Andrea Grill

Menschliche Hände, Dünger und das Leben der Wasserspinne Argyroneta aquatica. Oder: Sie ist Expertin

Da ist die Masse, in der sie sich bewegt; sie macht ihr das Leben leicht. Tänzerisch.

Oben, hoch oben gibt es die Grenze. Dort endet die Welt. Ab und zu streckt sie ein

Bein hinaus übers Ende, in eine andere Zeit hinein. Und das war’s dann. Nichts Besonderes. Jetzt ist immer.

Sie, natürlich eine sie; und das spielt eine Rolle. Nicht nur, weil sie folglich braun ist,

was sie aber selber nie so sehen würde. Sie sieht sich nicht an. Obwohl sie’s könnte,

Spieglein Spieglein überall. Sie ist einfach konzentriert auf das für sie Wesentliche.

Zuallererst Luft. Die muss sie holen. Von oben, von jenseits der Grenze. Das erfordert

Kraft. Sie ist stark.

Wenn sie einen Ort gefunden hat, einen guten Ort mit Verankerungsmöglichkeiten,

nicht zu nahe am Oben, nicht zu nahe am Unten, bringt sie die Luft dorthin, steckt sie

unter eine Decke. Lockeres Gewebe, flexibel; ihre Wohnung: ein Zelt in der Masse.

Glocke wird es genannt von denen, die sprechen können, die sie nichts angehen, die

ab und zu mit großen Anhängseln in die Masse eindringen, ihre Wohnung wegfegen

mit ihren Bewegungen, keine Ahnung haben, und sie muss alles neu machen. Es

macht ihr nichts. Sie macht’s.

Reißt die Luft aus dem Jenseits, bringt ein Stück davon in ihr Zelt. Wieder und wieder. Sie wird nicht müde; aber sie rastet. Wenn alles in Ordnung ist, wenn sie satt ist,

das Zelt voller Luft. Wenn es hell ist. Wenn es kalt ist. Wenn nichts da ist. Dann rastet

sie.

In der Nacht, und die Nacht, das ist die Phase, wenn es still ist, dunkel, bis auf ein

paar Blitze, ein Schimmern in der Masse ab und zu; von oben, hoch oben, von jenseits

der Grenze: dumpfe Lichtflecken. Andere als die, vor denen sie flieht, selbst wenn sie

rastet – zack. Wenn die Fische und die Vögel schlafen: dann ist Nacht. Fische, Vögel,

Kröten, Salamander, Libellenlarven, Affen (wenn es welche gäbe) – auch bei ihnen,

das weiß sie, endet die Welt.

Schatten, Gerüche, in-der-Masse-gelöste-Stoffe. So lässt die Welt sich einteilen.

Sie unterscheidet. Sie hat Augen, acht Stück, mit denen alles anders aussieht als für

die, die sprechen können, Sprechlinge nennt sie sie bei sich oder wenn sie sich mit

einem Artgenossen austauscht, selten, sehr selten, mit Vibrationen, dap dapp auf dem

Faden, dappdaptap tap. Oder wenn sie ihren Kindern was beibringt. Das tut sie absolut. Koste es, was es wolle. Kinder zur Welt bringen, Kinder füttern, zusehen, dass sie

groß werden, sie aus dem Zelt hinaus bugsieren. So. Dann noch eine Runde. Wenn

das Glück es zulässt, Glück, ja, Glück gibt es, Glück ist sicherer als das Ende der Welt.

Schon als sie selbst noch jung war und im Zelt ihrer Mutter lebte, von ihr gefüttert,

beatmet, eingesponnen, spürte sie das. Geh! – die Mutter teilte ihr das dann in einem

Satz aus Zupfbewegungen und in die Fäden, auf denen die Tochter saß, eingewobenen komplexen Geruchsmolekülen mit. Der Schock dieser Mitteilung sitzt ihr bis jetzt

im Kern jeder Zelle. Also bis immer. Sowas lässt sich nicht verwinden. Hier ist kein

Platz mehr für dich, du weißt alles, was du wissen musst. GEH JETZT ENDLICH.

Oder, kurzgesagt und mit etwas weniger komplexen Geruchsmustern: verschwind. Zurückkommen gibt’s nicht, bald ist das Zelt besetzt mit neuen Kindern.

Und vorher mit einem er. Er, der neben mir Luft geholt, diese Luft verankert hat,

ähnlich wie ich, an drei, vier Stängeln, farblose Lassos, fast durchsichtig, aber fühlbar.

Wir lassen unsere Zelte miteinander verschmelzen, er schlüpft rein, flupp, da muss

Platz sein bei mir, wenn der rein will, schließlich wollen wir eine Weile zusammenleben;

bis ich fertig bin mit dem Befruchten.

Eine kleine Furcht? Nein, das kennt sie nicht. Sie hat Hauptaugen, die sehen, was

die Sprechlinge mit ihren zu großen Anhängseln nicht einmal erhoffen, und Seitenaugen, die sie bei Bedarf zuschaltet. Sonst nicht, sonst bleibt sie im Flachen oder dem,

was die Sprechlinge für flach halten. Einander-Sehen. Heißt das, in denselben Dimensionen zu leben? Dreidimensional sehen die Sprechlinge. Sie, sie kann switchen, zwei,

– Seitenaugen dazu – drei Dimensionen, je nach Bedarf. Was ist ein Bedarf? Was soll

mein Bedarf sein? Warum frage ich, ich stelle doch nie Fragen, Fragen sind nicht

meins, ich nenne mich auch nicht, ich empfinde. Mich? Wie dem auch sei, Sehen ist

überschätzt; für die Logistik reicht allemal zu wissen, was fern ist, was nah.

Das andere, das Wichtige für die Liebe, für das Glück, erledigen Beine und Haare.

So schmeckt sie, so hört sie. So vibriert er. Feine Härchen auf dem ganzen Körper,

überall, halten nicht nur die Luft fest, fangen auch Töne. Tung ist Schwung. Ton ist

Hohn. Haa-halt. Schwingungen, Wellen, die du schlägst – daran erkennt sie dich. Bist

du eine ertrunkene Motte? Wasserfloh? Kleinkrebs? Kaulquappe? Kieselalge? Plankton? Pflanze oder Fleisch? Hör mit den Haaren, schmeck mit den Beinen. Dann bist

du wie ich.

Er. Er legt ihr was hin, schiebt’s ihr hinein. Und sie kann dann, wann sie will, wie es

ihr passt, die Kinderlein machen. Da ist er zwar da, hat aber nichts mehr zu sagen.

Nicht darüber. Irgendwie sehr aktiv. Übertrieben manchmal. Etwas größer als sie.

Ständig auf der Jagd. Sie sitzt drinnen, was nah genug vorbeischwimmt, gehört ihr.

Das reicht auch. Flapps. Da hat sie’s schon wieder. Lapps. Löst einfach alles auf,

saugt, füttert, bis sie selbst sich auflöst. Keine Gemütsschwankungen, nur die Fäden

vibrieren und erzählen. Von allem. Was sich fressen lässt. Kaulquappen sind wirklich

ganz gut. Komisch ist das, aber nicht zum Lachen. Damit hält sie sich nicht auf, ist ja

dauernd auf der Lauer. Kein Grund zum Lachen, denn sie tanzt, schwebt, Astronautin

eines Universums aus Masse, gewissermaßen die Schwerkraft aufgehoben im silbrigen Anzug, den ihr jeder bestätigen würde, der, jede, die andere Augen hat als sie und

weniger davon, beispielsweise zwei: mit Regenbogenhaut, Sehloch, Ziliarkörper. Den

Hinterleib silbrig glänzend umschließend, berichten diese Augen ihren Besitzern, wenn

sie den Panzer aus Luftbläschen betrachten, den sie anlegt, wenn sie ihre Wohnung

verlässt, Taucherflaschen. Der Glanz, den sie aussendet, bedeutet ihr nichts; sie spürt

und spinnt. Bleibt trocken, obwohl dauernd nass.

Er ist auch so. Das ist nicht der Unterschied, der sie zusammenbringt und unweigerlich einander näher. Er passt zu ihr und sie zu ihm. Und er zieht dann auch wieder

aus. In ein eigenes Zelt. Okay, vielleicht ein bisserl weniger sorgfältig gemacht, er

muss schließlich dauernd weg, während sie einfach mehr da sein kann.

Von Anfang bis zum Ende grundsätzlich allein. Das findet sie gut, denn sie findet ja

gar nichts und sucht eben nichts. Außer etwas zum Fressen, nein, Vegetarierin ist sie

keine.

Nahezu perfekt, würde eine Sprechlingin sagen, die ihr egal wäre, würde sie nicht

Zeugs und Anhängsel reinfuchteln in die Masse und erstickende Stoffe, Stickstoffe,

nichts Gesticktes, nichts Gezupftes, und oft wird es, das Leben, ganz ungenießbar und

verklebt alles, besonders die Kaulquappen und die Wasserflöhe, das Plankton hat

dann irgendwie Stickstoff geschluckt und andere Ungewirbelte klingen in den Füßen

nach Metall und Kotzbrocken, die sie nicht einmal hören kann in den Haaren, geschweige denn verdauen zwischen Vor- und Hinterleib. Egal. Denn: ich bin Expertin.

Einwandfrei. Daher, was ich bin, bin ich, was nicht ist, isst nicht.

Sowas ja.

Also, endlich sind die Kinder da. Das hat sie nicht gewusst. Dass es darum ging,

sogar ihr darum ging, ihr, die sie prinzipiell allein gut zurechtkam, sich selbst ganz

genug war. Und die Geschmäcker an den Beinen, die Schwingungen an den Härchen.

Waren ihr auch genug. Die genug Luft bekam. Für sich selbst. Für ihn. Der aber eh wieder verschwand. Ohne dass sie etwas dafür tun musste. Nein, sie fraß doch keinen

er auf!

Dann wird die Masse schneidend, Kanten, Messer an Ecken und Enden, das Oben

ist unten, das Oben ist überall. Dann wird die Masse starr. Das ist unpraktisch.

Sie findet ein Schneckenhaus, riesig, leer, die Schnecke ist ausgezogen oder aufgelöst. Sie betritt es, spinnt ein Zelt hinein. Die Masse bewegt sich doch noch. Das

Schneckenhaus schwimmt, sie schwimmt mit. Die Masse erstarrt wieder. Sie bleibt im

Haus. Ihr Zelt steht jetzt in einem Haus. Die Masse verschließt den Eingang. Sie hat

alles drinnen, was sie braucht. Luft hat sie. Das ist genug vorerst. Sie rastet jetzt, rastet, bis die Tür wieder aufgeht.

Aber die Kinder! Die sind doch eine Überraschung, denn für sie ist es jetzt immerhin

das erste Mal, auch wenn es für ihre Mutter viele Male gegeben hat und die Mutter,

liefe sie ihnen später über den Weg, keins von ihnen mehr erkennen würde.

Was die Mutter gerne isst, ja, das weiß sie. Nein, das ist nicht wahr, dass es früher

besser schmeckte. Es gibt kein Gestern, gibt kein Morgen. Es gibt nur immer oder

nichts.

Plötzlich scheint es nichts mehr zu geben, vor allem keine Luft. Seit die Blase angebracht war, fix an dieser Stelle, pflegte die Luft großteils von selbst hinein zu diffundieren. Nun ist sie weg. Schnell nach oben, Nachschub holen, unterwegs den Schatten

ausweichen; keine günstige Zeit, zu wenig Nacht, zu viel Tag, zu viele Aktive unterwegs, zu viele bewegliche Grenzen der Welt. Geschafft, unten. Da, die Pflanzen, das

Schneckenhaus, ihr Zelt, die Kinder. Alle erstickt. Hier kann ich nicht bleiben. Hinauf.

Neue Blase. Neuer Ort.

Einmal gelingt es noch. Kinder, wieder. Alles zunehmend verklebt. Luftholen, zu oft

hinauf. Zu oft ins Jenseits, hinaus übers Ende der Welt. Kaum Luft zu haben. Poröse

Zeltwände. Kaum noch lebt etwas da, schwebt kaum noch etwas da vorbei an ihrem

Zelt. Wie soll sie die gerade Geschlüpften, die noch Durchsichtigen ernähren, die noch

nicht Luftholenkönnenden?

Sie fragt nicht. Sie holt.

Sie rastet nicht. Sie kann.

Er? Aber er ist aufgelöst. Keiner mehr in Sicht, neben ihr schon gar nicht.

Sie kann nicht mehr tanzen, kann nicht mehr Luft holen. Spinnt und spinnt, die Pflanzen, an denen die Fäden ankern, verschwinden.

Ihre Füße verlieren alle Sinne, jeden Sinn, nichts schmeckt ihr mehr. Alles stinkt.

Ihre Härchen ertauben, völlige Stille, oder ist das ein Riesenlärm?

Sie taumelt. Zieht die Beine an.

Nein! Streckt sie aus, mit einem Ruck.

Übrigens, Stiche entlocken Sprechlingen starke Vibrationen; sonst geschieht nicht

viel. Gegen sie lässt sich eigentlich nichts tun. Außer ignorieren.

Luft holen. Zelte bauen, eins nach dem anderen. Weben. Faden um Faden. Netze

spannen.

Die Kleinen großziehen. Entlassen in die eigenen Netze, eigenen Blasen.

Luft holen. Sie ist stark.

Sie ist Expertin und daher empfindlich. Es muss so sein, wie es ihr behagt, es muss

so sein, wie sie es gewöhnt ist. Sonst ist es das Ende, diesseits der Grenze. Sonst

flutet das Jenseits ihr Zelt.