Christian Hödl
The sound of remix
* 09.02.1944
Ich werde geboren, als das Kind einer verrufenen Frau, und auch wenn ein Mann mit
lediglich drei Zehen, die sieben anderen sind ihm auf dem Weg durch den Schnee
abgefroren, Jahre später in die Siedlung zurückkehrt, bleibt es beim Frühstück zu zweit,
nur ich und sie, die Brot in ihren Kaffee brockt, die brockt und die brockt. Der Mann
mit den drei Zehen klingelt an einer anderen Tür, er hängt seinen Hut und den Mantel
mit festgefrorener Erde an den Haken einer Wohnung, in der es trocken ist, nicht feucht.
Als Junge sammle ich Kronkorken, mache Ketten aus allem was nicht niet- und
nagelfest ist. Die Großmutter singt, während die Mutter in der Fabrik ist, während die
Mutter dieses Land wieder groß macht. Tischdecken und Vorhänge, plissiert,
Büstenhalter und Blusen, wie nackt wären wir sonst, wie furchtbar entblößt stünden wir
da. Hängt mir bitte jemand ein Seidentuch über meine Schuld? Die Großmutter
schneidet Kartoffeln, jeden Tag, an guten auch Hühnerfleisch in die Suppe. Wir brocken
Brot hinein. Die Großmutter wirft meinen Schmuck aus allem, was nicht niet- und
nagelfest war, in die Tonne, weil Müll, der g‘hört genau dort hin. Ich wollte aber doch
ein schönes Mädchen sein, protestiere ich nicht. Ich bin nämlich ein guter Junge und
lese ihr aus einem Buch vor, das uns hoffentlich beide klüger macht. Du wirst einmal
ein Guter, ein Pfarrer oder Herr Doktor, sagt die Großmutter, du wirst einmal zumindest
ein Besserer, ein Kaufmann oder ein Lehrer, denkt die Mutter, vielleicht sogar beides,
wer weiß das schon? Deine Frau kann sich doppelt glücklich schätzen, deine vier
herzlieben Kinder sogar achtmal. Mathematik macht den Aufschwung, Mathematik
kalkuliert, wie viele Tage Suppe ein modernes Fernsehgerät ergeben. 783. Wann
schlafen wir endlich in einem Haus hinter hohen Zaunlatten? Dort haben wir es dann
gut. Hörst du das übrigens, wie das gestutzte Gras wächst? Ich höre es tatsächlich. Es
singt mit dünner Altstimme, da streife ich gerade durch das Gebüsch eines Parks der
nächsten größeren Stadt. Ich höre es wachsen, auch wenn das Herz in mir zu laut pumpt.
Die Augen so verlogen auf dem Buchsstrauch, aber eigentlich, klammheimlich, doch
knapp daneben, auf einem langen Hageren im Trenchcoat mit glänzenden Schuhen und
ausgebeultem Schritt. Ich höre es, das gestutzte Gras, es singt nur immer weiter, darum
gehen der Mann und ich in seine kleine Mietwohnung am Stadtrand, ziehen die mit
Erde verklumpten Schuhe erst drinnen aus, auch wenn der Teppichboden davon dreckig
wird. Besser als eine Gendarmerie, sagen wir zu uns, besser Flecken im Teppich, die
gehen wieder raus. Wir putzen mit warmem Wasser und Spülmittel über den Schmutz,
aber erst später, wir küssen uns auf die Augen und Eicheln. Ich bin immer so furchtbar
dasig, sagt die Mutter, sagt die Großmutter. Wo warst du? Wir brocken Brot in die
Suppe. Nur einmal, als sie mich verhaften, weil sie uns hinter den Sträuchern entdeckt
haben, bleibt mein Teller unbenutzt.
* 09.02.1954
Ich werde geboren, als das Kind einer geachteten Frau, welchen Unterschied bloß ein
paar Monate machen können, die richtige Wahl eines kurzfristigen Hochzeitsdatums.
Nun sagt man in der Siedlung: Die Gute stopft uns unsere löchrigen Socken für
umsonst, nicht diese Hur. Die Gute wartet in der Wohnung vor dem Fernseher, das Kind
auf dem Schoß, dass der zu ihr nachhause kommt, seinen Mantel mit den
Zigarettenbrandlöchern, seinen Filzhut an den Haken hängt. Ich verschlafe die
Abendnachrichten an ihrer Brust, nur um später hellwach sein zu können, wenn das
Geräusch von schweren Schritten im Gang widerhallt, das Flüstern eines Schlüssels, der
gedreht wird. Ich laufe zur Tür und umklammere sein Hosenbein, weich wie der
Stoffelefant, den es zu Weihnachten gab. Unter Hunderttausend Christbäumen. Spielen
wir noch Mühle oder Halma? Ein fast tonloses Brummen. Ich ziehe ihm die Schuhe aus
und die verschwitzen Socken, um genau nachzuzählen. Drei plus Sieben macht Zehn.
Drei plus Sieben macht eine gesunde Deutsche Familie. Die Großmutter singt – am
Brunnen vor dem Tore da steht ein Lindenbaum – während sie der Mutter hilft, Flecken
aus den gestärkten Hemden zu scheuern – ich träumt' in seinem Schatten so manchen
süßen Traum. Die Großmutter liebt diesen Film, weil er die Schönheit der Berge zu
jener eines ganzen Landes erhebt. Sie mag nur das Deutsche Original, nicht die
unverschämte Amerikanische Version. Aber dieser Nichtsnutz von Schwiegersohn, der
nicht wie auf der Leinwand nach Feierabend mit vollen Taschen nachhause kommt. Wo
sind noch gleich die Alpen in einer feuchten Dreiraumwohnung? Als Junge sammle ich
Kronkorken, die nun zuhauf unter dem Tisch oder Sofa liegen, wo er als letztes saß.
Ach daher kamen die immer. Als Junge mache ich Schmuck aus allem was nicht nietund nagelfest ist, und schenke
ihn der Mutter. Die braucht ihn dringender, als ich. Man muss doch fesch sein, auch wenn man so viel wartet. Wir
schmeißen unsere eigenen Tanzabende vor der Einbauküche, die uns so stolz macht. Ich trage zu große Anzüge
und seine Sonntagshosen, die mir in die Kniekehlen rutschen. Schuhe, die ich im
Walzerschritt verliere. Ich sage, darf ich bitten gute Frau? Ich versuche das zu sein, was
man sich unter einem richtigen Mann vorstellt. Ihr Kleid wäre so viel schöner an mir,
manchmal habe ich überbelichtete Visionen davon. Sie wendet den Blick vom Fenster
ab. Na gut. Der Mann mit den zehn Zehen kommt nicht immer so schief nachhause,
manchmal geht er pfeilgrade, bringt gelbe Chrysanthemen mit, er sagt, dass sich in ein
paar Jahren alles auszahlen würde, nur den vor sich müsse man noch irgendwie
wegbekommen. Bald wird der Blick über hohe Zaunlatten frei, versprochen. Geh Bub,
zieh meine Schuhe aus. Die sind dir doch zu groß.
* 09.02.1964
Ich werde geboren, da ist der Rohbau fast fertig. Das erste Jahr schlafen wir zu dritt in
einer Kammer bei den Großeltern, die folgenden Jahre werden alle Zimmer des
eigenhändig erbauten Hauses mit Kindern besiedelt, die eines nach dem anderen in
heiliges Wasser getunkt werden. Es ist ein spätes Wirtschaftswunder. Vier Zimmer in
einer Reihe, meines ganz vorne, unter der Dachschräge. Die Brüder raufen im dreckigen
Schnee, wie zwei bessere Hunde, die Schwester soll bitte anständig danebenstehen, sagt
die Mutter, sagt die Großmutter. Trotzdem jagt sogar sie in der Nikolausnacht den
Krampussen hinterher, als wäre es so herum gedacht. Ich schaue von drinnen zu, ich
mache aus Angst alle Lichter an. Also jetzt aber, weißt was der Strom kost‘?, fragt die
Mutter, als sie kommt, um mich vor dem Schlafengehen auf die Stirn zu küssen. Deine
Brüder haben auch keine Angst im Dunkeln, sie sind jünger und helfen schon im
Betrieb. Stamm für Stamm. Alles muss in gleichgroße Stücke zerteilt werden. So
entsteht eine Ordnung. Zusammenhalt ist das Gebot der Stunde, du bist jetzt kein
Einzelkind mehr. An einem glühend heißen Sommertag schneidet einer der Brüder sich
drei Finger der linken Hand mit der Kreissäge ab. Dünnes Blut, das an den
abgeschliffenen Balken hinabrinnt. Drei Finger zwischen Spänen wie Haarlocken. Man
kann sie im Krankenhaus nicht mehr annähen, sie müssen fachgerecht entsorgt werden.
Ich weine mehr darum, als mein Bruder, ich hebe ein symbolisches Grab neben den
Buchssträuchern aus und lege ein Seidentuch als Decke darüber. Am Wochenende fahre
ich in die nächste größere Stadt, meine für einen jungen Mann lächerlich kleinen Hände
in den Lederhandschuhen meiner Mutter, geschützt vor den Zacken der Welt. Ich tanze
mit einem, der nach Rauch und Parfum riecht. Ich tanze mit einem, der hat schwarzes,
dichtes Fell auf der Brust. Ich fasse jede schwitzende Haut bloß unter dem Schutz von
Leder an. In der siebten Nacht habe ich meine gepackten Sachen dabei und gehe für
immer mit ihm nachhause. Er wohnt zwischen einem Friedhof und einer Bowlingbahn.
Meine Mutter ruft manchmal an und fragt nach ihren Handschuhen. Sie weint am
Telefon: Was haben wir falsch gemacht? Dein einer Bruder hat bloß mehr sieben Finger
und ist fleißig und gut. Du hättest ja im Büro bleiben können, wenn du zwei falsche
Hände und drei falsche Füße und vier falsche Augen, aber vor allem ein falsches Herz
hast. Immerhin warst du gut in Mathematik. Ich liege still mit ihm, unsere zwanzig
Finger ineinander verschränkt. Ich liege in seinem Schoß, während immer derselbe Film
läuft. Was hast du’s nur so mit dieser frömmelnden, blonden Nuss, die über grüne
Hügel turnt?, fragt er. Die VHS-Kassette wird irgendwann vom Rekorder gefressen, ich
glaube er ist froh darüber. Ein nebliger, radioaktiver Dunst zieht über das Land. Man
fürchtet sich, die Kinder auf den Spielplatz zu lassen. Am Ende mutieren sie im Regen.
Wenn ich seine Rippen hervorstechen sehe, haarlose Täler zwischen den
Knochenbögen, summe ich vor mich hin. The hills are alive, with the sound of music.
* 09.02.1974
Ich werde geboren – ist jetzt auch mal gut ?! Ich werde geboren und habe keine Zeit
mehr immer dieselbe Schuld zu erlernen, mich hinter Buchsträuchern verhaften zu
lassen, in zu großen Herrenschuhen zu tanzen. Ich renne zum Bahnhof, die Kälte
peitscht mich vor sich her. Im Zug mir gegenüber sitzt eine Frau mit weißem
Sonnenhut. Sie sieht sehnsuchtsvoll aus dem Fenster. Wussten Sie eigentlich, dass es
der erfolgreichste Film der Welt ist?, frage ich. Nur hier und in Österreich mochte man
ihn nicht, obwohl man extra das Ende mit der Flucht vor den Nazis rausgeschnitten hat,
eine Hochzeit hineingeschummelt. Obwohl Julie Andrews mehr Lamm als Frau ist. Hier
zulande und in Österreich mochte man bloß seine unpolitische Trapp-Familie. Sie
schaut mich irritiert an und steht auf, geht ein paar Schritte und setzt sich einige Reihen
von mir entfernt wieder hin, um ungestört nach draußen zu blicken. In der Stadt suche
ich seine Dreiraumwohnung zwischen einem Friedhof und einem Vereinsheim für
Kreisklassenkicker – oder war‘s eine Bowlingbahn? Als ich ihn endlich gefunden habe,
vertreibe ich seine letzten Freunde. Ich sage, dass ich jetzt da bin, ich sage, dass wer
noch gehen kann, nachhause laufen soll, der Rest muss eben kriechen. Ich singe durch
die Nacht wie eine Lerche, die das Beten lernt. Was soll das überhaupt bedeuten? In
Wahrheit ekle ich mich vor ihm, wenn ich neben ihm liege, wenn ich sein KaposiSarkom, das über seinen Oberarm die
Schulter emporwächst, ansehen muss. Noch kann
er sich selbst waschen, schafft es aufs Klo zu gehen. Ich streiche über seine dünnen
Haare, bis er einschläft, ich bin ja da, sage ich und laufe seit Stunden allein durch die
Stadt, um ihm zu entkommen. Ich gehe in eine wiedereröffnete Sauna, deren Türen vor
einigen Jahren ausgehebelt wurden. Sie wurden nun wieder eingehängt, die Männer
dahinter blieben trotzdem aus. Ich küsse einen langen Hageren, der wohlauf aussieht.
Ich bete, dass seine vorstehenden Schulterblätter genetisch bedingt sind, während ich sie
liebkose. Ich singe im Nebel aus Schweiß und Geilheit wie eine Lerche – war es
vielleicht so gemeint? Ich lasse mich nicht ficken, ich hole ihnen höchstens einen runter.
Später koche ich meine Kleider, um den Geruch fremder Körper abzuwaschen. Noch
später koche ich unsere Bettwäsche, um den säuerlichen Dunst, den er ausströmt und
der in jeder Ritze der Wohnung nistet, zu bezwingen. Er ist seit Wochen bettlägerig. Ich
rufe meine Mutter an. Wo man denn das Waschmittel kaufen könne, das nach
Chrysanthemen gerochen hat. Sie ist ratlos. Nimm halt Ariel. Ich schweige am Telefon,
während sie mir Ratschläge gibt, welche Marke sie für welchen Dreck empfiehlt. Sie
reist an, ohne dass ich darum gebeten hätte, einen nigelnagelneuen Hartschalenkoffer
unter dem Arm. Sie wischt die Wohnung durch und ich lese ihm vor, was ich
geschrieben habe. Ein Drehbuch für einen Heimatfilm: Zwei blonde Nüsse und ihre drei
oder sieben Nüsschen gehen singend wandern. Der Twist: In der zweiten Hälfte des
Skripts gibt es einen Genre-Wechsel. Er findet es lustig, dass die Nüsse und Nüsschen
mutieren, dass sie irgendwann Schafe auf der Alm mit ihren Zähnen reißen, am Ende
auch einander. Er lacht seit langem das erste Mal. Wenn seine Haut nicht so spannen
würde – da wären Grübchen, statt Gruben. Sie schüttelt den Kopf. Furchtbar, sagt sie,
wofür du deine Zeit vergeudest. Aus dir hätt was werden können. Wofür hat man dich
aufs Gymnasium geschickt? Ich höre schon seit Jahrzehnten nicht mehr zu. Sie wischt
weiterhin ab, jedes einzelne Brett, jede Ablagefläche, mit einer Monotonie, dass ich
glaube, sie wird niemals mehr damit aufhören können. Bloß einmal, als sie gerade den
schmutzigen Lappen auswringt, sagt sie: Er muss was essen. Wir sitzen zu dritt im
Wohnzimmer und wenn es dafür einen Markt gäbe, wenn ich jemand mit einem Namen
geworden wäre, der etwas bedeutet hätte, dann könnten wir nun dabei zusehen, wie eine
brave Familie den Hang emporsteigt, Richtung Gipfelkreuz wandert. Erste trügerische
Anzeichen? Der blonder Nussvater, der, als das fünfte Nüsschen fällt und weint,
neugierig an dessen aufgeschlagenem Knie riecht. Ein Hunger in den durstigen Augen,
den man so noch nie im ersten oder zweiten Deutschen Fernsehen gesehen hat, nicht
mal auf RTL. Das Bild unseres Fernsehers zeigt jedoch bloß Millionen kleine Ameisen,
man müsste einen Techniker rufen. Sie brockt ihm Brot in die Suppe ein, ohne in
anzusehen. Sie brockt und sie brockt. Jedes Mal, wenn er schluckt, achte ich nervös auf
den Adamsapfel. Das kleine Hüpfen. Noch 783 Löffel. Noch 783 Sprünge über Felder
und Wiesen. Danach versagen unsere Beine.
* 09.02.1984
Ich werde geboren und der Schrecken sitzt tief in den Knochen, im mageren Fleisch. Ich
raffe mich auf, plumpse aus meinem Kinderbett. Die blaue Kuscheldecke hat mir die
Haut aufgeschürft. Meine Mutter cremt mich geduldig mit Bepanthen Heil- und
Wundsalbe ein. Sie macht sich weniger Sorgen um meine schreiende Haut, als um
meine verschlossenen Lippen. Sie nimmt mich bei den Schulterblättern, rüttelt mich:
Gefällt dir deine Schultüte nicht? Wir haben dir extra Haribo reingepackt, die Roten
magst du doch so gerne. Meine Großmutter sagt: Mei, dann redet halt eins nicht, ist
doch genug Theater bei euch im Haus, wenn drei oder sieben andere schreien. Da muss
man heute ohnehin aufpassen, dass man nicht asozial rüberkommt. Wer war der erste
Kanzler der alten und nun aber auch brandneuen Bundesrepublik, fragt mich die
Lehrerin. Alle Köpfe drehen sich erwartungsvoll zu mir um. Mein Mund bewegt sich,
gibt aber keinen Ton frei. Jetzt aber, sagt sie, das muss man doch wissen. Ich versuche
zu sprechen, aber es kommt nur ein Röcheln aus meiner trockenen Kehle. Ich versuche
etwas zu sagen, aber es geht nicht. Zu tief sitzt der Schrecken, das Worte einen Sinn
herstellen könnten. Wie konnte ich bloß ohne ihn weitergehen? Ich lege mich auf mein
Pult, auf die bunten Schnellhefter, ich benutzte mein Elefantenfedermäppchen als
Kissen. Das Mädchen vorne neben der Tür soll ins Sekretariat gehen, aber bitte nicht
rennen. Man muss mein aufsässiges Verhalten dem Direktor melden. Auch in einer
Klinik finden sie nichts. Ein physisch kerngesunder kleiner Mann, sagt der Herr Doktor,
vielleicht ein bisschen stur, vielleicht auf dem autistischen Spektrum, aber darüber ist
man sich nicht einig. Der wird schon wieder, der wird einmal ein anständiger großer
Mann, wenn man ihm die richtigen kronkorkengroßen Tabletten verschreibt. Meine
Mutter zerstampft sie und gibt sie in mein Essen, weil ich sie sonst ausspucke. Sie
stampft und stampft, jeden Morgen, noch bevor sie zu brocken anfängt. Die speziellen
Leibspeisen lösen mir jedoch nicht die Zunge, sie machen mich nur müde. Ich
verschlafe Tage und Nächte. Jahre. Ich verschlafe das Feuerwerk zur Jahrtausendwende
in all seinen glorreichen Farben. Ich schlafe bis ich wundgelegen bin, nur noch am
ganzen Körper mit Bepanthen eingeschmiert liegen kann. Die immer gleiche DubstepVersion von My Favorite Things
wummert durch mein Zimmer, ist mein Gutenachtlied.
Da können sie noch so gegen die Tür treten.
* 09.02.1994
Ich werde um 3:23 Uhr in einer Kreisklinik geboren, ich wiege 3781 Gramm, bin 51
Zentimeter groß und puterrot. Würde man einige Kilometer aus dem Ort hinausfahren,
einen Wald und ein stillgelegtes Kieswerk hinter sich lassen und schließlich die Anhöhe
überqueren, man könnte in ein paar Stunden die Anfangsszene nachstellen. Ich atme erst
an jenem klirrend kalten Tag das erste Mal wirklich ein, Stunden vor Sonnenaufgang,
ein Geruch nach Seifenlauge, Schweiß und Plazenta liegt in der Luft, getrocknetes Blut
klebt auf den Fliesen. Meines oder ihres? Dann ein gellender Schrei, meine kleine Kehle
vibriert, zerschneidet die Luft. Füße und Hände, Finger und Zehen werden eingezogen,
behandschuht, in Hosentaschen versteckt. Niemand will schon wieder seine Gliedmaßen
verlieren. Ich versuche mich zu erinnern, wie viele Geschwister ich hatte, drei oder
sieben, hunderte oder keine, ich versuche mir die Küsse meiner Mutter ins Gedächtnis
zu rufen, aber auch ihre Traurigkeit, wie verzweifelt sie am Telefon geklungen hat,
wenn sie fragte, wohin ich bin. Wen habe ich geliebt? Wann war ich frei, wann
gefangen in fremden Erwartungen? Ich versuche aus all meinen Fehlern, die ich noch
nicht gemacht habe, zu lernen und mache sie doch alle nochmal. Zum ersten Mal. Ich
versuche einem vergangenen Leiden einen Sinn zu geben. An einer Bushaltestelle
schlage ich einen Mann nieder, für den meine Stöckelschuhe und mein Schmuck das
Ende seiner Welt bedeuten. Zumindest würde ich das gerne, aber was soll das ändern.
Ich stehe bloß schweigend da, halte mich an einer Litfaßsäule fest, weil ich immer
wackliger auf den Beinen werde. Dann brechen meine Absätze. Ich werde keinen
Schritt mehr gehen können, endlich. Wo wäre ich jedoch ohne alle, die weitergegangen
sind, noch einmal 783 Schritte, auch wenn es nur im Schlaf war, auf erträumten
Rollschuhen, das teuerste Modell. Und dann? Ich verbiete mir hinzuhören, was der
Mann zu mir sagt. Er wendet sich nach Bestätigung suchend der Frau mit weißem
Sonnenhut zu. Ich frage mich, wieso sie an einem derart bewölkten Tag Sonnenschutz
nötig hat, ob sie nicht merkt, wie furchtbar altbacken das Ding aussieht. Sie starrt
wortlos in die Buchssträucher, bevor sie aufsteht, um sich am Ende der Bank des
Bushäuschens erneut niederzusetzen. Jedes Mal denke ich in solchen Momenten, dass
sie die Letzten sein müssten. Warum rückt immer jemand nach? Aber ich ja auch.
Billiardste Besetzung. Ich reiße mich zusammen, stelle mich aufrecht hin und zähle ein.
Ich tanze Walzer mit mir selbst an der Bushaltestelle, um zwei fremde Menschen zu
provozieren. Ich drehe Pirouetten auf gebrochenen Absätzen. Die Kronkorken um
meinen Hals, in meinen blutigen Ohrlöchern, klimpern. Einer auf der anderen
Straßenseite steckt sein Handy zurück in die Tasche, nachdem er aufgehört hat, mich für
YouTube zu filmen. Virale Video-Headline: Freakshow at the bus stop thinks he’s on
dancing with the stars. Er überquert die Straße und lässt sich von mir führen, später
küssen. Eine andere lehnt ihr geklautes Fahrrad an ein Straßenschild und tanzt um uns
herum. Dann die nächste, der übernächste. Wir sind irgendwann in der Überzahl. Wir
tanzen und walzen. Ich verschnaufe in den entgleisten Kommentarspalten und tippe
immer dieselbe Antwort: Edelweiß, Edelweiß, every morning you greet me. Ich lecke
über ihre wunde Brustwarze, beiße zahnlos hinein, bin immer noch so furchtbar durstig.
Es darf nicht umsonst gewesen sein. Ein sich selbst überlappendes Plärren hallt von den
Kreisaalwänden wider, will sich einfach nicht mehr zufriedengeben, with songs they
have sung for a thousand years. Es geht um den groteskesten Anschein von Unschuld,
den die Welt je gesehen hat, sagte mal ein viel größerer. Ich wurde gerade erst geboren
und darf bereits nicht vergessen