich stelle mir vor, wie sie aufkehrt und die kleinste Spur, das kleinste Blattfitzel akribisch aufsammelt, damit keiner etwas merkt. 

Stelle mir vor, wie vielleicht die Nachbarin vorbeikommt, die, in deren Hof die Oma hineinschauen will, wie sie einander grüßen und sich kurz unterhalten und wie die Nachbarin noch denkt, dass die Nachbarsoma sonntags die Hecke stutzt, das macht sie doch sonst nicht. 

 

Wie ich versuche, mit dieser Heckenepisode, diesem stummen Heckenstreit über mein Daheimsein zu berichten, über meine umheckte Heimat als Kernfläche des Eigenen, als eine Art Kriegsgebiet des Wohlfühlens, als Keimzelle des Grenzenziehens. Dieser Streit bedeutet mir etwas, etwas daheimliches und unheimliches, das ich fast nicht fassen kann, greifen kann, begreifen kann, mir fehlt dafür irgendein bestimmtes Verständnis vielleicht. Und vielleicht ist mit dieser Hecke auch kein Blumentopf zu gewinnen, vielleicht ist das eine Parabel, die es dann doch nur zu einer ödgeraden Geraden außerhalb jedes Koordinatensystems bringt.  

Von draußen ist hinter der Hecke drinnen und von drinnen ist hinter der Hecke draußen. Ich habe kaum ein Gefühl für die Hecke und doch 

 

 

Ich reise ins Universum, um Abstand zu gewinnen, ich reise so weit, bis die Erde noch ungefähr so groß scheint, wie ein Fußball, so weit ist das gar nicht. Ich blicke zur Erde, wo sich seit der möglichen Betrachtung vom All aus, außer ein paar Farbtönen hier und dort, nichts auf die Entfernung bemerkbar geändert hat und schaue auf Europa, das sieht man ja gut, wegen Italien, es sieht aus, wie es schon im Grundschulatlas meiner Mutter ausgesehen haben muss, auf dahin, wo ich die heimische Hecke vermute und sehe sie nicht, und weiß aber, dass sich auch die Hecke seit ihrer möglichen Betrachtung vom All aus – abgesehen von der von der Oma geschaffenen Mulde – nicht grundlegend geändert hat. 

 

Ich stelle mir das Netz der Hecken vor, das sich über den Erdball zieht, Tuja, Lorbeer, Buchs, allein in den Schrebergärten, und dann stelle ich mir insgesamt das Netz vor aus Hecken, Zäunen, Elektrozäunen, Stacheldrähten, Mauern, Palisaden, Linien, die in den Raum vorgedrungen sind, die das Unten an einer schmalen Stelle nach oben versetzen, abrupt perfekte Parallelen zum Erdboden, und dazu noch die Linien, die ganz flach sind, ganz an den Boden geschmiegt, die du nicht mal sehen würdest, wenn du mit einem Fuß draufstündest, und die trotzdem gelten, fast noch mehr als die anderen. 

 

Ich schaue die glatte blaugrüne Kugel an, wie sie friedlich und schön ist, wie ein schlafendes Kleinkind, keine Hecke ist zu sehen, und denke aber, dass alles sich ständig ändert, alles multikausal, Wetter, Wir, Wirtschaft, Boden, technische Neuerungen, Müllberge, politische Anstrengungen, Bewegung, Bewegung im Meer, Bewegung, Bewegung in den Wäldern, in den Gehirnen, Wolken, Bewegung in Meeresströmungen, Eis- und Menschenmassen, Bewegung im Leben, Leben eben, davon siehst du nichts von hier, aber was da geschieht ist sicher enorm. 

 

Ich treibe schwerelos im Schwerelosen des Universums und schaue mir die Erde an. Aus dem Universum schreibe ich in Gedanken nach Hause und schreibe manchen, neben meinen Überlegungen zur heimischen Hecke: Hier bleibe ich nicht, schon klar. Ich komme schon wieder.